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Der Lohnklau

Warum wir nicht verdienen, was wir verdienen und wer daran schuld ist

AutorMark Schieritz
VerlagVerlagsgruppe Droemer Knaur
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783426435205
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Das Verhältnis von Arbeit und Kapital hat sich seit den siebziger Jahren verschoben. Arbeit wird heute deutlich geringer honoriert als Kapitalbesitz. Deshalb können wir uns häufig den Lebensstil unserer Eltern nicht leisten, deshalb sind viele Arbeitnehmer trotz Vollzeitjobs auf staatliche Hilfe angewiesen, deshalb fällt es Millionen Menschen schwer, eine substanzielle Alterssicherung anzusparen. ZEIT-Redakteur Mark Schieritz macht deutlich, wie dieses Missverhältnis das gesellschaftliche Gleichgewicht und die wirtschaftliche Stabilität bedroht.

Mark Schieritz ist stellvertretender Ressortleiter des Politikressorts der Zeit in Berlin. Nach dem Studienabschluss an der London School of Economics begann seine Karriere bei der Financial Times Deutschland, für die er sieben Jahre lang tätig war - unter anderem als Leiter der Finanzmarktredaktion. Mark Schieritz wurde mit dem Ernst-Schneider-Preis der Industrie- und Handelskammern und dem Medienpreis der Keynes-Gesellschaft ausgezeichnet. Bei Droemer Knaur erschienen die Bücher Die Inflationslüge und Der Lohnklau.

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Leseprobe

Wohlstand für alle


Ich bin so weit«, schreibt Karl Marx im Frühling 1851 aus London an seinen Freund und Förderer Friedrich Engels, »dass ich in fünf Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig bin.« Tatsächlich sollte es noch 16 Jahre dauern, bis der erste Band seines Hauptwerks »Das Kapital« endlich erschien. Er umfasst beinahe 1000 Seiten. Band zwei und drei bleiben unvollendet. Die »ökonomische Scheiße« war komplizierter als gedacht und das Vorhaben vielleicht zu ambitioniert: Nichts Geringeres als die innere Logik der wirtschaftlichen Ordnung seiner Zeit wollte Marx entschlüsseln, das »Naturgesetz« des Kapitalismus. Marx war der festen Überzeugung, dass die Arbeiter ihrem Elend nicht entkommen können und der Kapitalismus sich am Ende selbst zerstört. In dem wenige Jahre zuvor veröffentlichten Buch »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« beschreibt Engels, wie die Oberschicht »aus der Not der Arbeiter sich direkt bereichert« und dabei nichts wissen will vom Elend der »besitzlosen Millionen«.

Solche Sätze geben die Verhältnisse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gut wieder. Doch so unmenschlich die Arbeitsbedingungen damals auch waren: In jenen Jahren wurden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass erstmals in der Menschheitsgeschichte eine breite Masse Zugang zu materiellem Wohlstand erhielt. In den darauffolgenden Jahrzehnten stiegen die Einkommen der Arbeiter so stark an, dass sich die Diagnose einer Verarmung der arbeitenden Klasse nicht mehr aufrechterhalten ließ.

Um die gesellschaftliche und ökonomische Tragweite der industriellen Revolution zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, dass materielle Armut für den größten Teil der Erdbevölkerung über Jahrhunderte hinweg den Alltag prägte. Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Wirtschaft wächst – und wenn sie das wie in den Jahren der Finanzkrise einmal nicht tut, ist die Aufregung groß. Aber wirtschaftliches Wachstum ist ein vergleichsweise neues Phänomen. Nach Berechnungen des britischen Wirtschaftshistorikers Angus Maddison erhöhte sich die weltweite Wirtschaftsleistung pro Kopf gerechnet zwischen Christi Geburt und dem Ende des 16. Jahrhunderts praktisch nicht. Was durch technologische Neuerungen an Wohlstand zusätzlich geschaffen wurde, sei durch das Wachstum der Bevölkerung zumeist wieder aufgezehrt worden. Diese Vorstellung geht auf den britischen Bevölkerungsexperten Thomas Malthus (1766–1834) zurück. Malthus verfasste die erste wissenschaftliche Abhandlung über die Bevölkerungsentwicklung. Er vertrat die These, dass die Bevölkerung so schnell zunehme, dass die Nahrungsmittelproduktion nicht Schritt halten könne. Deshalb sei der größte Teil der Menschheit zu einem Leben in Armut verdammt. Der Wirtschaftswissenschaftler Gregory Clark hat in Anlehnung an diese Theorie sogar die – nicht unumstritten gebliebene – Vermutung geäußert, dass sich der Lebensstandard in England am Vorabend der Industrialisierung nicht wesentlich von dem der Steinzeit unterschieden habe.

