In der Welt dreht sich alles um Sex
Die Konsequenz: »Die schönste Sache der Welt« hat sich endlich aus der muffigen Ecke verschämter Moral befreit. Und die Kehrseite: Aus der Kür ist die Pflicht geworden. Sexualtherapeuten wie Ulrike Brandenburg, die im Universitätsklinikum Aachen arbeitet, wissen schon seit längerem, dass die geltenden sexuellen Normen viele Menschen krank machen und dass die übergroße Beschäftigung der Medien mit der Lust das private Vergnügen erheblich schrumpfen lässt. Wer täglich Sendungen wie Tangas, Transen, Titten anschaut, wer die hundert lustvollsten Stellungen in Hochglanzzeitschriften betrachtet, verliert die Lust, auch nur eine dieser Stellungen selbst auszuprobieren. Das sexuelle Überangebot macht träge und satt. Eine Tendenz, die der Hamburger Psychoanalytiker Micha Hilgers bestätigt: »Während die wachsende öffentliche Lust immer bizarrere Formen annimmt, schrumpft die private Lust zu zweit.«[1]
Durch die permanente Berieselung sind wir felsenfest davon überzeugt, die Welt drehe sich um Sex. Wir befürchten im Stillen, dass alle anderen ein phantasievolleres Sexleben haben als wir selbst, was sie mindestens fünfmal pro Woche unter Beweis stellen. Und bekommen wir nicht täglich Menschen im Fernsehen präsentiert, schwitzend in Swingerclubs oder stöhnend in Handschellen, die unsere Nachbarn sein könnten? Unweigerlich bleibt es hängen, dieses Gefühl, dass alle anderen sexuell aktiver, freier oder wenigstens experimentierfreudiger sind.
Es gibt wohl kaum ein Thema, über das so viele falsche Behauptungen und scheinbare Gewissheiten kursieren wie zum Sex! Daher zunächst einige Fakten:
Wir haben mehr Sex als früher
Keineswegs. Weder mit festen noch mit wechselnden Partnern. Da sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache, wie der Frankfurter Sexualforscher Martin Dannecker betont: »Zu Hause hat sich nichts verändert. Es gibt nicht mehr Sex, auch nicht mit wechselnden Partnern.«[2]
Die Neigung zu Seitensprüngen ist gewachsen
Im Gegenteil. Man glaubt es kaum, aber die Paare von heute sind viel treuer als noch vor zwanzig Jahren.[3] Was aber in festen Beziehungen erheblich zugenommen hat, ist die Häufigkeit der Selbstbefriedigung bei Männern und Frauen.[4]
Frauen kommen ständig und gewaltig
Schön wär’s. Aus statistischen Untersuchungen in Deutschland geht aber leider hervor, dass tatsächlich 70 Prozent (!) aller Frauen nur schwer oder kaum einen Orgasmus erreichen.[5] Und bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes INRA antwortete mehr als ein Drittel der Frauen, dass sie sich ein interessanteres und spannenderes Sexualleben wünschten.[6]
Singles haben mehr Sex
Eindeutig nicht. Tatsächlich finden über 90 Prozent aller sexuellen Akte in festen Partnerschaften statt. Der Hamburger Sexualforscher Gunter Schmidt meint süffisant: »Das Single-Dasein ist ein Zustand, in dem man mit viel Aufwand wenig Sex hat.« Das Bild der fröhlich vögelnden Singles hat nur sehr wenig mit ihrer oft freudlosen Realität zu tun.[7] Aber mit Realität schafft man schließlich keine Quote.
Frauen und Männer wollen immer
Ganz bestimmt nicht. Klagten in den siebziger Jahren noch vier Prozent der Männer über Triebverlust, so sind es heute mehr als 16 Prozent. Bei den Frauen ist der Anteil noch dramatischer gewachsen: von acht auf 58 Prozent.[8] 1996 ergab eine Untersuchung unter Studentinnen und Studenten, dass ein Drittel der Männer und mehr als die Hälfte der Frauen zeitweise lustlos sind und dass jeder fünfte Mann gelegentlich Erektionsprobleme und zwei Drittel der Frauen gelegentlich Orgasmusschwierigkeiten haben.
