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E-Book

Männer, die in Schränken sitzen

Panik, Zwang und andere Störungen

AutorChristof Kessler
VerlagEichborn AG
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783732513277
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR

Herr Freytag befürchtet, 'nicht mehr alle Tassen im Schrank zu haben', und wird ausgerechnet in einem Schrank geheilt. Einem Lokomotivführer kommen die Gefühle abhanden und erst, als er auf rasende Züge starrt, wird im klar, weshalb. Herr Bühler schläft neuerdings im Stehen, und ein anderer Patient überhaupt nicht mehr.

Christof Kessler erzählt äußerst unterhaltsam und lehrreich von Menschen, deren Leben plötzlich auf den Kopf gestellt scheint und die erkennen müssen, dass es nicht die Welt, sondern das eigene Ich ist, das sich verändert hat.

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Leseprobe

WASSERKOPF


Wer ist diese Frau? Warum schreit sie seinen Namen? Wieder ruft sie ihm etwas zu: »Wie sehen Sie denn aus, Herr Müller?«

Was will sie nur, sie ist doch nicht seine Frau. Oder doch?

Seine Frau ist aber nicht so riesig, und sie schreit auch nicht.

Wie heißt sie noch mal, seine Frau?

Egal, er muss doch gehen und abkassieren, die Miete ist fällig.

Er hat Kopfschmerzen, starke Kopfschmerzen.

Drüben in der Küche liegen die Schmerztabletten in einer Kristallschale. Er muss aufstehen und sie holen.

Da hört er wieder die Stimme der riesigen Frau: »Herr Müller, bleiben Sie ruhig liegen.«

Doch er muss in die Küche gehen, die Kopfschmerzen sind ja nicht auszuhalten.

Wo geht es noch mal in die Küche? Na, er wird den Weg schon finden.

Da, der Türpfosten, aber jetzt hält diese Frau ihn fest, abrupt macht er eine abwehrende Bewegung, der Nachtschrank fällt um, er stürzt mit zu Boden, die Frau schreit auf.

Wie heißt sie nur? Seine Frau ist doch nicht so laut. »Mama, Mama« haben die Kinder sie immer gerufen.

»Mama? Sie sind ja nicht ganz gescheit«, schreit ihm die Frau so laut ins Ohr, dass es klingelt, unerträglich laut.

Er muss sich die Ohren zuhalten und hebt die Arme.

Da kommt plötzlich noch eine. Jetzt wird er aber wütend, warum lässt man ihn nicht in die Küche gehen, um seine Tabletten zu holen?

Zwei Frauen halten ihn nun fest. Früher wäre das kein Problem gewesen. Er war ein starker Mann; mit zwei Weibsbildern wäre er im Handumdrehen fertig geworden.

Er sieht sich die Frauen noch einmal an. Plötzlich klärt sich etwas in seinem Kopf. Nein, Elfie ist nicht dabei. Aber Elfie wird kommen und ihn trösten. Immer wenn er ärgerlich wird, flüstert sie in sein Ohr: »Lieb sein.« Manchmal nörgelt er mit Absicht, um ihr »Lieb sein« zu hören.

Aber wo ist Elfie? Warum ist er allein? Warum sind alle weg außer diesen Weibsbildern?

Die große Dicke riecht nach Achselschweiß, und die andere nach Nikotin. Dabei hat er das Rauchen in seinen Häusern schon vor langer Zeit verboten und vermietet nur an Nichtraucher.

Er versucht aufzustehen, wird jedoch erneut niedergerungen.

Ein durchdringender Ton schrillt durchs Zimmer.

Seltsam, denkt er. Seine Mieter haben doch nicht so gellende Klingeln, sondern angenehm tönende, manchmal auch nur welche, die einen Gong erklingen lassen.

»Hallo, ich komme wegen der Miete. Ist mit der Wohnung alles in Ordnung?«

»Guten Tag, kommen Sie rein. Der Wasserhahn in der Küche leckt ein wenig, sonst ist alles ok. Wollen Sie ein Schnäpschen?«

Die Dicke mit dem Achselschweiß sitzt jetzt auf seinem Brustkorb, ihm verschlägt es den Atem.

