I. EINLEITUNG[∗]
Das frühe Griechenland erscheint bereits in den zeitgenössischen Texten als eine Epoche des Aufbruchs und der Innovation. Die Helden der Ilias und der Odyssee, der frühesten literarischen Texte in griechischer Sprache – Agamemnon, Achilleus, Odysseus und Co. – sind Abenteurer und Seefahrer, die das Mittelmeer bereisen und sich den Fährnissen solcher Reisen aussetzen, um fremde Welten zu erkunden, Städte zu gründen und Städte zu zerstören. Die Erkundung immer neuer Regionen an den Küsten des Mittelmeerraumes, die Gründung von immer neuen Siedlungen, in denen immer mehr Menschen lebten, war ebenso ein Grundphänomen jener Epoche, die wir seit Generationen die archaische nennen, wie das permanente Experimentieren mit neuen Formen von politisch-institutionellen Ordnungen und die fortdauernde Weiterentwicklung dieser Ordnungen. Im Laufe dieses dynamischen Prozesses entstand in Griechenland die Polis – der Stadtstaat in jener besonderen Ausprägung, die als eine der kulturspezifischen Besonderheiten der antiken griechischen Welt gilt, ohne Palast, Gottkönige und entrückte Herrscher, sondern statt dessen mit einem freien Raum im Zentrum, den man Agora nannte. Untrennbar verbunden mit der Entwicklung der Polis waren so bahnbrechende Neuerungen wie die Bürgergemeinschaft, die genau dort zusammentrat, die dort gemeinschaftlich beschlossene Gesetzgebung und das dabei zur Anwendung kommende Mehrheitsprinzip. Parallel dazu kam es zur fortschreitenden rechtlichen Differenzierung und zur sozialen Stratifizierung innerhalb der Bevölkerung der einzelnen Siedlungsgemeinschaften, in denen man zugleich mit immer neuen Verfahren der Entscheidungsfindung und Formen der Partizipation experimentierte. Die Mobilität über das Meer und die Entwicklung der Städte sowie ihrer institutionellen und sozialen Strukturen werden dementsprechend im Mittelpunkt der folgenden Geschichte der Archaik stehen.
Der Autor einer Geschichte des frühen Griechenlands muß sich dabei notwendig die Frage nach dem Anfang und dem Ende dieser Epoche stellen. Konventionell läßt man die ‹archaische Zeit› mit dem 8. vorchristlichen Jahrhundert beginnen – ein Ansatz, der in der neuesten Forschung eher kritisch betrachtet wird. Denn immerhin gab es in der Mitte dieses Jahrhunderts bereits das griechische Alphabet und die figürliche Malerei, Tempel und Stadtmauern – Errungenschaften, die einem dynamischen Neuanfang nach den Dunklen Jahrhunderten zugeschrieben werden. Die folgende Darstellung wird nicht nur aus diesen Gründen früher ansetzen: Sie wird in einem einleitenden Kapitel die Zeit der mykenischen Paläste, die submykenische Zeit und eben die Dunklen Jahrhunderte miteinbeziehen, zumal ein erheblicher Zuwachs an archäologischen Daten aus dem 12. bis 9. Jahrhundert es mittlerweile gestattet, die Lücke zwischen dem Fall der mykenischen Paläste und dem erneuten Aufbruch in das ‹Licht› der archaischen Epoche im 8. Jahrhundert zu füllen und damit die Zusammenhänge besser zu verstehen – eine Chance, die auf jeden Fall genutzt werden soll. Denn zugleich mit der ‹Erhellung› der Dunklen Jahrhunderte wird auch die artifizielle Epocheneinteilung obsolet, die voraussetzt, daß die Palastkultur eine weiter entwickelte höhere Zivilisationsstufe repräsentierte und die Dunklen Jahrhunderte dahinter flächendeckend auf ein primitiveres Niveau zurückfielen, von dem es dann vom 8. Jahrhundert an in einem dynamischen Prozeß wieder aufwärts ging. Statt dessen müssen im folgenden die Vielfältigkeit der Entwicklungslinien und das Nebeneinander von Kulturbrüchen und Kulturkontinuität dargestellt werden.
