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E-Book

Der deutsche Genius

Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI. -

AutorPeter Watson
VerlagC. Bertelsmann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl1024 Seiten
ISBN9783641172121
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Deutsche Ideen, deutscher Geist und deutsche Ideologien haben das Weltgeschehen maßgeblich beeinflusst und geprägt. Peter Watson zeichnet diese Entwicklung von der Mitte des 18. Jahr hunderts bis zur Gegenwart nach und ergründet Ursprung und Wesen des »Deutschen Genius«. Philosophie und Literatur, Musik und Malerei, Wissenschaft und Technik - Watson bietet eine beeindruckende Gesamtschau deutschen Geisteslebens von Lessing bis Mann, von Humboldt bis Benz, von Kant bis Habermas, von Schleiermacher bis Ratzinger, von Bach bis Henze, von Friedrich bis Beuys. Eine faszinierende Kultur- und Ideengeschichte.

Peter Watson, geboren 1943, studierte an den Universitäten von Durham, London und Rom. Er war stellvertretender Herausgeber von 'New Science' und arbeitete vier Jahre lang für die 'Sunday Times'. Er war Korrespondent in New York für die 'Times' und schrieb für den 'Observer', die 'New York Times', 'Punch' und 'Spectator'. Er hat weit über ein Dutzend Bücher veröffentlicht, darunter »Das Lächeln der Medusa« (2001), »Ideen« (2006) und 'Der deutsche Genius' (2010). Von 1997 bis 2007 war er als Lehrbeauftragter am McDonald Institute for Archaeological Research der Universität Cambridge tätig.

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Leseprobe

EINFÜHRUNG


Vom Licht geblendet: Hitler, der Holocaust und die Vergangenheit, die nicht vergehen will


Dank einem dieser sinnigen historischen Zufälle lebten im Jahr 2004 zwei deutsche Brüder zur selben Zeit in London. Beide kamen in hoch dotierten und einflussreichen Positionen zu Erkenntnissen über ihren temporären Wohnsitz, denen sie mit ein paar ausgesprochen spitzen Bemerkungen Ausdruck verliehen, und da sie sehr unterschiedlichen Berufen nachgingen, erreichten sie damit nicht einfach nur eine doppelte Wirkung.

Thomas Matussek, der damalige deutsche Botschafter in London, beklagte in jenem Jahr öffentlich, dass sich der englische Geschichtslehrplan fast sechzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch immer exzessiv mit der Zeit des Nationalsozialismus befasste. Wie er festgestellt habe, seien viele Briten regelrecht »besessen« vom »Dritten Reich«, während nur sehr wenige Deutschland wirklich kennen würden. Das englische Geschichtscurriculum sei »unausgewogen«, habe nichts über die Erfolge der Bundesrepublik zu sagen und ignoriere die Wiedervereinigung ebenso wie andere Aspekte der deutschen Geschichte. Dem Guardian gegenüber erklärte er, es habe ihn ungemein überrascht, zu erfahren, dass »die Nazis eines der drei meistgewählten Themen beim A-Level« (Abitur) seien. 1 Sein Bruder Matthias Matussek, zu dieser Zeit Londoner Korrespondent des Spiegel, ging noch einen Schritt weiter. Er fand es geradezu lächerlich, dass man Deutschland – das Land von Goethe, Schiller und Beethoven – auf die zwölf Jahre Naziherrschaft reduzierte. Spöttisch erklärte er, dass sich die englische Wesensart bis heute vom »Widerstand gegen Nazideutschland« nähre. Seine undiplomatische Formulierung führte zu einer vorübergehenden Eiszeit zwischen den Brüdern – dabei hatte sogar der damalige deutsche Außenminister Joschka Fischer zur nahezu gleichen Zeit englischen Lehrern vorgehalten, ein »seit drei Generationen überholtes« Bild von einem Deutschen zu verewigen, der »im Stechschritt marschiert«.

