Klang ist ein Lebenselixier, und Mantras sind ein hervorragendes Stärkungsmittel für jeden Tag. Sie bieten die Möglichkeit, Lebensfreude, Dankbarkeit, Liebe, Verbundenheit und Seelenwahrheit schöpferisch auszudrücken und dadurch zu vermehren. Sie helfen jedoch auch, sich im Chaos zu orientieren, schwierige Zeiten durchzustehen und dabei zu wachsen. Das mag sich sowohl auf persönliche Herausforderungen und Schicksalsschläge als auch auf gemeinschaftliche Prozesse von Wandlung und Veränderung beziehen.
Für Buddhisten und Hinduisten wiederholen sich in schier unermesslich langen Zeiträumen verschiedene Weltzeitalter (yuga). Dieser Vorstellung zufolge leben wir derzeit im krisenhaften, bedrohlichen Kali-Yuga. Doch trotz all der großen Probleme, denen die Menschen in diesem dunklen Zeitalter ausgesetzt sind, ist auch besondere Hilfe nahe. So heißt es, dass gerade im Kali-Yuga das Wiederholen von Mantras schnell und mühelos Wirkung zeigt. Bereits das Rezitieren von heiligen Namen helfe. Das Mantra scheint in diesem Zusammenhang zu den ersten Lichtstrahlen zu gehören, die in finsterster Nacht geboren werden, denn nach dem Kali-Yuga folgt Krta-Yuga, das Goldene Zeitalter der Wahrheit. Sein Keim ist in diesem großen Kreislauf der Weltzeitalter bereits in der Dunkelheit des Kali-Yuga zu finden.
Das Mantra ist also ein geistiges Werkzeug, das der allgemeinen Zeitqualität entspricht. Es kommt vor allem heute dem Bedürfnis vieler Menschen im Westen entgegen, sich unmittelbar und selbstständig mit der göttlichen Quelle und der Harmonie des Universums zu verbinden, mit dem Ton als einzigem Vermittler. Über diese vergleichsweise einfache Form einer spirituellen Praxis kann jeder Frieden und die nötige innere Sammlung finden, um mit alltäglichen Schwierigkeiten gelassen fertig zu werden – von den langfristigen Auswirkungen der Bewusstseinserweiterung, Wandlung und Selbstverwirklichung ganz zu schweigen.
Die Vorzüge des Mantras
Für westliche Menschen, die zum ersten Mal mit dem Mantra in Berührung kommen, wird es nicht ganz einleuchtend sein, worin es sich vom Gebet oder der Affirmation unterscheidet und worin seine speziellen Vorzüge liegen. In der Tat ist es schwer, klare Unterscheidungen zu treffen, zumal ein Mantra wie das Gayatri wie ein Gebet gesprochen werden und ein Gebet wie das Ave Maria als Mantra dienen kann. Zum Glück muss sich niemand ausschließlich für oder gegen etwas entscheiden, denn Mantra, Gebet und Affirmation haben – wie alles – alle ihren Platz und ihren Sinn.
Gebet
Im Christentum gibt es verschiedene Formen des Gebets für Anbetung, Lobpreisung, Buße, Dank und Bitte. Die erste Erwähnung des Gebets im Alten Testament –»Damals begann man den Namen des Herrn anzurufen« (Genesis 4,26) – bezieht sich auf die Anbetung oder Anrufung Gottes. Sie wird auch als die reinste, höchste Form des Gebets bezeichnet, während das Bittgebet als die niedrigste Form gilt – obwohl Jesus die Menschen ausdrücklich dazu auffordert, Gott in seinem Namen um alles zu bitten.
Auch Mantras sind Anrufungen und Lobpreisungen. In der Regel sind sie aber nicht mit der Erfüllung von materiellen Wünschen und Zielen verbunden. Vielmehr geht es beim Mantra als einem heiligen Instrument darum, die schöpferische und auch läuternde, reinigende Kraft des Klangs wirken zu lassen und sich mit einem höheren Bewusstsein in Resonanz zu bringen. Wenn sich dann Wünsche erfüllen oder sich Dinge zum Positiven wenden, geschieht das im größeren Zusammenhang der Selbstverwirklichung und Rückbindung (religio) an eine höhere Ordnung. Das Mantra aktiviert Seelenkräfte, die Wunscherfüllung in einem weit umfassenderen Maß möglich machen, als es für das in einem viel enger gesteckten Rahmen handelnde Ego planbar und überschaubar wäre.
