Die Formen der Aktivität
Das Zhuangzi ist zum Teil das Werk eines Philosophen, eines Menschen also, der selbstständig denkt und von seiner eigenen Erfahrung ausgeht, der auch bedenkt, was andere sagen, und der einen reflektierten Gebrauch von der Sprache macht. Es war notwendig, dies an den Anfang zu stellen, weil uns fast nichts über die Person Zhuangzis bekannt ist. Wir sind auf die Texte angewiesen und werden sein philosophisches Denken darin nicht finden, wenn wir nicht danach suchen.
Wittgenstein hielt die Beschreibung, anstelle der Erklärung, für den eigentlich philosophischen Akt, besonders dann, wenn sie die Grundlagen unserer Erfahrung, in meinen Worten: das unendlich Nahe und fast Unmittelbare, festzuhalten sucht. Seine Beschreibungen sind aber oft befremdlich, weil er notwendigerweise auf große Ausdrucksschwierigkeiten stieß. Die Beschreibung steht auch im Mittelpunkt der Phänomenologie, aber die langwierige Prosa der Phänomenologen vermittelt selten das Gefühl, dass sie an die Sachen selbst rührt. Zhuangzi ist da ganz anders. Er drückt sich knapp aus, hält gerne inne. Er mutet auch oft spekulativ, ja waghalsig an, wenn er mit Wonne dem Überschwang seiner Imagination folgt. Wenn ich dennoch setze, dass sein Werk im Wesentlichen eine Beschreibung der Erfahrung ist, ja der allgemeinen Erfahrung, so formuliere ich eine These, deren Tragfähigkeit ich zu beweisen habe. Die kurzen Analysen, die ich bisher geboten habe, genügen dazu nicht. Meine Beweisführung muss sich vertiefen.
Der Koch, der Wagner und der Schwimmer waren aktive Menschen. Ihr Handeln wurde uns in eindrücklicher Weise beschrieben. Alle drei unterbrachen ihr Tun, um darüber zu sprechen. Alle drei beschrieben die Veränderungen, die ihre Aktivität erfahren hatte, während sie nach und nach zur Meisterschaft gelangten. Die so beschriebene Aktivität steht in einem deutlichen Kontrast zu den Momenten der Erfahrung, wie sie die Phänomenologen beschrieben haben, hauptsächlich solche der Empfindung und der Wahrnehmung, manchmal auch der Erinnerung und der Reflexion. Der Phänomenologe ist ein Mensch, der sitzt und zu erfassen sucht, was vor sich geht, wenn er seinen Tisch, sein Blatt Papier, das offene Fenster, die Mauer des gegenüberliegenden Hauses sieht – oder der die Augen schließt und beobachtet, was geschieht, wenn er an diese Dinge denkt. Was er beschreibt, sind Momente stiller und bewusster Beziehung zu sich selbst. In den drei Dialogen Zhuangzis ging es dagegen um eine aktive Aktivität (wenn ich so sagen darf), die man unterbrechen musste, um darüber sprechen zu können. Es ging um die Wandlungen dieser Aktivität und um die mit ihnen einhergehenden Modifikation der Beziehungen zwischen – nicht dem Bewussten und dem Unbewussten – sondern besser: dem bewussten und dem unbewussten Handeln.
Um diese Phänomene genau zu erfassen, habe ich im Französischen von »régimes de l’activité« und »changements de régimes« gesprochen. Ich dachte dabei an einen Motor, dessen Getriebe in verschiedenen Gängen unterschiedliche Leistungen erbringt. Im Deutschen muss ich mich damit begnügen, von den »Formen« unserer Aktivität zu sprechen, werde aber in Anlehnung an das ursprüngliche Bild vom »Umschalten« von der einen in die andere reden. Ich bin der Ansicht, dass Zhuangzi in den bereits untersuchten und den noch zu analysierenden Texten sein Augenmerk hauptsächlich auf die Formen unserer Aktivität und auf das Umschalten von der einen in die andere richtet.
Dieses Umschalten ist uns vertraut, wir praktizieren es dauernd, beobachten es aber selten und machen es nie zum Gegenstand ernsthafter Reflexion. Es kommt uns dafür nicht bedeutsam genug vor. Diese Geringschätzung scheint mit dem Vorrang zusammenzuhängen, den wir der bewussten und anhaltenden Beziehung zu uns selbst einräumen, von der ich sprach, besonders in der Philosophie. An diese Geringschätzung denkt Julien Gracq, wenn er in En lisant, en écrivant notiert: »Fast alle Denker, alle Dichter des Westens bevorzugen die Ideen, die Bilder, welche den wachen Geisteszustand beschreiben, in dem sich der Geist von der Welt abtrennt, und vernachlässigen auf nicht weniger systematische Weise jene, die das Einschlafen, die Wiedervereinigung betreffen. Und bei diesem Wachen handelt es sich fast immer um einen Zustand des schon Erwachtseins und nicht so sehr um einen Übergang. Wie wenig Aufmerksamkeit zollen doch die westliche Wissenschaft und Literatur dem entstehenden und vergehenden Bewusstsein«.16 Julien Gracq sieht das ganz richtig, bleibt aber in seinem Wortgebrauch der engen Perspektive, die er kritisiert, verhaftet. Er spricht von einem »entstehenden« und »vergehenden« Bewusstsein, als könnte es nur als Ganzes erscheinen oder verschwinden, nicht aber sich wandeln. Julien Gracq kennt natürlich Montaignes denkwürdige Beschreibung seines Sturzes vom Pferd, der darauffolgenden Begegnung mit dem Tod und seiner langsamen Rückkehr zum Leben.17 Er vergisst auch Auf der Suche nach der verlorenen Zeit nicht, das mit dem Hinabsinken in den Schlaf beginnt und am Ende in einem Moment außergewöhnlicher Verschmelzung von Empfindung und Erinnerung gipfelt.18 Diese Ausnahmen bestätigen die Regel. Im Ganzen hat Julien Gracq Recht. Aus der konventionellen philosophischen Sicht erscheint das Umschalten, für das sich Zhuangzi interessiert, belanglos. Aus der Sicht Zhuangzis ist es hingegen besonders bedeutsam.