Botschafter Matussek war nicht der Erste gewesen, der solche Beschwerden vorbrachte. 1999 hatte sein Vorgänger Gebhardt von Moltke kurz vor seiner Verabschiedung als deutscher Botschafter in Großbritannien festgestellt, dass man den Eindruck habe, »als ende der Geschichtsunterricht in diesem Land mit dem Jahr 1945«. Auch die mangelnde Bereitschaft junger Engländer, die deutsche Sprache zu erlernen oder Deutschland zu besuchen, hatte er beklagt. 2

Die Bundesregierung scheint sich tatsächlich um das Image ihres Landes zu sorgen, jedenfalls um sein Bild in England. Im Juli 2003 veranstaltete das Goethe-Institut in London eine Konferenz, auf der diskutiert werden sollte, wie man das Ansehen der Bundesrepublik aufpolieren könnte, wie man sie als ein attraktives Reiseziel und als ein Land verkaufen könnte, in dem es sich gut studieren lässt, mit dem man gut Geschäfte machen kann und dessen Sprache zu erlernen sich lohnt. Das erinnerte an die Art und Weise, in der man kurz zuvor Quebec und Australien zu erfolgreichen »Marken« gemacht hatte. Eine Studie der Programmzeitschrift Radio Times, die in der Woche vor dem Beginn dieser Konferenz veröffentlicht worden war, hatte ergeben, dass im Lauf von nur sechs Tagen nicht weniger als dreizehn Sendungen zu »Themen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg« ausgestrahlt worden waren. Und eine Umfrage unmittelbar vor der Konferenz hatte erwiesen, dass 81 Prozent der befragten jungen Deutschen den Namen einer berühmten lebenden englischen Persönlichkeit kannten, aber ganze 60 Prozent der befragten Engländer keinen einzigen lebenden Deutschen benennen konnten. 3 Im Oktober 2004 bezahlte die Bundesregierung zwanzig englischen Geschichtslehrern eine Deutschlandreise, samt Unterbringung in Spitzenhotels, um über genau solche Fragen zu diskutieren. Einer dieser Lehrer sagte: »Die Kids finden die Nazizeit eben spannend. Da passierte eine Menge. Da gab’s jede Menge Gewalt.« So gesehen fand er die deutsche Nachkriegsgeschichte »etwas trocken«. Ein Kollege aus Newcastle hielt seine Schüler für »voreingenommen und desinteressiert. Es herrscht allgemein der Eindruck, dass alle Deutschen Nazis seien, die Liegestühle klauen: totale Karikaturen. Das Problem ist bloß: Wenn du ernsthaft nachhakst, dann haben sie überhaupt keine Meinung zu Deutschland«. 4

Allen Anzeichen nach hat die Bundesregierung also durchaus Grund zur Besorgnis. Eine Studie stellte im Juli 2004 fest, dass 97 Prozent der Deutschen über Grundkenntnisse der englischen Sprache verfügen und 25 Prozent sie fließend beherrschen, wohingegen nur 22 Prozent unter den englischen Studenten irgendwelche Deutschkenntnisse besitzen und nur 1 Prozent von ihnen die deutsche Sprache fließend spricht. Während 52 Prozent der befragten jungen Deutschen bereits einmal in England gewesen waren, hatten nur 37 Prozent der jungen Briten jemals Deutschland besucht. 2003 ergab eine Untersuchung von Travel Trends, dass die Einwohner Großbritanniens in diesem Jahr 60 Millionen Auslandsreisen angetreten hatten, aber nur 3 Prozent nach Deutschland, was exakt den Reisen nach Belgien entsprach. Die Hälfte war in die Vereinigten Staaten gereist, ein Sechstel nach Frankreich und ein Siebtel nach Spanien. In den vier vorangegangenen Jahren war die Zahl der Deutschlandreisen unverändert geblieben, aber noch hinter die Zahl von Reisen nach Holland, Italien und Griechenland zurückgefallen. 5

