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»Das ist keine Praline, sondern eine Kopfschmerztablette!«
Wie Mama weiterhin Süßigkeiten isst, die Kinder aber vorbildlich und möglichst zuckerfrei ernährt.
»Mama, was machst du da?«
»Nomnomnom … wieso? Nix mache ich.«
Mein Sohn steht vom Esstisch auf, an dem er gerade seine Hausaufgaben macht, und kommt skeptischen Blickes zu mir in die Küche. In einer vermeintlich unbeobachteten Minute habe ich den Schrank aufgemacht, mir das vorletzte Raffaello geschnappt und mich damit hinter Cornflakes und Müslipackungen verbarrikadiert. Beschämt wische ich mir nun die verbleibenden Spuren der verräterischen Kokosraspeln aus dem Mundwinkel. Es ist 15 Uhr nachmittags, und mein Blutzuckerspiegel braucht dringend einen Schub.
Erschwerend kommt hinzu, dass Sebastian und ich gerade Mathe üben und ich bedauerlicherweise feststellen muss, dass mich Textaufgaben aus der dritten Klasse total schläfrig machen: »Paul kauft 100 g Käse. Der Käse kostet 3 Euro. Wie viel kosten dann 250 g? Wenn Paul nun seinen drei Freunden zu gleichen Teilen von dem Käse abgeben will, wie viel bekommt dann jeder?«
Schnaaaarch. Ich habe Textaufgaben schon immer gehasst. Warum kann der Autor des Mathebuchs nicht einfach kreativer sein? Warum kaufen immer alle nur Käse, Äpfel oder Birnen? Und was passiert eigentlich, nachdem Paul den Käse verteilt hat? Hat er geschmeckt? War er aus Rohmilch? Und wie heißen Pauls Freunde? Puhhhh, Textaufgaben sind eine so lästige und langweilige Beschäftigung wie die Steuererklärung. Ich variiere dann gern ein wenig den Wortlaut, um es für uns alle erträglicher zu machen.
»Darth Vader hält drei Jedi-Ritter gefangen. Zwei lässt er frei. Wie viele hat er dann noch? Nach dem Mittagessen fängt er 132 weitere Jedi-Ritter. 97 können sich mit Hilfe von neuen Laserschwertern befreien. Bitte subtrahiere nach der Todesstern-Methode!«
Während mein Sohn nun wesentlich vergnügter vor sich hin knobelt, gehe ich unauffällig wieder in die Küche.
Bei unseren kreativen Matheaufgaben helfen mir meine kleinen Zwischenstationen am Küchenschrank sehr. Aber mein Sohn erwischt mich meistens, so wie auch dieses Mal: »Mama, du isst ja schon wieder was Süßes! Da, wo hast du deine Hand?«
Hinter einem Sichtschutz aus Kakaodose und Müslipackung öffne ich gerade hastig die knisternde Verpackung der köstlichen Raffaellos. Mittlerweile bin ich beim letzten angelangt. Warum machen die beim Auspacken auch solch einen Höllenlärm? Die weißen Dinger sollen doch laut Werbung total »leicht und luftig« sein.
»Das … ähm … Das ist eine Kopfschmerztablette!«
Mein Sohn verdreht die Augen. »Tabletten sind viel kleiner, das da ist viel zu groß.«
»Ich habe ganz dolles Kopfweh, also habe ich mir eine extragroße Tablette geholt.«
Um weitere Fragen zu vermeiden, stecke ich mir die Praline in den Mund und schlucke sie nach einem Bissen hastig hinunter. Ich verhalte mich genauso wie meine Tochter, wenn sie unerlaubterweise zu viele Gummibärchen in sich hineingestopft hat.
Zum Beweis für die waghalsige Behauptung, die ich eben aufgestellt habe, öffne ich meinen Mund: »Siehst du, alles weg. Mir geht’s auch gleich schon wieder besser.«
Ich schiebe den Schrank schnell zu, damit mein Sohn nicht meine weiteren Süßigkeitenverstecke entdecken kann. Meine Pralinensammlung schummle ich in der Regel in den Reis oder zwischen die Nudeln, sicher ist sicher. Das tue ich übrigens aus purem Verantwortungsgefühl. Meine Kinder will ich ja gut ernähren.
Meine Sucht habe ich bisher noch nicht in den Griff gekriegt. Nichts Süßes ist vor mir sicher.
Leider bin ich auch nicht besonders anspruchsvoll. Mitnichten finden nur edle Pralinen und hochwertige Schokoladen den Weg in meinen Mund. Das ist ja das Schlimme. Weiße Mäuse, Frösche, Brausebrocken, saure Schnüre, all diese Herrlichkeiten liebe ich genauso heiß und innig wie meine Kinder. Das Packen von »Mitgebseltüten« für Kindergeburtstage ist eine echte Qual für mich, und natürlich zwacke ich heimlich auch was für mich ab. Und wie für die Kinder ist auch für mich das Highlight einer Geburtstagsparty, wenn ich abends endlich meine Tüte plündern darf. Denn ich bekomme bei den Partys, die ich für meine Kinder ausrichte, auch eine Tüte, das ist ja wohl klar.
Mein Sohn lässt nicht locker. »Tabletten schluckt man mit Wasser runter, Mama, das weißt du doch.« Er kommt immer näher. Als er direkt vor meinem Gesicht ist, gibt er mir einen Kuss. Ein Hauch von Kokos liegt in der Luft.
»Du lüüüügst, Mama! Du hast was Süßes gegessen! Ich will auch! Wo ist das, gib das sofort her!«
»Aber Schatzi, wie … warum … Woher weißt du das?«
Sebastian zeigt auf meinen Mund und geht ganz nah an mein Gesicht heran. »Ich kann es riechen!«
Ertappt! Mein Sohn hat mich überführt wie ein kleiner Profiler. Nun hat er die Mama durchschaut mit ihrer großen Schwäche und ihrer fehlenden Souveränität. Mein Image ist angekratzt, und ich bereue wie eine Verdächtige im Verhör.