Malthus erwies sich als schlechter Prophet. Er veröffentlichte seinen Aufsatz über die Armut im Jahr 1798 – und wenige Jahre später explodierte das Wachstum geradezu. In Großbritannien erhöhte sich das um die Inflation bereinigte Bruttoinlandsprodukt zwischen 1820 und 1920 im Schnitt um zwei Prozent pro Jahr. Das entspricht pro Kopf gerechnet einem jährlichen Anstieg von 1,1 Prozent. Das klingt zunächst einmal nach nicht sehr viel, doch über einen längeren Zeitraum hinweg summieren sich auch kleinere Wachstumsraten zu einem gewaltigen Wohlstandsschub. Denn mit jedem Jahr wird die Basis größer, von der aus die Wirtschaft weiterwächst. Bei einer Zuwachsrate von zehn Prozent etwa würde aus einem Einkommen von 1000 Euro nach einem Jahr ein Einkommen von 1100 Euro werden. Nach dem zweiten Jahr hätte sich der Betrag aber nicht etwa auf 1200 Euro, sondern auf 1210 Euro erhöht. Nach dem dritten Jahr wären es bereits 1331 Euro. Wegen dieses Basiseffekts hat sich das Einkommen je Einwohner in Großbritannien zwischen 1820 und 1920 annähernd verdreifacht, während sich die allgemeine Wirtschaftsleistung sogar versechsfachte.

© World Economics, Bruttoinlandsprodukt gemessen in internationalen Dollar nach Geary/Khamis

Ein derartiger Wohlstandszuwachs verändert eine Gesellschaft von Grund auf. Die Menschen können ja nicht nur über mehr Güter verfügen: Sie erhalten Zugang zu Bildungseinrichtungen und können vielleicht sogar Geld für schlechte Zeiten zurücklegen. Länder ohne wirtschaftliches Wachstum tendieren auch sozial zur Stagnation. Der Wohlstand ist bereits verteilt, und es braucht schon eine Revolution, um die gesellschaftlichen Verhältnisse nennenswert zu ändern. Wer reich ist, bleibt reich, und wer arm ist, bleibt arm. Wenn aber Jahr für Jahr zusätzliche Reichtümer geschaffen werden, dann steigen die Aufstiegschancen für die Unterschicht. Zugleich müssen die Mitglieder der Oberschicht damit rechnen, von den aufstrebenden Gruppen verdrängt zu werden. Die Zunahme der Massenkaufkraft hat aber auch Folgen für die Organisation des Staatswesens. Im Zuge der Industrialisierung forderten die neu entstehenden Mittelschichten immer lautstärker das Recht auf politische Teilhabe ein und verlangten nach einem Schutz ihres hart erarbeiteten Eigentums vor der Willkür des Staates. In vielen Ländern ging die Entwicklung des Kapitalismus Hand in Hand mit der Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaat.

Karl Marx war einer der wenigen, die die gesellschaftliche Dimension des wirtschaftlichen Wachstums schon früh in ihrer ganzen Bedeutung erfasst haben. Im »Kommunistischen Manifest« schrieb er, dass im Kapitalismus »alles Ständische und Stehende verdampft« und die Menschen gezwungen seien, »ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen«. Und ein überzeugter Liberaler wie Ludwig Erhard wollte »über eine breitgeschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig überwinden«. Der freie Markt ist bei all seinen Defiziten eine Triebfeder der Emanzipation, dadurch hebt sich die Marktwirtschaft von anderen gesellschaftlichen Organisationsformen ab.

Das Pro-Kopf-Einkommen ist eine rein rechnerische Größe. Die gesamte Wirtschaftsleistung eines Landes wird lediglich durch die Zahl der Einwohner geteilt. Für sich genommen, sagt das noch wenig über die Lebensverhältnisse aus, weil ja keine Aussage darüber getroffen wird, wie dieses Einkommen verteilt ist. Es ist theoretisch vorstellbar, dass einer alles verdient und alle anderen nichts. Es wäre grob irreführend, eine solche Gesellschaft als wohlhabend zu bezeichnen. Tatsächlich bekamen die einfachen Arbeiter zunächst wenig vom Aufschwung der Wirtschaft mit. Bis in die vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein stagnierten die Realeinkommen, also die um den Kaufkraftverlust durch die Inflation bereinigten Einkommen. Die Profite der Fabrikbesitzer dagegen schossen in die Höhe. Als das »Kommunistische Manifest« im Jahr 1848 erschien, war die Diagnose einer Verelendung der Arbeiterklasse also durchaus durch Fakten gestützt. Die Kapitalisten vereinnahmten den von den Arbeitern geschaffenen Mehrwert für sich – genau, wie es auch Friedrich Engels in seiner Analyse zur Lage der Arbeiterklasse geschrieben hatte.

Der Fehler von Marx und Engels bestand jedoch darin, von der Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen – und sie hatten sich noch dazu einen äußerst unglücklichen Zeitpunkt ausgesucht. Denn kurz nach dem Erscheinen des Buches geschah etwas Ungewöhnliches: Die Reallöhne begannen zu steigen. Zwischen 1830 und 1860 legten sie im Schnitt jährlich um 0,86 Prozent zu und zwischen 1860 und 1900 sogar um 1,61 Prozent pro Jahr – und so ging es in den Jahren darauf weiter. Bis ins 20. Jahrhundert hinein stiegen die Löhne in etwa im Gleichklang mit der allgemeinen Wirtschaftsleistung. Die Arbeiter profitierten auf einmal von der Zunahme des wirtschaftlichen Wohlstands. Der britische Wirtschaftshistoriker Robert Allen hat deshalb vorgeschlagen, die Zeit der stagnierenden Löhne zu Beginn der Industrialisierung als »Engelspause« zu bezeichnen. Seiner Ansicht nach war die von Marx und Engels beobachtete Ausbeutung der Arbeiterklasse nur ein zeitlich begrenztes Phänomen. Es prägte die gesellschaftlichen Verhältnisse in der ersten Hälfte des...

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