Wie wir die Welt erleben
Ich war noch ein Student und gerade von einer Studienreise aus Nepal nach Deutschland an die Uni zurückgekehrt, als mich mein später wichtigster Mentor, der Privatdozent Gottfried Fischer (1944–2013), zu sich bestellte. »Herr Mosetter, Sie waren auf den Spuren einer Naturphilosophie. Ich habe Sie beobachtet und mit ihrer Mutter gesprochen. Sie behandeln Ihren MS-kranken Vater, und er lernt, wieder zu gehen. Sie berichteten mir ja schon vor einiger Zeit, dass Sie über die Muskeln behandeln. Wissen Sie eigentlich, was Sie da genau tun? Sie behandeln dialektisch! Das entspricht den Veränderungsprinzipien der Negation der Negation. Ihre Arbeit orientiert sich an psychodynamischen und psychotherapeutischen Regeln und Gesetzmäßigkeiten. Im Muskelsystem liegen mit dem impliziten Gedächtnis eigene Erinnerungsmodule. Ihre Arbeit stellt vielleicht eine perfekte Form der ›Psychotherapie der Muskeln‹ dar. Das sollten wir detaillierter beforschen.«
Um die Details seiner Worte zu verstehen, musste ich erst einmal Nachhilfe bei meinem Bruder nehmen, der zu dieser Zeit schon Philosophie und Literaturwissenschaften studierte. Was ist Dialektik? Was genau meinte Herr Fischer mit dem Prinzip der Negation der Negation? Ich wusste, von und mit Reiner würde ich noch sehr viel lernen. Im wechselseitigen Miteinander würden wir immer mehr Erkenntnisse erringen: Was ist der Mensch? Ist er primär ein seelisches Wesen, das auch einen Körper hat und diesen gebraucht. Oder ist er ein körperliches Wesen, das zudem noch eine Seele eingehaucht bekam? Oder gilt hier gar kein Entweder-oder? Ist der Mensch sowohl das eine als auch das andere? Bedingen sich Körper und Seele wechselseitig? Und haben dann seelische Geschichten und Krankheiten immer auch eine körperliche Seite? Ist genauso unser Körper auch emotional bewegt?
Wir lasen die Schriften Thure von Uexkülls (1908–2004), des Begründers der psychosomatischen Medizin, der in Freiburg lebte und lehrte. Und wir studierten die Schriften seiner Mitstreiter und Schüler. Was meint Psychosomatik? Was Somatopsyche? Und wäre es vielleicht am besten, wenn wir diese Worte irgendwann gar nicht mehr benötigten? Wie bedingen und brauchen sich Medizin und Psychotherapie? So blickte die Hochschulmedizin über ihren Tellerrand und lernte, darüber nachzudenken, was und wie sie sah und was sie tat. Und die Philosophie wurde eine angewandte Lehre des Denkens. Tatsächlich sollte unsere gemeinsame Forschung in den nächsten 25 Jahren Wirklichkeit werden.
Wir sind bewegte Körper
In den vergangenen Jahrzehnten erhielt gerade die Hirnforschung großzügige finanzielle Unterstützung, durch die die Wissenschaft ohne Frage zahlreiche großartige Erkenntnisse gewinnen konnte. Im Zuge dessen erblickten viele neue Disziplinen und Schlagworte das Licht der Welt. So soll zum Beispiel die Neurotheologie religiöse Phänomene neurophysiologisch erklären. Im Neuromarketing hofft man, mit Erkenntnissen aus der Hirnforschung Kundenverhalten besser abschätzen und Werbung effizienter gestalten zu können. Nicht wenig Menschen sind heute sogar der Auffassung, wir seien unser Gehirn.13
Die scharfe Trennung von Körper und Geist beziehungsweise von Körper und Seele ist keineswegs eine aktuelle Modeerscheinung, sondern hat eine jahrhundertelange kulturhistorische Tradition. Einer ihrer wohl bekanntesten Verfechter war der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes (1596–1650), dessen Gedankenschritte lange Zeit prägend für das Menschenbild der westlichen Neuzeit wurden.
Gemäß seinem Leitsatz »Ich bin ein denkendes Wesen« erklärte Descartes, latinisiert Cartesius, die »Geistseite« des Menschen zu einer rationalistisch definierten, intellektualisierten und entnaturalisierten Denk- und Erkenntnisinstanz (res cogitans). Im Gegensatz dazu erfuhr die andere, also die »Körperseite«, eine entsprechende Entgeistigung (beziehungsweise Entseelung) und Mechanisierung (res extensa). Körper und Geist wurden somit konzeptionell gespalten und zu sich gegenseitig ausschließenden Antonymen. In Konsequenz der kartesianischen Auffassung musste sich ein rein denkendes Wesen in einem orts- und körperlosen geistigen Innen verlieren. Leibempfindungen und Vitalfunktionen wie Freude und Lust, Hunger und Schmerz, Bewegung und Ruhe waren dann letztendlich Erkenntnisse des Geistes (Informationen und Denkinhalte), die die Außen- beziehungsweise Körperwelt betrafen.
