Darf ich vorstellen: meine türkische Oma
Eigentlich bin ich sehr untürkisch. In meiner Wohnung stehen nicht auf jedem freien Quadratzentimeter, auf Lautsprechern, Nachttischen und Kommoden, Familienfotos. Aber ein Schwarz-Weiß-Bild gibt es, das hängt über meinem Schreibtisch und ist mir heilig. Es ist über vierzig Jahre alt und hat diesen Braunstich, der die Gedanken in längst vergangene Zeiten schweifen lässt, eine Patina, die Geschichten erzählt, die von Hoffnung handeln, von Abenteuerlust und von Fernweh. Das Foto zeigt einen Balkon in Istanbul.
Im Hintergrund nur die schweren Äste eines Baums, die ins Leere hängen. Gegenlicht blendet die Welt hinter dem Geländer aus. Vor dem schmiedeeisernen Gitter sitzen sich ein junger Mann und eine ältere Frau gegenüber. Auf dem Tisch zwischen ihnen benutzte Teller. Eine Karaffe, noch halb voll mit Wasser. Ein Stück Brot, ein tulpenförmiges Glas Tee. Der junge Mann lehnt sich leicht nach vorn, sein Arm ruht lässig auf der Tischkante. Das Sakko wirft lockere Falten, die Krawatte sitzt perfekt. Gute Kleidung, sagt der Mann noch heute, ist der halbe Weg zum Erfolg.
Das hat er von seiner Mutter. Kerzengerade sitzt sie ihm gegenüber. Den Teller hat sie beiseitegeschoben, die Unterarme ruhen auf dem Tisch, die Finger sind ineinander verschränkt. Es ist kühl in Istanbul in diesen Tagen, eine leichte Wolljacke liegt über ihren Schultern. Aufmerksam hört sie ihrem Sohn zu. Er ist jetzt zweiundzwanzig, er will seinen Weg machen. Er will nach Europa. Geh, sagt seine Mutter. Gott sei mit dir.
Mein Vater ging nach Deutschland. Dort bin ich geboren und aufgewachsen. Aber wann immer ich kann, besuche ich den Balkon von Istanbul.
Er hat sich verändert. Ein modernes Stahlgeländer hat die gusseisernen Stäbe ersetzt, auch der Baum ist weg. Der Tisch und die Stühle sind inzwischen aus Plastik. Die Aussicht besteht aus einem Park vor und einem Parkplatz unter uns. Es ist wahrscheinlich der hässlichste Balkon Istanbuls, für mich aber der schönste Platz auf der Welt. Auf ihm treffen sich vier Generationen und erzählen die Geschichte meiner Familie.
Und um eines gleich klarzustellen: Außer dem weißen Tuch aus dünnem Tüll, das sich meine Oma zum Beten überwirft, gibt es in dieser Familie kein einziges Kopftuch. Auch habe ich weder acht Geschwister, noch wurde ich bei meiner Geburt zwangsverheiratet. Es handelt sich um eine ziemlich durchschnittliche türkische Mittelstandsfamilie, obwohl meine Oma wahrscheinlich sagen würde: »Wir stammen aus einer der angesehensten Familien von Izmir, der kultiviertesten Stadt der Türkei.« Mit der Geburt meiner jüngeren Schwester zog meine Oma mit ihrer Schwester allerdings nach Deutschland. Türkische Omas und Großtanten sehen ihre Hauptaufgabe nämlich darin, ihren einzigen Sohn und ihre liebreizenden Enkelinnen zu verwöhnen. Wogegen weder der einzige Sohn noch die liebreizenden Enkelinnen etwas einzuwenden haben. Die deutsche Schwiegertochter dagegen kann das manchmal in den Wahnsinn treiben.
Meistens bin ich im Sommer in Istanbul, bei meiner Tante. Kaum sitze ich mit einem Buch auf dem Balkon, kommt meine Oma, die mit meiner Großtante gern den ganzen Sommer in der Türkei verbringt, hinterhergeschlurft und reicht mir ein Kissen: »Al, kızım, nimm, mein Mädchen«, sagt sie, »erkälte dich nicht.« Nichts ist für türkische Omas so wichtig wie ein Kissen. Türkischen Omas zufolge kommt das Übel in Gestalt einer Erkältung über die Welt und hat leichtes Spiel mit ungeschützten Blasen. Das Osmanische Reich dürfte wegen schlecht gepolsterter Sättel untergegangen sein, und ich bin mir sicher, meine Oma hätte auch eine einfache Erklärung für den kläglichen Zustand so mancher türkischer Staatspräsidenten.