»Ich hatte keine Wahl. Ich bin eine Mutter im 15-Uhr-Loch am Nachmittag. Ist das schlimm?«
Er seufzt und denkt ein wenig nach. »Ich habe dir verziehen, weil du es zugegeben hast.«
Das ist doch eine verkehrte Welt! Warum gestehe ich? Warum fungiert mein Sohn als milder Richter?
Sebastian grinst plötzlich über das ganze Gesicht. »Außerdem kaufst du ja morgen wieder Süßigkeiten. Und die teilst du dann mit uns, das musst du jetzt versprechen.«
»Ja, aber dann kommen doch Karies und Baktus, und eure Zähne gehen kaputt«, versuche ich noch zuletzt, eine klassische Eltern-Notlüge aus meinem Ärmel zu zaubern.
»Daran glauben eh nur Babys«, sagt mein Sohn verächtlich.
»Also gut, ich verspreche es. Morgen bekommt ihr eine Packung Gummibärchen.«
Mein Sohn zieht eine Augenbraue hoch und verschränkt die Arme.
»Okay, die XXL-Packung.« Auch als Mutter muss man Niederlagen einstecken können.
Wir verbringen den Rest des Nachmittags damit, noch mehr spannende Textaufgaben zu erfinden, und meine Kinder freuen sich auf den nächsten Tag, wenn ihre jeweiligen Süßigkeitenboxen von ihrer Mutter mit viel Zucker (und schlechtem Gewissen) wieder aufgefüllt sein werden.
»Wenn Mama fünf Packungen Pralinen kauft und eine davon im Schrank versteckt, wie viele Packungen bekommen dann die Kinder?« So könnte auch eine neue, kreative Textaufgabe lauten.
Das Ergebnis: alle! Denn die Kinder kennen ja jetzt meine Schatzkammer, und Mama muss sich etwas Besseres überlegen. Eventuell ist der Werkzeugkasten eine Option? Oder der Waschkeller? Nein, weiße Trüffel mit feinem Waschpulveraroma und metallischer Note im Abgang sind wahrscheinlich nicht so delikat.
Mein Sohn ist seit dem Pralinen-Tabletten-Debakel misstrauisch geworden. Sobald er aus der Schule kommt, werden neuerdings Kontrollgänge zum Küchenschrank und zu den Süßigkeitenboxen der Kinder unternommen. Er traut mir einfach nicht mehr. Wo der Rest der Kinderschokolade ist? Keine Ahnung, wirklich nicht. Die letzten drei Smarties? Hat der Papa aufgegessen … glaube ich.
»Es ist nichts mehr da, und ich weiß auch, warum. Das kann nur Mama gewesen sein«, sagt Sebastian.
»Nein, nein, ich war’s nicht.« Schnell greife ich mir einen Lappen und wische unauffällig einmal über den Küchentisch, um eventuelle Schokoladenspuren zu vertuschen. Mein Kind lächelt mitleidig. Er hat mich mittlerweile durchschaut. Ein Blick in den Mülleimer genügt, nichts ist mehr sicher! Sebastian öffnet ihn und stochert mit einem Kochlöffel darin herum. Als er auf zwei Schokoladenverpackungen stößt, schaut er mich gequält an. Seine Mama ist aber auch wirklich nicht sehr geschickt. Und ich dachte, ich hätte eine ausgeklügelte Technik entwickelt, die Verpackungen durch Vermischen mit Kaffeesatz im Mülleimer zu kaschieren. Auch hatte ich, bevor die Kinder nach Hause kamen, den Müll mehrmals umgerührt, wobei ich mir schon ziemlich bescheuert vorkam.
Eines Tages fasse ich jedoch einen Entschluss. So kann es nicht weitergehen. Ich bin immerhin ein Vorbild für meine Kinder, Besitzerin eines weiteren Speckröllchens um meine Taille, und all diese Zuckermengen sind auch überhaupt nicht gesund. Die anderen schaffen es doch auch, sich und ihre Familien gut zu ernähren. Was mir fehlt, ist ein kleines bisschen mehr Disziplin – und ein strahlendes Vorbild, dem ich nacheifern kann. Ich denke sofort an meine supergesunde und schlanke Arbeitskollegin Heike. Die ernährt sich komplett zuckerfrei und berichtet in der Kaffeeküche unseres Büros regelmäßig von ihrer Energie und ihren besseren Marathonzeiten. Auch ihre Kinder sind weitestgehend entzuckert und dadurch, laut Heike, deutlich weniger verquengelt. Was für eine wunderbare Vorstellung!
»Wenn du einmal damit aufhörst, Nina, verlangt dein Körper auch gar nicht mehr danach. Und wenn du etwas Süßes willst, dann trink doch einfach mal einen grünen Smoothie. Da kannst du alles Grüne reintun, auch Unkraut wie Giersch oder frisches Gras. Du als Anfängerin könntest auch ein bisschen Agavendicksaft einrühren, als Zuckerersatz.«
Mir wird schwindlig. Ob es wohl auch grüne Smoothies für Anfänger auf Zuckerentzug gibt? Aus grünen sauren Zungen? Das klingt aber irgendwie nicht wirklich lecker, und so beiße ich in Gedanken in ein großes Karamellbonbon.
Leute wie Heike beneide ich ja leidenschaftlich. Ich weiß nicht, wie sie das schafft, aber sie glaubt an die Wirkung ihrer Smoothies. Dieser Glaube scheint beim...