Mit der Aufgabe des konventionellen Epochenbeginns im 8. Jahrhundert wird zugleich die Vorstellung von einer zielgerichteten Entwicklung von den Dunklen Jahrhunderten über die ‹Renaissance› des 8. Jahrhunderts bis hin zur klassischen Zeit aufgegeben. Die Geschichte des frühen Griechenlands soll im folgenden dezidiert nicht als ein linearer Prozeß dargestellt werden, der schrittweise und unaufhaltsam zu einem Mehr an Rationalität, Partizipation, Gerechtigkeit und Freiheit führte. Die Archaik wird demnach nicht in erster Linie als Vorgeschichte der Klassik interpretiert. Es soll kein direkter Weg von den homerischen Helden zu den athenischen Demokraten, von Solon zu Sokrates konstruiert werden. Polisentstehung und Institutionalisierung, Krise und Kolonisation, Adelsherrschaft und Tyrannis dürfen nicht als geradezu notwendig aufeinanderfolgende Stadien einer zielgerichteten Entwicklung angesehen werden, bei deren Abschluß man in der ‹Klassik› und der großartigen Demokratie Athens angekommen ist. Wenn man von der Vielfalt, der Vielschichtigkeit und der Ergebnisoffenheit der Entwicklung(en) ausgeht, ist eine chronologische Darstellung der archaischen Epoche also nicht mehr angemessen. Auf die Möglichkeiten und die Grenzen bzw. insbesondere die irreführende Linearität einer solchen narrativen Meistererzählung des archaischen Griechenlands ist in der neuesten Forschung immer wieder verwiesen worden. Gegen ein solches Unterfangen spricht ohnehin die schwierige Quellenlage. Die zahllosen Detailfragen bei der Datierung der materiellen und literarischen Zeugnisse, die es schlicht nicht gestatten, eine unstrittige zeitliche Abfolge von Ereignissen und Handlungssequenzen vorzunehmen, sind dabei nur ein Teil des Problems. Die Faktizität epochemachender Ereignisse – wie beispielsweise des Lelantischen Krieges oder des sogenannten Heiligen Krieges – ist heute weitgehend einer radikalen Dekonstruktion zum Opfer gefallen, die sie als eine Kombination aus willkürlichen Synchronisierungen späterer Autoren erwiesen hat, die auf diese Weise aus ihrer Perspektive die Geschichte der Archaik als Vorgeschichte ihrer eigenen Epoche konstruierten.
Im folgenden wird daher eine systematische Gliederung des Stoffes vorgezogen, die in einzelnen Kapiteln zur mykenischen Kultur und ihrem Untergang, zu den homerischen Epen, zur Kolonisation, zur Entstehung der Polis, zu Bauern, Aristokraten, Tyrannen und Bürgern versucht, längere Entwicklungsphasen und sozio-kulturelle Grundformen in den Blick zu nehmen und dabei auf die Konstruktion von jeglicher Art von Linearität oder gar Kausalität zu verzichten. Der Vorteil einer solchen Gliederung liegt nicht zuletzt darin, daß sie es ermöglicht, den außerordentlichen Reichtum an Varianten und die erheblichen Phasenverschiebungen zu berücksichtigen, die die Veränderungsprozesse in den verschiedenen Regionen kennzeichnen. Entgegen der bisher üblichen Darstellungsweise soll dabei etwa das Kapitel über die Kolonisation vor das Kapitel über die Polis gesetzt werden. Die Etablierung zahlreicher neuer Siedlungen im gesamten Mittelmeerraum und an den Küsten des Schwarzen Meeres wird auf diese Weise nicht mehr als Reaktion auf Probleme in den Siedlungen des Mutterlandes angesehen, sondern vielmehr als Teil eines umfassenden Prozesses, in dessen Verlauf sich Emigranten und Daheimgebliebene gleichermaßen mit den überkommenen Strukturen auseinandersetzten und in kreativen Aufbauphasen die Grundlagen des Gemeinschaftslebens neu organisierten.
Die systematische Gliederung der Geschichte der archaischen Epoche wird darüber hinaus in jedem einzelnen Kapitel durch Fallstudien ergänzt, bei denen am Beispiel einzelner Poleis auch längerfristige Entwicklungen in ihrer diachronen Dimension aufgezeigt werden. Generell soll eine Anreicherung der einzelnen systematischen Kapitel mit solchen Fallstudien auch dazu beitragen, eine allzu konventionelle Konzentration auf die am besten bezeugten Poleis Athen und Sparta zu vermeiden und statt dessen eine Reihe von parallelen Polisgeschichten zu liefern. Mit der ‹Mikrogeschichte› solcher Siedlungen wie etwa Lefkandi, Nichoria und Askra, Metapont, Dreros und Kyrene soll dabei zugleich der geographische Rahmen der Untersuchung erweitert und das ‹andere Griechenland› stärker berücksichtigt werden. Auf der Ebene der Fallstudien können zudem die unterschiedlichen Lebenswelten der Aristokraten und Tyrannen, Bauern und Bürger wieder zusammengeführt werden, die in den systematischen Kapiteln getrennt figurieren. Die Geschichte der einzelnen Siedlungen soll dabei als je spezifisches Produkt der Interaktion dieser wichtigsten Gruppen von Akteuren angesehen werden, die im Einzelfall auf durchaus unterschiedliche Weise miteinander kooperierten bzw. konkurrierten und die Entwicklung der Siedlungen damit jeweils maßgeblich beeinflußten.
Allerdings stellt sich bei diesen Fallstudien die Frage nach dem Umgang mit den antiken Zeugnissen in besonders komplexer Weise. Bei der Rekonstruktion der Geschichte dieser Poleis sind wir in sehr viel stärkerem Maße auf die materielle Hinterlassenschaft angewiesen. Zeitgenössische literarische Zeugnisse sind selten. Die großen Historiker der klassischen Epoche, Herodot und Thukydides, haben diesen Siedlungen nur wenig bis gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Lokalgeschichten, die zumeist erst Jahrhunderte später verfaßt wurden, rekonstruierten und reorganisierten die Geschichte einzelner Siedlungen in einer Weise, die dem Horizont und den Interessen der Autoren und ihrer Zeitgenossen entsprach, und enthalten demnach wenige bis keine authentischen Überreste der Frühgeschichte. Es ist also in jedem Fall...