»Was ist nur aus der Türkei geworden«, sagt meine Großtante, die mit der Hürriyet in der Hand als Nächste den Balkon betritt. Am meisten interessieren sie in dem Boulevardblatt die Affären türkischer Filmstars, aber wegen ihrer Vergangenheit als Sekretärin in Atatürks Volkspartei fühlt sie sich zu politischen Kommentaren verpflichtet, besonders wenn wieder einmal von kopftuchtragenden Studentinnen berichtet wird. »Der Schnitt meiner Kostüme damals kam direkt aus Paris …«, hebt sie an. »Jetzt kommt Bette Davis«, murmelt meine Oma und rollt mit den Augen. »… wie die junge Bette Davis sah ich aus!«, fährt meine Großtante fort. »Du glaubst gar nicht, wie viele Ärzte und Offiziere um meine Hand angehalten haben!«
Türkischen Großtanten geht nichts über einen doktor oder subay. Eine Uniform ist fast noch besser als ein Kissen. Aber meine Großtante hat nie geheiratet. Das Schicksal ihrer älteren Schwester habe sie davon abgehalten, sagt sie. Denn meine Oma ist eine Geschiedene. Sie muss eine ungewöhnliche Frau gewesen sein. Denn sie wollte nie heiraten, sie wollte studieren. Irgendetwas mit Sprachen. Ihre älteren Brüder haben es nicht erlaubt. Sie wollte auch schwimmen lernen. Im Stadtbad gucken die Männer durch die Löcher im Zaun, haben die Brüder gesagt. Die mussten es ja wissen. Die Eltern haben dann einen Schwiegersohn ausgesucht. Aus guter Familie. Er war bereits einmal verheiratet und brachte zwei Kinder mit in die Ehe. Meine Oma hat es nicht lange mit ihm ausgehalten. Sie nahm ihren Sohn zurück in ihr Elternhaus, und mein Vater wuchs mit seiner Großmutter, Großtante, Mutter, Tante und ihren 17 Katzen auf. »Ein Wunder, dass ich nicht schwul geworden bin«, sagt er heute. Dann kichert meine Oma und schüttelt den Kopf. »Allah korusun!«, ruft sie, »Gott behüte!«
Denn ein Mann im Haus ist türkischen Frauen wichtig. Sozusagen als Exekutive. Die heimliche Legislative bilden jene, die die Erziehung in der Hand halten. Das war schon unter den Oghusen so, wie anatolische Mythen erzählen, das bestätigen im 15. Jahrhundert arabische Reisende, die in ihren Briefen die stolzen Nomadinnen Anatoliens entsetzt mit ihren braven Frauen zu Hause verglichen, und das fand seinen berühmtesten Ausdruck im Osmanischen Reich, das über Jahrzehnte von der jeweiligen Sultansmutter aus dem Harem des Topkapı-Palastes heraus regiert wurde. Was ist das vordergründige Familienoberhaupt auch anderes als der Sohn seiner Mutter?
Und die höchste moralische Instanz ist die Oma. Denn nichts wird in der Türkei so respektiert wie das Alter. Wer älter ist als man selbst, hat potenziell mehr erlebt, gesehen und gefühlt. Dafür verdient er prinzipiell mehr Achtung. Das fängt schon bei kleinen Geschwistern an, die niemals gleichberechtigt erzogen werden. Der oder die Ältere hat immer mehr Rechte, muss aber auch entsprechend mehr Verantwortung tragen. Ein wohlaustariertes Autoritätsgefüge macht die türkische Familie zu einem der stabilsten sozialen Netze, das man sich vorstellen kann. Ein Türke kann noch so modern und längst ausgezogen sein und die Freuden des Individualismus in vollen Zügen genießen – letztlich bleiben persönliche Angelegenheiten zeit seines Lebens ein Fall für den Familienrat, und gegen dessen Ansichten wird, wenn überhaupt, nur mit Gewissensbissen verstoßen. Und dann muss er damit leben, dass Eltern oder Großeltern oder beide bis in alle Ewigkeit keine Gelegenheit auslassen werden, die eigenmächtige Entscheidung mit einem vorwurfsvollen »Alllahallahallah!« (»Achgottachgottachgott«) zu kommentieren.
Wie wichtig die verwandtschaftlichen Beziehungen sind, zeigt schon die Tatsache, dass es für türkische Familienmitglieder ganz genaue Bezeichnungen gibt – ganz so, wie Eskimos die verschiedenen Schneesorten durch Dutzende Worte auseinanderzuhalten wissen. Meine Oma zum Beispiel ist meine babaanne, weil es sich um die Mutter meines Vaters handelt: Baba heißt Vater, anne ist die Mutter. Babaanne also bedeutet »Vatermutter«. Wäre sie meine Großmutter mütterlicherseits, hieße sie anneanne. Der Großvater hingegen ist einfach der dede. Wahrscheinlich ist er einfach zu unbedeutend für genauere Spezifikationen, steht der Mann doch spätestens ab dem Moment, da er nicht mehr für das Familieneinkommen sorgt, vollkommen unter der Fuchtel seiner Frau.
Mangels Opa bekleidet in unserer Familie der Mann meiner Tante diese Rolle. Mit einem Zigarillo im Mundwinkel und zwei Kissen unterm Arm ist er uns auf den Balkon gefolgt. »Al, kızım, nimm, mein Mädchen«, sagt er und gibt mir eines davon. Meine Oma wedelt mit den Armen den Rauch von sich und sagt: »öfföfföff«, was so viel heißt wie »igittigitt«.
Mein Onkel rückt näher ans Geländer und sieht in den Park. Früher spielten auf dem Brachland kurdische Jungs Fußball, heute joggen moderne Türkinnen paarweise durch eine gepflegte Grünanlage. Mein Onkel hat sich noch nicht an die Joggerinnen gewöhnt. Er ist fast achtzig, meine Tante wurde mit einem zwanzig Jahre älteren Mann verheiratet. Vor vielen Jahren habe ich ihn dabei erwischt, wie er sich heimlich das Spätprogramm im türkischen Fernsehen ansah: leicht bekleidete Damen zu flotter Musik hüpfend – es war eine deutsche Aerobic-Sendung, wie sie in den Achtzigern bei uns zur Frühgymnastik lief. Inzwischen bringen Satelliten auch nackte Busen in die Türkei. Nackte Busen findet meine Oma ungefähr genauso schlimm wie Kopftücher. Gläubig ist man im Herzen, sagt sie: »Dieses Landvolk ruiniert unseren Ruf.« Meine Großtante erwähnt ihr Kostüm aus Paris. Keinen deutschen Stammtisch habe ich jemals hochnäsiger über die armen einfachen Anatolier urteilen hören als meine Oma und Großtante.
Die kurdischen Jungs aus dem Park sind älter geworden. Jetzt verkaufen sie Obst und Gemüse auf dem Markt, der...