Vorwort zur deutschen Ausgabe
Vor fünfzehn Jahren bat mich in Los Angeles eine meiner Schülerinnen, die deutsche Schauspielerin Ursula Karven, bei der Produktion eines Videos mitzuwirken, in dem sie Yoga einem deutschsprachigen Publikum vorstellte. Damals bekam ich einen ersten flüchtigen Eindruck von der Leidenschaft der Deutschen für Yoga. Im Jahr 2014 erlebte ich diese Leidenschaft erneut, als ich bei Spirit Yoga in Berlin und Air Yoga in München Lehrer unterrichtete. Studiobesitzerinnen wie Barbra Noh, Dagmar Stuhr, Patricia Thielemann und viele mehr weisen dort mit einem zutiefst kraftvollen Yogaunterricht und wunderbar einladenden Shalas den Weg.
Beobachter behaupten, die europäische Yogaszene hinke der amerikanischen zehn Jahre hinterher. Ich aber habe den Eindruck, die Leidenschaft der europäischen Yogis ist mit dem vergleichbar, was wir in den Vereinigten Staaten vor zehn Jahren auf dem Höhepunkt unserer großen Yogawelle erlebten. Es scheint sogar, als gingen die Europäer noch weiter, als setzten sie sich noch intensiver mit den Praktiken, Philosophien und Lebensstilen des Yoga auseinander. Nun, da sie im Begriff sind, auf den vom Yoga erleuchteten Wegen des Lichts voranzugehen, ist es besonders bezeichnend und ermutigend, dass heute in den deutschsprachigen Ländern Europas vor allem Frauen die Führung übernehmen – als Lehrerinnen, Studiobesitzerinnen, Verlegerinnen, Unternehmerinnen und vieles mehr. Yoga unterrichten soll alle Yogalehrerinnen und -lehrer bei ihrer Arbeit unterstützen und dazu beitragen, den Leserinnen und Lesern Wissen über Yoga zu vermitteln.
Warum Yoga unterrichten? Wir wissen, dass Yoga das Leben besser macht. Yoga lindert Stress und Anspannung, schenkt Energie und gleicht sie aus, kräftigt und dehnt die Muskeln, stärkt Kreislauf und Verdauung, bringt Klarheit im Denken und Fühlen, öffnet das Herz und lässt den Geist erwachen. Diese Eigenschaften inspirieren einige von uns dazu, die Praxis mit anderen Menschen zu teilen und sie auf ihrem Yogaweg zu führen. Im besten Fall tun wir dies in dem Wissen, dass sich der beste Yogalehrer in unserem Inneren befindet, dass er gesund und munter ist und mit jedem Atemzug, jedem Herzschlag, jeder Empfindung zu uns spricht, während wir dieses uralte Ritual vollziehen, um zu erwachen und das wahre Selbst zu erkennen, strahlendes Wohlbefinden zu erlangen und ein sinnerfüllteres Leben zu erschaffen. Als äußere Lehrer haben wir in erster Linie die Aufgabe, die Schüler dahin zu führen, dass sie die Stimme des inneren Lehrers vernehmen und würdigen können. Es ist ein Weg der Demut, der demütig macht.
Seltsamerweise hört man immer mehr Stimmen, die behaupten, es gebe zu viele Yogalehrer. Bei mehr als sieben Milliarden Menschen und so viel Stress, Anspannung und Leid auf der Welt brauchen wir meiner Ansicht nach sogar mehr, nicht weniger Lehrer. Wir brauchen außerdem bessere Lehrer – solche, die sich ganz der persönlichen Praxis, dem lebenslangen Lernen und der Aufgabe verschrieben haben, anderen so gute Yogaführer zu sein, wie sie nur sein können.
Um gut zu unterrichten, müssen wir die unterschiedlichen Umstände und Absichten der bunten Mischung von Schülerinnen und Schülern in unseren Stunden berücksichtigen. Das fängt damit an, dass wir Menschen, nicht Haltungen unterrichten, und es gilt vor allem dann, wenn wir die Asanas und andere Aspekte der Praxis erkunden. Das Unterrichten beginnt mit mitfühlendem Verständnis und damit, dass wir die Bedürfnisse der Schüler würdigen und dass wir sie durch unsere Anleitung auf eine nachhaltige Reise mitnehmen, auf der sie immer tiefer in ihr Inneres vordringen. Was wiederum bedeutet, dass wir immer mehr über Yoga und den Menschen lernen und uns dabei mit Themen aus den Bereichen der Philosophie und Geschichte des Yoga, aber auch der funktionellen und feinstofflichen Anatomie und verschiedenen Lehrmethoden beschäftigen müssen.
Es gibt viele Vorstellungen davon, was Yoga ist, und die Fülle von Stilen kann Neulinge verwirren oder abschrecken. Jede Theorie und jeder Stil ist für irgendjemanden von Bedeutung, aber nicht alle Theorien und Stile sind für jeden geeignet oder angenehm. Viele Lehrer folgen einem bestimmten Ansatz, und zuweilen behaupten sie auch, dies sei die beste Art des Yoga und für alle Menschen geeignet. In einigen Fällen erheben sie sogar den Anspruch, bei ihrer Methode handle es sich um die ursprüngliche Art und Weise, Yoga zu praktizieren, weshalb sie irgendwie reiner, wahrer und ultimativ richtig sei. Wir begegnen in diesem Zusammenhang faszinierenden Mythen, die den Kern vieler moderner Yogastile bilden – vom Ashtanga Vinyasa und Bikram Yoga bis hin zum Vinyasa Flow Yoga und der Yogatherapie.
