Herkunft
Auf fremdem Boden, nach der Niederschlagung Frankreichs, war mit der Proklamierung eines «Deutschen Kaisers» am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles die Gründung des Deutschen Kaiserreichs vollzogen. Bürgerliche Abgesandte hatten dem Akt nicht beigewohnt. Lediglich eine Deputation des Reichstags des Norddeutschen Bundes durfte vor dem König von Preußen die Bitte um Annahme der neuen Würde äußern. Das neue Deutsche Reich erhob sich aus dem Angebot der fürstlich-feudalen Gewalten, den Vorrang der preußischen Militärmonarchie vor den übrigen Ländern des Reichs endgültig anzuerkennen – für einen so spät errichteten, durch seinen jüngsten Sieg mächtigen Nationalstaat ein bedenklicher Grund. Übrigens hatte sich Frankreich, nach dem Sturz seiner Monarchie, wenige Wochen vor der deutschen Reichsgründung zur Dritten Republik erklärt.
Der scharfsichtigste und klügste Darsteller und Kritiker des deutschen Kaiserreichs und seiner Nachfolgerinnen, ihrer Gesellschaft, ihrer Politik und Geschichte, kam nur wenige Wochen nach der Reichsgründung zur Welt: Luis Heinrich Mann wurde am 27. März 1871 in Lübeck geboren, als der erste Sohn eines der Notabeln der Freien und Hansestadt. Sein Vater Thomas Johann Heinrich Mann war Kaufmann, Inhaber der 1790 gegründeten Firma «Johann Siegmund Mann, Getreidehandlung, Kommissions- und Speditionsgeschäfte», Königlich Niederländischer Konsul seit 1864. 1877 wurde er in den Senat der Freien Reichsstadt gewählt, wurde zum «Compräses» der Baudeputation und des Departements für indirekte Steuern, zum Mitglied der Zentral-Armendeputation und der Kommission für Handel und Schiffahrt ernannt und 1885 zum Präsidenten der Steuerbehörde erhoben. In seiner Amtstracht, Schnallenschuhen, Kniehosen, dem schwarzen, pelzverbrämten Mantelcape, der weißen, gefältelten Halskrause und auf dem Kopf den hohen spanischen Hut, repräsentierte Thomas Johann Heinrich Mann nicht nur eine der Spitzen des kleinen Freistaates, sondern ebensowohl einen Teil der Souveränität des Deutschen Reichs, die von zweiundzwanzig Monarchen und von den Senaten dreier Freier Städte getragen wurde. Heinrich Mann lernte, als Kind, die Gesellschaft von oben herab kennen, wenn der Senator seinen Ältesten durch Stadt und Land mitnahm, um ihn auf seinen Beruf vorzubereiten, derzeit das Erbe der Firma zu verwalten, das Ansehen des Hauses hochzuhalten. Mit ihm durch die Straßen zu gehen, war eine meiner schärfsten Übungen hinsichtlich der Grüße, die ich, je nach Würdigkeit der Person, zu erwidern oder vorwegzunehmen hatte. Mit ihm im gemieteten Zweispänner über Land zu fahren, war ein Fest. Die großen Bauern erschienen auf ihren Türschwellen, wir wurden bewirtet, und alles Getreide ging dabei in seine Speicher über. Er war Senator, was damals noch nicht Parteifrage war und von keinen öffentlichen Wahlen abhing. Es kam einfach auf die Familie an. Man war es oder man war es nicht – und behielt, einmal in den Senat gelangt, lebenslang die Befugnisse eines absolutistischen Ministers. Mein Vater verwaltete im Freistaat die Steuern, seine Macht war die allen fühlbarste.
Die Manns stammten, soweit sich die Familie zurückverfolgen läßt, aus fränkischen Bauerngeschlechtern und Nürnberger Handwerkerfamilien. Im 17. Jahrhundert wurde ein Zweig in Mecklenburg seßhaft, und schon der Ururgroßvater Heinrichs, Joachim Siegmund Mann, ließ sich als Kaufmann in der Hansestadt Rostock nieder. Sein Sohn, Johann Siegmund, diente als Seemann und betrieb zugleich Handelsgeschäfte. Er war es, der den Lübecker Bürgerbrief erwarb und die Getreidehandlung gründete, die dann gute einhundert Jahre am Ort bestanden hat. Einen letzten großen Zuwachs an Ansehen und Vermögen erfuhr das Haus durch die Heirat des Großvaters, Johann Siegmund Mann jun., mit Elisabeth Marty; deren Schweizer Urgroßvater Johann Heinrich Marty, ebenfalls durch Heirat, in den Besitz eines der schönsten alten Stadthäuser gelangt war: des Hauses Mengstraße 4, des heute sogenannten «Buddenbrookhauses» – Schauplatz eines der berühmtesten Familienromane der Weltliteratur, der «Buddenbrooks» von Thomas Mann, dem jüngeren Bruder Heinrichs. – Der «blitzblanke» Reichtum der Martys war in den Napoleonischen Kriegen erworben worden durch Getreidelieferungen an die preußischen Truppen. Heinrich Mann hat diesen Vorgang aus der Geschäftsgeschichte seiner Familie in höheren Jahren als ein Sinnbild der deutsch-französischen Entzweiung betrachtet, hat an seinem Beispiel die Korrumpierung des bürgerlichen Erwerbssinnes in verräterische Profitgier dargestellt und endlich sogar, die Situation zum Gleichnis erweiternd, in der Rivalität seines Ahnen mit einem andern Getreidehändler den Ursprung jenes tiefen weltanschaulich-persönlichen Zwiespalts erblickt, der ihn in seiner reifen Zeit von dem jüngeren Bruder Thomas trennte. Die Geschäfte Johann Heinrich Martys boten Heinrich Mann den Stoff der historisch-novellistischen Einleitung Neunzig Jahre vorher zu dem Roman Der Kopf, dem dritten und umfangreichsten Werk, das, nach dem Untertan, den Armen, die Romane der deutschen Gesellschaft im Zeitalter Wilhelms II. abschloß.