»Ich hab ihn, ich hab ihn, hol die Spritze!«, ruft sie.

Nein, nur keine Spritze, schießt es ihm durch den Kopf, dort in der Küche ist doch die Kristallschale seiner Mutter, da sind die Schmerztabletten drin, man braucht nur hineinzugreifen …

Die Eine hält seinen Kopf fest, das tut weh, na, warte.

»Der beißt!«, schreit sie auf. »So eine Boshaftigkeit! Ich brauche Tetanus!«

Verzweifelt keucht er unter dem Gewicht der Frau. Wo ist Elfie bloß? Immer ist sie da gewesen, nur jetzt nicht.

»ELFIEEE!«

Er wird auf den Bauch gedreht, an seiner Pobacke wird es kalt, dann spürt er den Stich. Wo ist Elfie denn nur?

Gunter soll kommen. Er muss ihn fragen, wo Elfie ist. Warum lässt man ihn nicht einfach in die Küche? Dort ist die Tür, er kann doch einfach hingehen.

Es riecht nach warmer Suppe und Tomate. Sein Schlafanzug klebt am Körper, da ist etwas in seinem Haar, sind das Essensreste?

Die Frauen versuchen ihn ins Bett zu heben, er stößt mit dem Kopf gegen die Kante des Nachttischs. Der Kopfschmerz wird schlimmer.

»Gunter?«, ruft er. Gunter und Elfie: Die beiden müssen ihm helfen.

Wenn Gunter nur nicht immer so schnell wütend werden würde.

Die Frauen haben ihn nun auf das Bett gelegt und ziehen ihm den Schlafanzug aus. Seine Augenlider werden schwer. Die Spritze … Immer wollen sie, dass er schläft, er soll immerzu schlafen. Sie werden Mutters blaue Kristallschale stehlen, denkt er verzweifelt. Dann verschwindet alles um ihn herum.

Nach drei Wochen Urlaub fiel es mir schwer, zurück in den Alltag zu finden. Der Ärger begann schon auf dem Krankenhausparkplatz, alles war voll, und neben dem Platz, wo ich normalerweise parkte, prangte ein Schild: Feuerwehreinfahrt. Wer hier parkt, wird kostenpflichtig abgeschleppt.

Morgen komme ich mit dem Fahrrad, nahm ich mir vor und wuchtete die Aktenordner, die ich von daheim mitgebracht hatte, aus dem Fond meines Wagens.

Am Eingang zur Klinik stand Dietmar Krone, ein ambulanter Patient mit Schmerzen in den Beinen, der immer wieder die Sprechstunde aufsuchte. Er rauchte einen Zigarillo.

»Hallo, Herr Professor! Wussten Sie schon? Ich soll am Schultergelenk operiert werden.«

»Was haben Sie denn am Schultergelenk?«, fragte ich aus reiner Höflichkeit.

»Verschleiß. Die Röntgenbilder sehen übel aus, muss dringend gemacht werden.«

Er drückte sorgenvoll den qualmenden Zigarillo in einen metallenen Aschenbecher.

»Die Schmerzen in den Beinen habe ich übrigens immer noch, da haben Sie mir nicht viel helfen können«, fügte er dann vorwurfsvoll hinzu.

Ich wünschte ihm viel Glück und ging die Gänge entlang zu meinem Büro.

Noch vor zwei Tagen war ich auf Hiddensee gewesen: Sonne, Strandkorb, Lesen, kein Stress, keine Hektik. Die einzigen Probleme, die gelöst werden mussten: Welcher Lichtschutzfaktor ist angeraten, und wo könnte man zu Abend essen?

Wieder in der Klinik fühlte ich mich wie in ein anderes Universum gebeamt: das graue Linoleum, die von den Krankentransporten abgeschabten Wände, der Geruch nach Bockwurst vom Imbissbereich.

Vor der Tür meines Büros saß ein Mann in ockerfarbenem Sakko und mit einem auffällig bunten Schlips, auf dem gelbe, blaue und rosafarbene Entchen zu sehen waren. Mit dem kleinen, sorgenvoll zerfurchten Gesicht, in dem sich ein permanentes Lächeln andeutete, sah er aus wie der Zauberer aus einer Kindersendung.