Glücklicherweise erforschen inzwischen viele Gelehrte die historische Entwicklung des Yoga von den Anfängen bis zur Gegenwart und sorgen so für mehr Klarheit. Wir finden immer mehr Belege für viele verschiedene Yogaformen, die einige Tausend Jahre zurückreichen, aber keine verfügt über eine klare Abstammungs- oder Entwicklungslinie, die bis in die heutige Zeit reichen würde. Die Ausnahme sind einige philosophische Konzepte (aber sogar sie verändern sich durch Umschriften und Neuinterpretationen). Es gibt zwar viele gute ältere Werke über die Geschichte des Yoga; es scheint aber auch, als würde darin mehr Wert auf die Verbreitung der Geschichten – der Mythen – gelegt, die zwangsläufig dazu beitragen, der jeweiligen zeitgenössischen Philosophie und Praxis Gültigkeit zu verleihen, statt so gut wie möglich zu erforschen, wie sich die heutige Praxisvielfalt entwickelt hat. Wie David Gordon White in seiner jüngsten Anthologie Yoga in Practice (2011) darlegt, existieren seit jeher unterschiedliche Vorstellungen vom Yoga und sehr unterschiedliche Yogapraktiken. Einige befruchten sich gegenseitig, andere gleiten aneinander vorüber wie die sprichwörtlichen Schiffe in der Nacht. Einige sind verloren gegangen, andere wurden wiederentdeckt. Und alle – alle – zeigen Anzeichen kreativer menschlicher Neuerungen.
Aus diesem Grund wissen wir inzwischen, was viele schon lange vermutet haben: Dass Tirumalai Krishnamacharya den von ihm unterrichteten Yoga – die Grundlage des Ashtanga Vinyasa Yoga, des Iyengar Yoga, der meisten Yogatherapierichtungen und Flow-Yoga-Stile – Ende der 1920er und in den 1930er Jahren in Südindien entwickelte. Dies steht in deutlichem Widerspruch zu diversen Schöpfungsmythen wie dem, dass Krishnamacharya und Pattabhi Jois ein zerfallendes Schriftstück mit den Übungsfolgen des Ashtanga Vinyasa Yoga entdeckt hätten (die mythische Yoga Korunta, die angeblich später von Ameisen zerfressen wurde) oder dass ein sehr junger Krishnamacharya das Wissen über den Yoga vor den Toren eines Nath-Ashrams in direkter Übertragung von Nathamuni empfangen hätte.
Als wir dieses Buch schrieben, griffen wir unter anderem auf die Arbeiten von Sjoman (1996) und de Michelis (2005) zurück, um diese Fragen zu erhellen. Wir befinden uns nun an einem Wendepunkt der jüngsten Forschungen, an dem noch mehr Licht in die Geschichte des Yoga kommt. Mark Singletons Buch Yoga Body: The Origins of Modern Posture Practice (2010) fasst die Entwicklung der Asanapraxis von den Anfängen bis zur Gegenwart auf eine Weise zusammen, die den gewaltigen Beitrag Krishnamacharyas offenbart. Dabei zerstört er allerdings auch den Mythos, dass die moderne Asanapraxis eine Überlieferung der Art und Weise sei, wie in früher oder gar klassischer Zeit praktiziert wurde. Das Buch The Yoga Sutra of Patanjali: A Biography von David Gordon White (2014) dringt noch tiefer in die philosophischen Grundlagen des modernen Yoga, wirft gewaltige Fragen zur Gültigkeit der gängigen Meinung im Hinblick auf die Rolle und die Bedeutung dieses klassischen Textes auf und stellt fest, dass dieser erst in jüngster Zeit seinen höchsten Stellenwert erlangte.
Auf den Seiten dieses Buchs werden Sie zahlreiche Abstecher in die uralten Flüsse und wirbelnden Strömungen der vielfältigen und kulturell differenzierten Philosophien und Praktiken des Yoga und der Yogatherapie finden. Statt eine bestimmte Art der Praxis oder Lehre zu empfehlen, bieten wir eine große Auswahl von Werkzeugen und Einsichten, auf die Sie zurückgreifen können, wenn Sie die Schülerinnen und Schüler unterrichten, die tatsächlich in Ihren Kursen oder Einzelstunden erscheinen. Wir wollen Methoden anbieten, die zugänglich und nachhaltig sind und dadurch eine tiefere Veränderung ermöglichen, statt zu versuchen, alle Schüler in ein festes Schema zu pressen, das – wie so mancher behauptet – für alle richtig sei. Dies macht die Arbeit des Yogalehrers noch anspruchsvoller. Es verlangt, dass wir die Einzigartigkeit jeder Schülerin und jedes Schülers erkennen, verstehen und respektieren, indem wir individuelle Führung geben, geprägt von unaufhörlichem Studium und persönlicher Praxis. Wir stehen mit geistiger Unvoreingenommenheit, mitfühlendem Herzen und unserer ganzen Intelligenz bereit, um unsere Schülerinnen und Schüler so unterrichten, dass sie auf die für sie beste Art und Weise praktizieren können.
Dieses Buch gehört zu einer Reihe von Bänden, die in erster Linie für Yogalehrer entwickelt wurden. Sie besteht derzeit aus insgesamt vier Büchern: dem vorliegenden Band Yoga unterrichten: Grundlagen und Techniken, Yoga-Workouts gestalten (erschienen 2014) sowie den kommenden Bänden Yoga Adjustments: Philosophy, Principles and Techniques...