1 Einleitung – Aufwachsen mit Widersprüchen
»Herr Khorchide, das, was Sie uns über den Islam erzählen, klingt sehr sympathisch! So haben wir den Islam bis jetzt noch nicht wahrgenommen. Ist das denn Ihre eigene Interpretation, oder gibt es auch andere Muslime, die den Islam so sehen wie Sie? Und welche Chancen bestehen, dass sich so ein Islamverständnis verbreitet?« Diese Fragen werden mir nach fast jedem öffentlichen Vortrag zum Thema Islam gestellt.
Als Theologe bin ich natürlich bemüht, meine Positionen theologisch zu begründen. Doch mein Verständnis von Theologie und Religion ist maßgeblich durch meine Biografie geprägt. Alles, was ich in diesem Kapitel sage, soll Ihnen erklären, wie unterschiedlich der Islam gelebt wird, warum ich starke Vorbehalte gegen die traditionalistische islamische Theologie hege und mich mit der Frage nach einer modernen Theologie des Islam beschäftige. Deshalb stehen persönliche Erfahrungen am Anfang einer Antwort auf die oben angeführten Fragen.
Meine Eltern kamen nach der Okkupation Palästinas 1948 als Flüchtlinge in den Libanon. Mein Vater war zu dieser Zeit acht, meine Mutter ein Jahr alt. Beide sind in Beirut aufgewachsen. Mein Vater besuchte eine christliche Schule. Das mag verwunderlich klingen; im Libanon der 40er- und 50er-Jahre war dies jedoch nicht unüblich. Die libanesische Gesellschaft ist sehr plural; 18 anerkannte Religionsgemeinschaften gibt es im Libanon. Die größten bilden die maronitischen Christen sowie die schiitischen und sunnitischen Muslime. Daneben gibt es Drusen, römisch-orthodoxe Christen, melkitisch griechisch-katholische Christen, armenisch-apostolische Christen, alevitische Muslime, armenisch-katholische, protestantische und koptische Christen sowie einige wenige Juden. Die Muslime machen etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus, davon sind die Hälfte Sunniten und die andere Hälfte Schiiten. Diese Pluralität war und ist zum Teil auch heute noch im Libanon eine Selbstverständlichkeit. In den 40er-Jahren, als meine Großeltern meinen Vater an einer Schule anmelden wollten, stand für sie nicht die Konfession der Schule im Vordergrund, sondern die Qualität der Schule. Gerade für palästinensische Familien, die als Flüchtlinge und meist in sehr armen Verhältnissen im Libanon lebten, war Bildung die wichtigste Investition in die Zukunft der eigenen Kinder. Meine Mutter erzählte uns immer wieder von ihren damaligen christlichen Nachbarn, mit denen ihre Familie gemeinsam unterschiedliche religiöse Feste feierte. Die Kinder konnten sich über Geschenke zu muslimischen und christlichen Festen freuen. Meine Mutter erinnert sich bis heute an Geschenke, die sie in ihrer Kindheit zu solchen Anlässen bekam. Dass Christen und Muslime Tür an Tür lebten und sich als Mitbürgerinnen und Mitbürger eines Landes, als gleichwertige Menschen empfanden, war zu dieser Zeit eine Selbstverständlichkeit im Libanon. Und auch die innerislamische Vielfalt war Normalität. Zwei meiner Onkel haben als Sunniten schiitische Frauen geheiratet. Dies war kein Thema, über das man diskutieren musste; für meine Großeltern war das zentrale Kriterium, das bei der Partnersuche eine Rolle gespielt hat, die Bildung.
Mit dieser starken konfessionellen Vielfalt wurden die Menschen schon im Kindesalter konfrontiert und lernten so, mit ihr umzugehen. Das dichte Nebeneinander von Moscheen und Kirchenbauten prägt bis heute das Stadtbild Beiruts. In dieser konfessionell pluralen Gesellschaft sind meine Eltern aufgewachsen. Ich hingegen wuchs in einem anderen Land auf, dem Pluralität fremd ist, in dem Pluralität sogar abgelehnt wird: in Saudi-Arabien. Noch heute beschwert sich meine Mutter bei meinem Vater: »Wieso hast du uns in dieses Land gebracht?« Eigentlich waren es wirtschaftliche Gründe, die meinen Vater nach seinem Elektrotechnik-Studium in Ägypten Ende der 60er-Jahre dazu bewogen, nach Saudi-Arabien zu gehen.