Beginnen wir mit einer etwas ausgefallenen Form der Aktivität, der Trunkenheit. Von ihr handelt der folgende kurze Text:
Wenn ein Betrunkener von einem Wagen fällt, stirbt er nicht, selbst wenn der Wagen schnell fährt. Er hat die gleichen Knochen und Gelenke wie andere Leute auch, aber er verletzt sich nicht, weil die handelnde Kraft in ihm ganz ist. Er wusste nicht mehr, dass er auf einem Wagen reiste, und bemerkte nicht, dass er fiel. Weder Tod noch Leben, weder Überraschung noch Angst dringen in ihn ein, sodass er nicht erschrickt, wenn er an etwas stößt. Wenn man durch den Wein eins werden kann, um wie viel mehr kann man durch den Himmel eins werden.19
Ich weiß nicht, ob die Erfahrung bestätigt, was Zhuangzi hier erzählt, und beschränke mich darauf, festzuhalten, was er zu glauben scheint. Für ihn ist die Trunkenheit eine Form von Unbewusstheit, die es einem erlaubt, mit ganzem Wesen zu handeln und dadurch schadlos zu bleiben. Der Text spielt mit der Doppelbedeutung von quan, das sowohl »sicher« als auch »ganz« bedeutet. Der Betrunkene ist heil und sicher, weil seine »handelnde Kraft ganz ist«, qi shen quan ye. Ich übersetze mit »handelnde Kraft« das Wort shen, das ich in der Erzählung vom Koch mit »Geist« wiedergegeben habe. Der entscheidende Satz ist der letzte: »Wenn man durch den Wein eins werden kann, um wie viel mehr kann man durch den Himmel eins werden!«20
Wir begegnen hier zum ersten Mal dem Wort »Himmel«, tian, das Zhuangzi viel häufiger verwendet als das Wort dao und das für ihn eine zentralere Bedeutung hat. Tian ist einer der ganz zentralen Begriffe seines Denkens. Soweit ich das beurteilen kann, hat er ihn selbst gebildet. Er bezeichnet, so können wir nun sagen, eine Form der Aktivität – eine Form, in der die Aktivität besonders wirksam ist; in der sie (der Gleichsetzung gemäß, die uns der Schwimmer lehrte) sowohl spontan als auch notwendig ist; in der sie ganz oder eins ist, weil sie der Vereinigung aller Fähigkeiten und Kräfte entspringt, die wir in uns haben, den uns bekannten und den uns unbekannten. Diese Form von Aktivität ist für Zhuangzi eine unerschöpfliche Quelle des Staunens und der Reflexion.
Spinoza zeigt für sie ein ähnliches Interesse. So schreibt er in einem der wichtigsten Skolien seiner Ethik, in dem er die Illusion des cartesianischen freien Willens aufzeigt und ihr den Determinismus entgegenhält, dem wir unterworfen sind: »Denn bisher hat noch niemand den Bau des Körpers so genau erkannt, dass er alle seine Funktionen erklären konnte, ganz davon zu schweigen, dass man bei den Tieren vieles beobachtet, was die menschliche Weisheit weit übersteigt, und dass die Nachtwandler im Schlafe vieles tun, was sie wachend nicht wagen würden. Woraus zur Genüge hervorgeht, dass der Körper nach den Gesetzen seiner Natur vieles zu vollbringen vermag, worüber sein eigener Geist sich wundert.«21 Spinoza und Zhuangzi begegnen sich hier, was kein Zufall ist. Es besteht zwischen dem Denken der beiden eine große Affinität.
Um weiter Zhuangzi zu folgen, kehren wir zum Begriff tian, Himmel, zurück. Dieser wird erst verständlich, wenn man ihn mit einem anderen Begriff in Beziehung bringt, den Zhuangzi ihm entgegensetzt: ren, der Mensch, das Menschliche. Hier eine Stelle aus einem Dialog, in der der eine durch den anderen definiert wird. Sie findet sich am Ende des langen Dialogs zwischen dem Grafen des Flusses und dem Herrn des Nordmeeres, der das Kapitel 17...