Sah Heinrich Mann aus höheren Jahren auf seine Lübecker Kindheit zurück, so erschien ihm jede Einzelheit des geselligen Lebens im Vaterhaus wie eine nachträgliche Ausstrahlung des kaiserlichen Hofes Napoleons III. und der schönen Eugenie. Der Saal des Hauses in zartem, hellem Geschmack, verspätetem Rokoko, die Maskenspiele, die Tänze, die Quadrillen, der Galopp … Die Kultur der Salons war nie wichtiger als damals, Höflichkeit nie wieder so bekannt. Man spielte Scharaden, gab Rätsel auf, die Damen bemalten die Fächer ihrer Freundinnen mit Aquarellen, Herren, die sie verehrten, schrieben ihre Namen darauf. Jene Welt unterhielt sich mit Schreibspielen, sonderbaren Erfindungen, ich habe sie erst verstanden, als ich las, daß in dem engsten Kreis Napoleons zuweilen jemand einen Aufsatz diktierte. Das Spiel war, zu entdecken, wer am wenigsten orthographische Fehler machte. Bürgerliche Spiele, sie paßten auch nach Lübeck. Der Siebenjährige, hinter der Tür des Ballsaales, sah ihnen zu, ratlos ergriffen von dem Glück, dem alle nachtanzten.
Es war ein glänzendes Haus, das der Senator Mann führte. Er hatte als Neunundzwanzigjähriger, schon Chef der Firma, die achtzehnjährige Julia da Silva-Bruhns geheiratet, eine Verbindung, die seinem Temperament – jung, heiter, unbeschwert hat noch der alte Heinrich Mann seinen Vater genannt – und seinen eleganten Neigungen zum Besonderen entsprach: Mit der jungen, anmutigen, sinnlich-geistreichen und schönen Frau drang nicht nur ein fremdländisches Element in die gemessenen Verhältnisse des Lübecker Patriziers ein; die halb-romanische Herkunft Julia da Silva-Bruhns’ wurde den Kindern dieser Ehe eine durchaus bestimmende Mitgift. Sie war die Tochter einer portugiesisch-kreolischen Brasilianerin, Maria Luiza da Silvas, und des «extrem nordischen» Johann Ludwig Bruhns, dessen Familie, aus Skandinavien eingewandert, zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Lübeck ansässig geworden war. Johann Ludwig, Ivao Luis, wie er «drüben» hieß, tat sich in Brasilien als Kaffee- und Zuckerplantagenbesitzer, als Exporteur, ja als Ingenieur und Gründer einer Dampfschiffahrtsgesellschaft für den Strom Piracicaba derart hervor, daß er zum Günstling des letzten brasilianischen Braganza, Kaiser Dom Pedros II., aufrückte und von diesem weitgehende Vollmachten für die Urbarmachung der Gebiete den Piracicaba hinauf empfing. In Angra dos Reis, südlich von Rio am Atlantik gelegen, war Julia da Silva-Bruhns aufgewachsen. Die phantastische Farbigkeit ihrer Kinderumwelt, in Erinnerungen «Aus Dodos Kindheit» kurz nach der Jahrhundertwende von der Senatorin aufgezeichnet, diente Heinrich Mann als Anregung für die ersten Kapitel seines Romans Zwischen den Rassen – einer Meditation über die prägenden Kräfte des eigenen Wesens. Briefliche Aufzeichnungen der Mutter, aus dem Jahr 1906, über die außerordentlichen technisch-geschäftlichen Pionierleistungen des Großvaters Bruhns, dem Ältesten als weitere Stoffgrundlagen für Zwischen den Rassen zugedacht, sind von Heinrich Mann nicht verwertet worden.
Das zweite Stadthaus der Manns, 1881 im Prunkstil der Gründerjahre errichtet, lag in der Beckergrube, die, der Mengstraße parallel, vom Scheitel der alten Stadthöhe hinab auf die Trave zulief. Hier, «An der Untertrave», befanden sich Umschlagplätze, Kontore und Speicher der Handelshäuser. Ging man die Uferkais einige hundert Meter traveabwärts, gelangte man zum Hafen der Stadt. Dort lagen in Heinrich Manns Jugendzeit noch die drei- und viermastigen Segler, Schoner und Kutter, und dort legten die Dampfschiffe an, die den regelmäßigen Verkehr der Hansestadt mit Kopenhagen, Stockholm, Göteborg, Helsingfors, Riga, Reval, St. Petersburg und anderen schwedischen, russischen, finnischen und dänischen Häfen aufrechterhielten. Für die anlandenden Mannschaften war gesorgt: zwischen die Heuerbüros und die Niederlassungen eines bürgerlichen Handels schoben sich hier unten Kneipen, Stätten des groben Tingeltangels, und, abseits, im Dunkel der engen «Twieten» und «Gänge», die kleinen Häuser der Dirnen. Diese Niederungen bildeten den Fuß des Hügels, den bergauf das älteste Wohnviertel der Stadt einnahm, das Quartier des Patriziats seit den Zeiten der niedergehenden Hanse. Eine andere Stätte des Vergnügens und der Erbauung hatte immerhin auf der Stadthöhe ihren Platz gefunden: das...