Als 25-jährigem Ingenieur kam ihm eine Stellenanzeige des saudischen Kommunikationsministeriums auf seiner Suche nach beruflicher Perspektive sehr gelegen. Nach zwei Jahren Aufenthalt in Saudi-Arabien heiratete mein Vater im Libanon meine Mutter, die zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt war und am Anfang ihres Studiums der Soziologie und Psychologie an der arabischen Universität in Beirut stand. Die Bedingung, unter der mein Vater sie heiraten durfte, war, dass meine Mutter ihr Studium zu Ende bringen durfte. Mein Vater stimmte zu, es wurde allerdings vereinbart, dass meine Mutter gleich nach Saudi-Arabien umziehen und ihr Studium im Fernstudium fortsetzen sollte. Am Ende jedes Studienjahres flog sie von Riad nach Beirut, um dort ihre Examen abzulegen.
Schon nach einem Jahr in Saudi-Arabien kam mein Bruder zur Welt. Ende Juli 1971 flog meine Mutter in den Libanon, um ihre Abschlussexamen abzulegen. Damals war sie mit mir schwanger, und so kam ich in Beirut zur Welt. Im Grunde sind meine Eltern Staatenlose mit einem libanesischen Reisedokument, das nicht als ordentlicher libanesischer Reisepass gilt. Der Status des Staatenlosen verhalf mir später, Mitte der 90er-Jahre, – wie zuvor meinem Bruder – nach vier Jahren Aufenthalt in Österreich zur österreichischen Staatsbürgerschaft. Inzwischen haben sich die Regeln nach dem Eintritt Österreichs in die EU verändert, und ein Staatenloser würde heute nicht mehr so leicht die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten wie damals.
Aufgewachsen und zur Schule gegangen bin ich in Riad in Saudi-Arabien. Zwei Jahre nach der iranischen Revolution kam ich in die Mittelschule; das war 1981. Religion war ein Hauptbestandteil der schulischen Bildung. Wir hatten ab der Mittelschule fünf Unterrichtsfächer zum Thema Religion: islamische Glaubenslehre, islamisches Recht, Koranexegese, prophetische Tradition (Sunna) und Koranrezitation. Für die religiöse Sozialisation war die islamische Glaubenslehre das Wichtigste. Der Grund dafür ist einfach: In diesem Fach wird der »wahre Glaube« thematisiert. Es geht um die grundsätzliche Frage, wer ein Muslim ist und wer nicht. Gerade nach dem Erfolg der iranischen (schiitischen) Revolution im Jahre 1979 und weil ein Übergreifen auf die arabischen Golfstaaten befürchtet wurde, wurde im Unterricht großer Wert darauf gelegt, deutlich zu machen, dass das Schiitentum eine Irrlehre sei. Viele Gelehrte wurden nicht müde, vor der schiitischen Gefahr zu warnen, die den ganzen Nahen Osten bedrohe. Als Kinder und Jugendliche haben wir während des ersten Golfkriegs zwischen dem Iran und dem Irak in den 80er-Jahren unhinterfragt zu den Irakern gehalten: nicht, weil wir etwas davon verstanden hatten, sondern lediglich, weil es in unseren Köpfen um den Kampf von Sunniten gegen Schiiten ging. Wir hatten gelernt, dass Schiiten vom Islam Abtrünnige seien und den Islam von innen zerstören wollten. Diese antischiitischen Lehren sind in Saudi-Arabien bis heute stark verbreitet, man nutzt das Internet und Satellitenfunk, um systematisch Propaganda gegen Schiiten zu betreiben. Fernsehkanäle wie Ṣafā und Wiṣāl wurden extra für diesen Zweck eingerichtet. Auf der anderen Seite nahm allerdings auch das antisunnitische Propagandaprogramm auf schiitischer Seite in den letzten Jahren zu.
Nichtislamische Konfessionen wie Christentum und Judentum standen im Fach Glaubenslehre viel weniger im Mittelpunkt des Interesses als solche islamischen Richtungen, die als Irrlehren deklariert wurden. Die größte Verdächtige war neben dem Schiitentum die islamische Mystik. Andere Religionen wurden kaum angesprochen, weil ohnehin klar war, dass jede andere Religion als der Islam eine Irrlehre war; da gab es nicht viel zu argumentieren.
Das Dogma der religiösen Inklusion und Exklusion (arab.: al-walā᾿ und al-barā᾿) ist bei den einflussreichen Salafisten Saudi-Arabiens zentral. Die Salafisten berufen sich auf die ersten drei Generationen des Islam (zwischen dem siebten...