2 Die Willenskraft-
erschöpfung
Wenn Sie mehr von dem erreichen wollen, was Sie sich vornehmen, sollten Sie damit anfangen, weniger von dem zu tun, was Sie davon abhält. Das ist leichter gesagt als getan. Denn wir sind ständig hin und her gerissen zwischen der reizgetriebenen Ablenkung unserer Aufmerksamkeit und der absichtlichen Konzentration auf unsere Ziele. Außerdem sind wir Menschen, und Menschen haben Gefühle. Zu viel Ablenkung von außen (Reize) oder von innen (Gedanken und Gefühle) überfordert unsere Aufmerksamkeit und dadurch schrumpft unsere willentliche Kontrolle über unser Verhalten. In diesem Kapitel erfahren Sie, was unsere Willenskraft erschöpft: Entscheidungen treffen, Versuchungen widerstehen und Gefühle steuern. Schauen Sie sich einmal wie unter dem Mikroskop an, wie Sie an einem ganz normalen Tag in Ihrem Leben mit Ihrer Willenskraft umgehen. Am Ende dieses Kapitels werden Sie verstehen, warum Erfolg nicht primär die Folge einer außerordentlichen Anstrengungs- und Verzichtbereitschaft, sondern das Ergebnis eines klugen Umgangs mit Ihrer Willenskraft ist.
Ein ganz normaler Tag im Leben
Morgens, 6.30 Uhr in Deutschland. Der Wecker klingelt. Sie schlagen Ihre Augen auf und der Tag nimmt seinen Lauf. Ihr erster Gedanke ist vielleicht „Wie schön wäre es, jetzt noch eine Stunde liegen zu bleiben und weiterzuschlafen“. Sie kontrollieren diesen Gedanken und entscheiden sich dafür aufzustehen. In den kommenden acht Stunden funktionieren Sie recht gut, solange Sie irgendeinen Druck von außen haben und ein Nicht-Funktionieren unangenehme Konsequenzen hätte. Sie entscheiden sich unzählige Male dagegen, eine Anstrengung zu vermeiden, und arbeiten stattdessen konzentriert an Ihren Aufgaben. Sie widerstehen vielen Versuchungen und beherrschen beispielsweise Ihren Impuls, bei der Arbeit laufend auf Ihr Smartphone zu schauen, Sie verzichten in der Kantine auf den leckeren süßen Nachtisch und darauf, das verführerische Paar Schuhe auf dem Nachhauseweg zu kaufen. Sie beherrschen auch Ihre Gefühle, zeigen beispielsweise im Business-Meeting niemandem, dass Sie traurig oder ängstlich, besorgt oder frisch verliebt sind. Wenn Sie Ihre Gedanken kontrollieren und sich auf eine anstrengende Aufgabe konzentrieren, brauchen Sie dafür Willenskraft – selbst wenn Sie die Aufgabe wirklich gerne machen. Sie brauchen auch Willenskraft, um einer Versuchung zu widerstehen – selbst wenn Sie wissen, für was Sie jetzt auf etwas anderes verzichten (in der Kantine wegen der schlanken Linie, im Schuhladen wegen des Kreditlimits). Und die bewusste Regulierung Ihrer Emotionen ist für Ihre Willenskraft Schwerstarbeit – selbst wenn es sich um positive Gefühle handelt. Das alles kann Ihre Willenskraft an einem ganz normalen Tag im Leben ziemlich erschöpfen. Das ist das dritte Geheimnis der Willenskraft.
Unsere Willenskraft ermüdet, wenn wir zu viele Entscheidungen treffen, zu vielen Versuchungen widerstehen und zu viele Gefühle regulieren.
Psychologen haben erforscht, dass wir uns täglich vom Aufwachen bis zum Schlafengehen viele tausend Mal dafür entscheiden, unsere Gedanken zu kontrollieren und unsere Aufmerksamkeit auf eine anstrengende Aufgabe zu fokussieren. Dazu prasseln von allen Seiten Informationen und Daten auf uns herein. Laut neuester Medienforschung erreichen uns Tag für Tag mehr als 3000 Werbebotschaften und verlocken uns, Geld auszugeben, Süßigkeiten zu essen, zu rauchen, zu trinken, fremdzugehen, fernzusehen, zu „zappen“, zu „webben“ und zu „appen“. Und welche Kraft Ihre Gefühle haben können, muss ich Ihnen wohl nicht sagen. Aus dem emotionalen Drunter und Drüber des Lebens erwächst die größte Herausforderung – selbst für sehr willensstarke Menschen. Beispielsweise wenn kürzlich eine Liebesbeziehung zerbrochen ist und uns das ständig durch den Kopf geht. Für jede einzelne Justierung unserer Gefühle, jeden Verzicht und jede Entscheidung, die wir treffen, setzen wir unsere Willenskraft ein.
Energiemangel im Gehirn
Neurowissenschaftler haben festgestellt, dass unser Gehirn mit jedem Einsatz der Willenskraft an Aktivität verliert. So wie die Beine eines Sportlers irgendwann ermüden, verlassen auch das Gehirn die Kräfte. Die Erschöpfung der Willenskraft ist eine Folge des Energiemangels im Gehirn. Je mehr Ihr Blutzuckerspiegel nach einer willentlichen Anstrengung abfällt, desto schlechter gelingt es Ihnen, sich beim nächsten Mal zusammenzureißen und Ihre Gefühle zu regulieren, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, das heißt Ihre Gedanken zu kontrollieren, oder einer Versuchung zu widerstehen und damit Impulse zu kontrollieren. Verstehen Sie nun, warum Sie manchmal, wenn Sie hochkonzentriert an einer Aufgabe arbeiten, ein überwältigendes Verlangen nach Süßem überkommt?