Als er mich um die Ecke biegen sah, stand er auf und hielt mir seine Visitenkarte entgegen: »Mahnke! Hugo Mahnke von der Firma EEG-Electronics. Guten Morgen, Herr Professor! Ich wollte es nicht versäumen, Sie gleich als Erster nach ihrem Urlaub zu begrüßen. Gleichzeitig möchte ich Ihnen unser mobiles Multikanal-Aufzeichnungsgerät vorstellen.«

Ich konnte es nicht fassen. Was für ein Morgen.

»Das freut mich, Herr Mahnke, aber lassen Sie mich erst einmal mein Büro betreten. Wenn Zeit ist, können wir gerne miteinander reden.«

Ich öffnete die Tür zum Sekretariat, und Frau Sommer schaute unwillig hoch, so als würde ich stören. Klar, sie war drei Wochen lang alleine gewesen und hatte ihre Zeit mit niemandem teilen müssen. Auch für sie war meine Rückkehr eine Umstellung.

Auf meinem Schreibtisch erwarteten mich Berge von Unterschriftenmappen und Krankenakten. Das war die dunkle Seite des Urlaubs: Die Arbeit blieb eben einfach liegen.

Ich fuhr den Rechner hoch und begann, die E-Mails durchzuarbeiten.

Montags machte ich dann gemeinhin Visite auf der gemischten Station im dritten Stockwerk, C3 genannt, also drückte ich den Knopf »Sekretariat« und sagte Bescheid, dass ich dort zu finden sei.

Auf der Station C3 lagen Patienten mit Demenz, Parkinson und anderen Alterserkrankungen. Zimmer für Zimmer gingen Frau Dr. Drilling, eine kleine, zarte Person, die vor Energie nur so strotzte, die Patienten durch.

Die Visite begleitete außerdem Krankenpfleger Ronny, ein muskulöser Typ, dessen durchtrainierte Oberarme unter den Ärmeln des hellblauen Kasacks hervorschauten. Ich schätzte Ronny, weil er großes Interesse für die Neurologie zeigte, mit den schwierigen Patienten gut umgehen konnte und eine ausgeprägte Beobachtungsgabe besaß – ein Umstand, der zum Beispiel bei epileptischen Anfällen eine große Hilfe war.

»Das ist Herr Hubertus Müller, ein sechsundsiebzigjähriger Patient, Demenz1 vom Alzheimer-Typ2. Aktuell kommt er mit Verdacht auf einen Schlaganfall zu uns«, sagte Dr. Drilling.

Auf der Bettkante saß ein älterer Herr im gelben Morgenmantel, das volle graue Haar streng nach hinten frisiert.

Er musterte mich misstrauisch.

»Guten Tag, Herr Müller«, sagte ich.

Mein Gruß wurde nicht erwidert, stattdessen ergriff Herr Müller einen Zipfel meines weißen Kittels und versuchte das Ende einzudrehen.

Dann sagte er: »Du bist nicht Gunter.«

»Nein, ich bin nicht Gunter. Was glauben Sie denn, wer ich bin?«, fragte ich und lächelte.

»Du bist nicht Gunter«, stellte er mit kraftloser, kratziger Stimme fest und sah mich mit seinen grauen Augen forschend an. Trotz seiner Mattigkeit wirkte der Blick wach und interessiert. Die Lider waren verquollen, wie es oft bei Patienten der Fall war, die mit beruhigenden Medikamenten behandelt wurden. Die Augäpfel waren übersät mit einem feinen roten Adergeflecht und sahen aus wie das Mündungsdelta des Amazonas.

»Gunter ist sein Sohn und gleichzeitig der Betreuer des Patienten. Er kümmert sich um ihn«, schaltete sich die Stationsärztin ein.

»Haben wir Berichte über die Voraufenthalte des Patienten in anderen Kliniken? Mich würde interessieren, wie sicher die Diagnose Alzheimer ist«, sagte ich.

»Der Sohn hat...

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