Deutlich wird dies am Beispiel des immerwährenden Gebets in der Tradition des Johannes Cassian. Dabei wird eigentlich eine Bitte formuliert: Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner. Doch dadurch, dass das sehr offen gehaltene Gebet wie ein Mantra so viele Male inbrünstig rezitiert wird, entfaltet es eine intensive Klangwirkung, sinkt in immer tiefere Schichten von Körper, Geist und Seele und verändert den Menschen langfristig in einem ganzheitlichen Sinn. Der Betende nimmt nicht vorweg, in welcher Form ihm die Gnade zugute kommen soll, sondern er öffnet sich für eine innere Wandlung, die sich nach außen in vielen Formen zeigen kann. Im Frühchristentum wurden außerdem an Christus gerichtete Stoßgebete wie Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids wie Mantras rezitiert.
Das christliche Gebet wird auch als ein Gespräch mit Gott verstanden. Diese Vorstellung nährt allerdings oft das Gefühl der Abgetrenntheit, der Dualität: Hier ich schwacher Mensch, dort der allmächtige Gott. Demgegenüber ist das Mantra eine Hilfe, sich selbst als nicht getrennt von Gott zu erleben und die Einheit allen Seins zu erkennen. In Indien, der Heimat des Mantras, wird betont, dass das Mantra nicht an die Gottheit gerichtet ist, sondern die Gottheit selbst darstellt. Durch besondere Rezitation wird der göttliche Aspekt eines Mantras im Inneren des Menschen erweckt und erfahren. Resonanz wird hergestellt, und die eigene göttliche Natur und Machtfülle tritt mit der Zeit immer strahlender hervor. Auf dem Weg des Mantras heben wir somit Polarisierungen auf. Himmel und Erde können eins werden.
Affirmation
Die verschiedenen Richtungen des positiven Denkens und auch ganzheitliche Techniken zur Klärung von zerstörerischen Mustern wie zum Beispiel die Kinesiologie oder die Psycho-Neuroimmunologie arbeiten mit Affirmationen. Es sind suggestive, aufbauende, bewusstseinserweiternde Leitsprüche, die an die Stelle von einschränkenden Denkgewohnheiten und Werturteilen, emotionalen Verwicklungen und krankmachenden Überzeugungen treten sollen. Je weiter gefasst eine Affirmation ist, zum Beispiel Ich bin Liebe, desto größer ist ihre Nähe zum Mantra. Je spezieller aber eine Affirmation auf die persönliche Lebenssituation zugeschnitten ist, um den eigenen Willen oder bestimmte Vorstellungen durchzusetzen, desto weniger besitzt sie jene Seelentiefe, die das Mantra auszeichnet.
Mantras sind zwar ebenfalls eine Art Leitspruch und Lebensmotto, um Begrenzungen zu überwinden und sich an höheren Wahrheiten zu orientieren, aber dies geschieht nicht durch »vernünftige«, mentale Anstrengungen oder Absichtserklärungen, sondern über die besondere Dynamik von Herz- und Seelenkraft sowie das innerste Vertrauen, dass unter der Regie der Seele das Richtige geschehen wird. Mantras sind in diesem Sinn ein Ruf des Herzens, der durch das Herz beantwortet wird.
Sich vom Mantra öffnen und tragen lassen
Viele Vorzüge des Mantras wurden schon erwähnt und erklärt. In einer ersten Bilanz lässt sich zusammenfassend sagen:
Das Mantra …
regt die spirituelle Entwicklung an, indem es über die Grenzen des Ego hinaus mit dem göttlichen Kern in Resonanz tritt und Seelenenergie freisetzt;
bewirkt eine energetische Aufladung und Schwingungserhöhung und schenkt dadurch innere Stabilität und Freude bis hin zu ekstatischer Glückseligkeit;
macht den ganzen Menschen lichtvoller und leichter;
ist eines der einfachsten und stärksten Bindeglieder zwischen materieller, irdischer und geistiger, himmlischer Sphäre;
ist eine von jedem zu erlernende und praktizierende Konzentrationsübung, die schnell den Zugang zu höheren Ebenen erschließt;
öffnet für die feinere, höhere, »übersinnliche« Wahrnehmung;
...