Entscheidungen treffen
Jede Entscheidung dafür, Ihre Gedanken zu kontrollieren und Ihre Aufmerksamkeit auf eine anstrengende Aufgabe zu fokussieren, zehrt an Ihrer Willenskraft. Wenn Sie bei der Arbeit den ganzen Tag über Entscheidungen treffen, ist Ihr Gehirn irgendwann erschöpft und will Kräfte sparen. Dann versuchen Sie, weitere Entscheidungen zu vermeiden oder aufzuschieben, wählen den Weg des geringsten Widerstands oder gehen auf Nummer sicher und lassen alles beim Alten, um sich möglichst viele Optionen offen zu halten.
Wenn wir entscheidungsmüde sind, neigen wir dazu, Entscheidungen zu vermeiden oder aufzuschieben, den Weg des geringsten Widerstands zu gehen oder alles beim Alten zu lassen.
Untersuchung: Gerichtsurteile
Eine Untersuchung der Wirtschaftspsychologen Jonathan Levav von der New Yorker Columbia University und Shai Danziger von der israelischen Ben-Gurion University zeigt diesen Zusammenhang eindrucksvoll. Das Psychologenteam untersuchte mehr als tausend Gerichtsurteile, die israelische Bewährungsrichter über einen Zeitraum von zehn Monaten getroffen hatten. Die Richter entschieden darüber, ob ein Häftling vorzeitig auf Bewährung entlassen wurde oder nicht. Mit der Entscheidung auf Haftverkürzung gingen die Richter ein Risiko ein. Denn wenn ein Häftling nach einer vorzeitigen Entlassung wieder straffällig wurde, warf das ein schlechtes Licht auf den Richter. Durchschnittlich gewährten die Richter nur jedem dritten Häftling eine vorzeitige Haftentlassung. Levav und Danziger entdeckten dabei ein interessantes Entscheidungsmuster. Schauen Sie sich einmal die folgende Liste an und raten Sie, welche Häftlinge begnadigt wurden:
Häftling 1 (8:50 Uhr):
Araber mit einer 30-monatigen Haftstrafe wegen Betrugs.
Häftling 2 (13:27 Uhr):
Jude mit einer 16-monatigen Haftstrafe wegen Überfalls.
Häftling 3 (15.10 Uhr):
Araber mit einer 16-monatigen Haftstrafe wegen Überfalls.
Häftling 4 (16:25 Uhr):
Jude mit einer 30-monatigen Haftstrafe wegen Betrugs.
Gerechtigkeit: „das, was der Richter zum Frühstück gegessen hat“
Das Entscheidungsmuster hat weder etwas mit der Schwere des Verbrechens, der Dauer der Haftstrafe noch mit der ethnischen Zugehörigkeit der Häftlinge zu tun – sondern mit der Uhrzeit der Verhandlung! In den Verhandlungen am frühen Vormittag wurden 70 Prozent der Häftlinge begnadigt, in den Verhandlungen am späten Nachmittag waren es nur 10 Prozent. In den Verhandlungen, die kurz vor einer Pause geführt wurden, kamen nur 15 Prozent der Häftlinge frei, nach einer Pause waren es 70 Prozent. Aber was war der Grund dafür? Zucker! Der erste Häftling hatte Glück, weil der Richter gerade gefrühstückt hatte. Ebenso der zweite Häftling, weil sein Fall nach dem Mittagessen verhandelt wurde. Weniger gute Karten hatten der dritte und der vierte Häftling, weil deren Verhandlungen in Phasen der Unterzuckerung stattfanden. Der Blutzuckerspiegel im Gehirn des Richters war zu niedrig, er war entscheidungsmüde und wählte die sicherste Option: Die Häftlinge blieben hinter Gittern.
Sich zu entscheiden verbraucht Energie, und das schwächt die Willenskraft.
Nun entscheiden Sie wahrscheinlich nicht über Bewährungsstrafen von Häftlingen, aber überlegen Sie einmal, wie viele Entscheidungen Sie täglich in Ihrer Arbeit, in der Familie und in der Freizeit treffen. Wann waren Sie das letzte Mal entscheidungsmüde? Vielleicht nach einem langen Arbeitstag im Büro, an dem Sie viele Gespräche geführt und viel entschieden haben? Oder beim letzten Einkauf? Wenn Sie heute beispielsweise ein Smartphone mit Vertrag kaufen wollen, haben Sie die Wahl zwischen unzähligen Kombinationsmöglichkeiten. Da sind zunächst die verschiedenen Gehäusefarben in Rot, Grün, Blau, Gelb, Schwarz, Orange und die verschiedenen Gehäusematerialien Plastik oder Alu. Das Innenleben unterscheidet sich durch mehr oder weniger leistungsfähige Prozessoren und unterschiedlich große Speicherkarten. Dazu kommen die verschiedenen Vertragsangebote mit Festnetzflat, Handyflat, Internetflat oder All-Net-Flat, All-Net-Flat Basic oder auf Wunsch auch All-Net-Flat Premium. Zu Beginn Ihres Kaufabenteuers wählen Sie vielleicht noch sorgfältig aus, aber je mehr Entscheidungen Sie treffen und je mehr Ihr Blutzuckerspiel sinkt, desto wahrscheinlicher ist es, dass Sie sich vom Verkäufer ein „garantiert günstiges Sonderangebot“ aufschwatzen lassen.
Achten Sie beim nächsten Kauf eines Smartphones einmal darauf, welche Features Ihnen der Verkäufer zuerst vorstellt. Ich gehe jede Wette ein, dass das die eher unwichtigen Details sind, wie zum Beispiel die Gehäusefarbe oder die kostenfrei mitgelieferte Smartphonehülle, und dass erst zum Schluss, wenn bei Ihnen die...