Die Lage hatte sich insgesamt verschlechtert, wenn man das überhaupt noch so sagen kann: 1986 hatten 26 Prozent der befragten Briten Deutschland als den besten europäischen Freund Englands betrachtet, 1992 war diese Zahl auf 12 Prozent gefallen. Als die Briten 1977 gefragt worden waren, ob »der Nazismus oder etwas dieser Art« in Deutschland noch einmal Auftrieb bekommen könnte, hatten 23 Prozent mit Ja geantwortet, 61 Prozent mit Nein. 1992 hatte sich das Verhältnis umgekehrt: 53 Prozent antworteten mit Ja, 31 Prozent mit Nein. 6 Ein Leitartikler des Daily Telegraph kam im Mai 2005 zu dem Schluss, dass Großbritannien sechzig Jahre nach dem »V-E-Day« (dem Tag des Sieges in Europa) »eine auf den Zweiten Weltkrieg fixierte Nation ist und immer mehr wird«. 7

Kurzfristig wird sich daran höchstwahrscheinlich nichts ändern lassen. Eine andere Umfrage, diesmal unter zweitausend Schülern aus privaten und staatlichen englischen Schulen, die im November 2005 veröffentlicht wurde, wies nach, dass »Tausende« von Vierzehnjährigen Deutsch als Fremdsprache zugunsten von »einfacheren Fächern« (wie Medienkunde) abgewählt hatten, seit die britische Regierung im Herbst 2004 Fremdsprachen in schulische Wahlfächer verwandelt hatte. Mehr als die Hälfte der befragten Schulen hatten den Deutschunterricht seither ganz abgeschafft. Eine 2007 publizierte Untersuchung ergab, dass die Zahl der englischen Institutionen, die Deutsch als Lehrfach anboten, seit 1998 um 25 Prozent und die Zahl der Studenten, die in London einen Bachelor in Deutsch gemacht hatten, um 58 Prozent gesunken waren. 8

Botschafter Matussek missfielen diese Befunde natürlich, aber er glaubte nicht, dass Fremdenfeindlichkeit dafür verantwortlich war – eher Unwissen. Allerdings betonte er, dass er das für eine »potenziell gefährliche« Entwicklung hielt, da Deutschland der wichtigste Handelspartner Großbritanniens war. »Es ist riskant, Vierzehnjährigen freizustellen, ob sie eine Sprache abwählen wollen.« Außerdem fänden Teenager Spanisch immer »einfach« und Deutsch »schwer«. »Die meisten Schüler denken dabei eher an die spanischen Strände als an die Museen und Schlösser in Deutschland.«

Dass der deutsche Botschafter Grund zur Sorge über das »Ungleichgewicht« im englischen Lehrplan hatte, bestätigte sich, als die Qualification and Curriculum Authority (QCA) um die Weihnachtszeit 2005 in ihrem Jahresbericht zu dem Schluss kam, dass der Geschichtsunterricht an höheren Schulen »nach wie vor von Hitler dominiert wird. [...] Es ist zu einer schrittweisen Einengung und ›Hitlerisierung‹ des Geschichtsunterrichts für Schüler über 14 gekommen. [Er wird] weiterhin von Themen wie den Tudors und den Diktaturen im 20. Jahrhundert beherrscht.« Prompt gab die QCA neue Richtlinien für den Geschichtsunterricht über die Nachkriegszeit heraus und forderte die Vermittlung »eines ausgewogeneren Verständnisses von Deutschland im 20. Jahrhundert«. 9

Botschafter Matussek hatte den Geschichtsunterricht an britischen Schulen also völlig zu Recht als »unausgewogen« bezeichnet. Aber hatte er auch recht, es auf die »Besessenheit« zurückzuführen, mit der Engländer sich an Nazi-Deutschland erinnerten? Mit Blick auf das eigene Land hatte er erklärt: »Die Menschen fahren nicht in die Ferien dorthin. Der Jugendaustausch ist eine Einbahnstraße [...]. Unsere jüngeren Generationen beginnen allmählich auseinanderzudriften und hören einander immer weniger zu. Über die Gründe dafür kann ich nur spekulieren. Aber ich spreche mit vielen Briten, und etwas höre ich immer wieder, nämlich, dass jedes Land einen Selbstfindungsprozess durchlaufen müsse. 1940 war Großbritannien mit einem letztlich übermächtigen Feind konfrontiert gewesen; nur weil es mit äußerster Anstrengung alle englischen Tugenden mobilisierte, gelang ihm schließlich die Kehrtwende. In der kollektiven Psyche spielt das eine große Rolle – zurückzublicken und zu wissen, dass man...

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