Dumm f… gut
Von wegen. Je besser Frauen ausgebildet sind, desto aufgeschlossener sind sie gegenüber Sex. So belegen US-amerikanische Untersuchungen, dass gebildete Frauen viel bessere Chancen haben, regelmäßig zum Orgasmus zu gelangen. Außerdem haben sie eine positivere Einstellung zum Oral-Sex, zur Masturbation und zum Koitus während der Menstruation als ungebildete Frauen.[9] Auch konnte nachgewiesen werden, dass intellektuell aktive Frauen ein höheres Selbstbewusstsein haben und dadurch auch sexuell interessierter sind.[10]
Sex ist entspannend
Für viele Menschen leider nicht. Jeder zehnte Mann und beinahe jede vierte Frau empfinden Sex nicht als pure Lust, sondern als puren Stress.[11]
Sex ist das Wichtigste im Leben
Eindeutig nein. Das Forschungsinstitut Emnid befragte 1999 Männer und Frauen, was für sie das Wichtigste im Leben sei. Das Ergebnis: Für 62 Prozent aller jungen Deutschen ist es die Familie. Sex lag mit mickrigen sechs Prozent der Nennungen abgeschlagen auf dem letzten Platz der Antwortmöglichkeiten.[12]
Traditionelle Rollen sind passé
Was waren das doch früher für einfache Zeiten, als die Regeln noch eindeutig waren: Die Frau verführt, der Mann greift an. Er will erobern und sie erobert werden. Sie gewährt ihm sexuelle Gunst beziehungsweise wehrt ihn so lange ab, wie es sich gehört. Und heute? Jede Frau kann – je nach Temperament und Geschmack – entscheiden, wie sie sich beim Flirten oder beim Sex präsentieren will, ob forsch oder zögerlich, burschikos oder feminin.
Eigentlich können wir froh sein, uns nicht mehr ins enge Korsett genormter Verhaltensvorgaben pressen zu lassen. Aber damit ist auch die Sicherheit flöten gegangen. Ist es nun plump oder raffiniert, einem Mann die Hand auf den Oberschenkel zu legen, wenn man mit ihm flirtet? Denn fest gefügte Rollen schränken nicht nur den Handlungsspielraum ein, sie geben auch Verhaltenssicherheit. Und die ist uns abhanden gekommen. Ab wann man beispielsweise als leicht zu haben oder als unstürmbare Festung gilt – keine Ahnung. Wie viele Liebhaber genau sind denn viele – fünf, zehn oder dreißig? Wenn man gleich am ersten Abend mit einem Mann ins Bett gehen möchte – sollte man lieber trotzdem warten? Wir haben zwar die traditionellen Rollen, wie Männer und Frauen sich im Umgang miteinander zu verhalten haben, abgelegt, aber noch kein neues Modell geschaffen. Anything goes: Das schafft Freiheit und Überforderung zugleich.
Auch wenn wir die alten Vorgaben als unzeitgemäß ausgemistet haben: In unseren Köpfen rotieren sie weiter. Dafür sorgten unsere Mütter und Väter, denn jede Generation gibt ihre Normen und Werte weiter. Zwar lockerte sich parallel zur Entwicklung sicherer Mittel zur Empfängnisverhütung die Sexualmoral, aber im Verborgenen ist noch immer die Vorstellung virulent, Sex sei das kostbarste Gut einer Frau, das sie sparsam zu verwalten habe. Wer sich zu früh, zu schnell, zu unüberlegt hingibt, hat keinen Trumpf mehr zum Ausspielen. Also: Zurückhaltung üben, nicht den Kopf verlieren, abwägen, wer überhaupt wert ist, mit ihm das Kissen zu teilen! Tief in den Frauen von heute sitzt die Warnung der Frauen von gestern: »Kind, gib dich nicht dem Erstbesten hin!«
Dass die sexuellen Rollen aus der Mottenkiste nicht verschwunden sind, merkt man spätestens in ersten Nächten. Mann aktiv, Frau passiv – dieses Muster verspricht Sicherheit in einer unsicheren Situation. Das alte Bild vom sexuellen Comme il faut funktioniert weiter, wie auch der Berliner Sexualtherapeut Theo Gilbers berichtet. Ich besuchte ihn im Berliner Zentrum für Familienplanung und Sexualität Balance: »Die klassische Aufteilung beim Sex – der Mann ist aktiv, die Frau ist passiv – wird immer noch phantasiert, und zwar von Männern und Frauen gleichermaßen. Obwohl wir wissen, dass es in der Praxis gar nicht so ist!«
Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie in einer ersten Nacht weniger stürmisch sind, als Sie möchten. Oder wenn Ihr Liebhaber, den Sie für zurückhaltend hielten, plötzlich die Zügel in die Hand nimmt. Männer zeigen sich selten in der ersten Nacht passiv, genauso wenig, wie sich Frauen zuerst aktiv verhalten. Wir gehen auf Nummer Sicher in ersten Nächten und folgen den traditionellen Rollen.