Im Grunde war die These des Franzosen gar nicht so neu: Schon ungefähr 600 Jahre früher vollzog der persische Arzt und Philosoph Avicenna (980–1037) ein berühmtes Gedankenexperiment, das in seiner Grundidee ebenfalls bis heute das abendländische Menschenbild mitprägt. Avicenna, den einige Leser vielleicht auch unter seinem persischen Namen Ibn Sina aus Noah Gordons Der Medicus kennen, forderte uns auf, sich Folgendes vor Augen zu halten, um die grundsätzliche Unabhängigkeit von Seele und Körper zu verdeutlichen:
»Ein jeder von uns stelle einmal sich selbst vor, mit einem Schlag fertig erschaffen und voll entwickelt, doch mit verschleiertem Blick, sodass er daran gehindert wäre, äußere Gegenstände wahrzunehmen; er stelle sich vor, dass er in der Luft oder im leeren Raum schwebte, jedoch ohne den Luftwiderstand zu spüren. Seine Glieder seien so ausgebreitet, dass sie sich nicht begegneten oder einander berührten. […] Es bestünde kein Zweifel daran, dass man die Behauptung, dass das eigene Selbst existiert, bejahen würde. Doch damit wäre keineswegs verbunden, dass man die Existenz irgendeines seiner Glieder oder inneren Organe, seines Herzens oder Gehirns oder irgendeines äußeren Dinges behaupten würde. […] Wäre es in diesem Zustand möglich, sich seine Hand oder irgendein anderes Glied vorzustellen, so würde man es sich nicht als Teil seines Wesens oder als Bedingung seines Wesens vorstellen.«14
Avicenna kam zu dem Schluss, die Seele sei etwas anderes als der Körper und existiere eigentlich ohne einen Körper – eine Vorstellung, die bis heute in den Köpfen vieler Menschen herumschwirrt und auch die Neurologie und ihre Sicht des Menschen bestimmt.
Was Reiner und mich angeht, sehen und erleben wir dies jedoch eindeutig anders – sehen und erleben uns anders. Wir können hören, sehen, schmecken, uns bewegen. Ein Gehirn kann dies alles nicht. Wir haben uns beim Schreiben dieses Buchs zusammengesetzt, wir haben miteinander diskutiert. Wir haben dafür im Auto gesessen, über Büchern und vor dem Computer. Wir haben diskutiert, uns gefreut und miteinander gelacht. Haben immer wieder Bezugspunkte zu unserer eigenen Biografie gesucht – und gefunden. Ein Gehirn ist zu all diesen Betätigungen und Lebensvollzügen nicht imstande. Unsere Gehirne haben uns zwar dabei geholfen, aber sie waren es nicht selbst, die diskutiert und gelacht haben.
Sicher, die Versuchung ist groß, unser Denken, Fühlen und Handeln, unsere Freuden und Leiden auf das Innenleben unseres Köpfchens zurückzuführen und schließlich mit neuronalen Prozessen gleichzusetzen. Und tatsächlich wird bei Verletzungen und Erkrankungen des Gehirns schnell offenbar, wie sehr unser Leben auf dessen einzelne Leistungen und Funktionen angewiesen ist. Es besteht ganz augenscheinlich eine Abhängigkeitsbeziehung, die sich zum Beispiel bei Demenzerkrankungen sehr deutlich und krass offenbart.
Doch genauso, wie es für das Verständnis von Klang, Musik oder gar einer Sinfonie nicht ausreicht, nur die einzelnen Instrumente in ihrer Struktur zu analysieren, kann man unser Befinden, unsere Wahrnehmung und unser Seelenleben nicht nur auf das Gehirn reduzieren. Zwar muss im Orchester jede Geige für sich zunächst fehlerfrei funktionieren. Doch erst mit den entsprechenden Noten wird das einzelne Instrument belebt und kann sich – entsprechend gut gespielt – kunstvoll entfalten. Um ein Kunstwerk wie die Neunte Symphonie von Anton Bruckner zu erleben, zu verstehen und zu hören, ist es deshalb sicherlich nicht ausreichend, nur die erste Geige haargenau unter die Lupe zu nehmen. Die komplexe Gesamtleistung besteht aus vielen individuellen Leistungen und Systemebenen, die bei Bedarf zusammenspielen und Hand in Hand funktionieren.
Für ein Konzert bedarf es hörender Menschen und spielender Musiker. Es ist eben, wie es der amerikanische Philosoph und Kognitionswissenschaftler Alva Noë so treffend formuliert hat: »Wir sind nicht im Kopf zu Hause, sondern in der Welt. Wir sind dezentrale, dynamisch verteilte, weltbezogene Geschöpfe.«15
In der Tradition des phänomenologischen Denkens zeigt Noë in seinen Arbeiten auf, dass Wahrnehmen, Handeln und Bewusstsein nicht auf einfachen Input- und Output-Wegen basieren, also der Ein- und Ausgabe von Informationen. Vielmehr entstehen sie durch eine immer schon vorhandene, ständig aktive Wechselseitigkeit und aufgrund sensomotorischer Interaktionen mit der Umwelt. Auf diesem Wege wird Sinn gestiftet; es entwickelt sich Wissen von der Umwelt, den Mitmenschen und sich selbst. Der objektiv vorhandene Körper hat zwar genaue Abmessungen. Der lebendige, engagierte Körper aber hat die Fähigkeit, sich in eine Tanzfigur, ein Instrument, eine Geste hinein zu verlängern, sich hineinzubegeben. Als engagierte Wesen sind wir in unserer Umwelt verankert, in diese eingebettet. Wir nehmen nicht nur einen geometrischen Raum ein, sondern bewohnen einen lebendigen Leib- und Handlungsraum. Bei einem Blinden etwa wird der Blindenstock zu einer Sinneszone, in der dieser sich einrichtet. Umgekehrt lässt der Blinde diese Zone an seiner wahrnehmenden Körperlichkeit, an seinem Körpersinn...