1 Einleitung, Definitionen und Theorien
Das Königreich Saudi-Arabien (arab. Al-Mamlaka al-Arabia as-Saudia[1]) ist flächenmäßig das größte und das bevölkerungsreichste Land der Arabischen Halbinsel. Zahlenmäßig handelt es sich um die größte Volkswirtschaft im arabischen Raum. Der saudische Staat verfügt zudem über knapp ein Viertel der weltweiten Ölreserven.[2]
Erdöl ist der wichtigste Energierohstoff und wird es auch in nächster Zukunft bleiben. Ausgehend vom gegenwärtigen Erschöpfungsgrad der Reserven wird konventionelles Erdöl allerdings in absehbarer Zeit nicht mehr im bisherigen Maße zur Verfügung stehen.[3]
Vor diesem Hintergrund und aufgrund der Tatsache, dass die weltweiten Vorkommen und der Verbrauch dieses Rohstoffes nach Regionen differieren, birgt gerade der Nahe Osten, der mit über 50% der weltweiten Ressourcen ausgestattet ist, und Saudi-Arabien im Speziellen ein großes Konfliktpotential. Auf der Website des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland (BRD) heißt es unter anderem, dass „Saudi-Arabien [...] ein bedeutender regionalpolitischer Akteur und als solcher ein gefragter Gesprächspartner“[4] sei.
Diese Ansicht vertritt nicht nur die BRD. Betrachtet man die bilateralen Beziehungen, die Saudi-Arabien zu zahlreichen Ländern unterhält, sticht eine sofort ins Auge und wirft zugleich Fragen auf: die zu den USA.
Wie ist es zu erklären, dass ein autoritär regierter Staat wie Saudi-Arabien mit einem demokratisch und freiheitlich organisierten Staat wie den USA seit Jahrzehnten relativ enge und im Großen und Ganzen stabile Beziehungen unterhält? Zwar existieren weltweit zahlreiche bilaterale Beziehungen zwischen verschiedenen Staaten, auf die ähnliches zutrifft. Nichtsdestotrotz darf hier von einem Paradoxon gesprochen werden.
Die Widersprüche sind offensichtlich. Saudi-Arabien erhebt den „Anspruch auf religiöse Führung in der islamischen Umma (Gemeinschaft der Gläubigen)“[5]. Ferner ist es „erklärtes Ziel saudischer Politik, die weltweite Verbreitung des Islam zu fördern.“[6] Das Land gilt auch aufgrund der Tatsache, dass sich die heiligen Stätte Mekka und Medina auf saudischem Staatsgebiet befinden, als Wiege des Islam.[7] Der Wahhabismus (Wahhabiya), eine zutiefst konservative und puritanische Richtung des sunnitischen Islam der hanbalitischen Prägung, stellt die Staatsreligion bzw. Staatsdoktrin dar.[8] Überdies gilt Saudi-Arabien als Zentrum des islamischen Fundamentalismus. Elementarste Menschenrechte werden offensichtlich wiederholt missachtet.
Ferner zählt Saudi-Arabien zur anti-israelischen Front. Es gibt bislang weder einen Friedensvertrag mit dem jüdischen Staat Israel, noch erkennt das saudische Königreich Israel als Staat formal an.
Warum kooperiert also Saudi-Arabien mit den auf Religionsfreiheit und Menschenrechte bedachten USA, die gerade dem islamisch-fundamentalistischem Terrorismus den Kampf angesagt haben, zudem zur pro-israelischen Front gezählt werden bzw. als einer der wichtigsten Unterstützer Israels gelten?
Gerade vor dem Hintergrund des seit den 1980er Jahren weltweit vermehrt in Erscheinung getretenen islamisch-fundamentalistisch motivierten Terrorismus im Allgemeinen und der Flugzeugattentate vom 11. September 2001 im Speziellen ist Saudi-Arabien zunehmend in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. So waren 15 der 19 Attentäter saudische Staatsbürger. Die USA andererseits führen seit den Flugzeugattentaten auf das World Trade Center, das Pentagon und ein nicht vollkommen aufgeklärtes viertes Ziel ‚war on terror’.
In der Politikwissenschaft existieren zahlreiche Analysen zu den amerikanisch-saudischen Beziehungen – die meisten davon mit einem Schwerpunkt auf die Analyse der US-Außenpolitik. Welche Anreize, Interessen und Bedingungen aber veranlassen den saudischen Staat, mit den USA zu kooperieren? Diese Fragen sind bislang wissenschaftlich weniger erörtert worden. Diese Arbeit beschäftigt sich daher mit der Analyse der saudischen Außenpolitik gegenüber den USA, die ein sehr zentrales Element der saudischen Außenpolitik darstellt. Es wird der Versuch unternommen, diese Beziehungen zu erklären, deren Anfänge bis in die 1930er Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurückzuverfolgen sind[9].
In der Analyse sollen ‚Zwänge’ und Dependenzen berücksichtigt werden, die sich sowohl auf innerstaatlicher als auch auf internationaler Ebene für Saudi-Arabien ergeben. In Kapitel 2 wird zunächst der Bereich der ökonomischen Wohlfahrt auf der Ebene des Staates analysiert. Da hier die Betrachtung der bilateralen Beziehungen zu den USA im Zentrum stehen, müssen ebenfalls die für die USA geltenden Abhängigkeiten in dieser Beziehung in die Analyse einbezogen werden. Bei wechselseitigen Dependenzen wird von Interdependenz gesprochen. Der übergeordnete Rahmen dieser Arbeit orientiert sich daher an dem Konzept der Interdependenz. Dieser sowie weitere für die Arbeit relevante Grundlagen werden in diesem ersten Kapitel erläutert.
Als zu analysierender Zeitraum wird sowohl in Kapitel 2 als auch Kapitel 3 1979 bis in die Gegenwart gewählt. Die Wahl des Analysezeitraums begründet sich durch verschiedene Ereignisse im Nahen und Mittleren Osten. In der Region sind vor allem der Sturz des Schahs in Iran durch die Islamische Revolution Anfang 1979 und die anschließend ausgerufene schiitisch-islamische Republik von Bedeutung. Des Weiteren sind Ende desselben Jahres sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschiert, und in dem darauf folgenden Jahr 1980 begann der Iran-Irak-Krieg[10]. Saudi-Arabien sah sich damit einer veränderten regionalen Umwelt gegenüber, die sich auch auf die Bedrohungswahrnehmung der saudischen Herrscherelite auswirkte. Daher erfolgt in Kapitel 3 auf der Ebene des internationalen Systems eine Bedrohungsanalyse, die den Schwerpunkt auf die Region des Nahen Ostens setzt.
Doch auch Ereignisse in Saudi-Arabien selbst haben sich auf die saudische Politik ausgewirkt. Hier sind die gewaltsame Besetzung der al-Haram-Moschee in Mekka, der größten und wichtigsten Moschee des Islam, und die kurz darauf folgenden schiitischen Aufstände in der Ostprovinz des Landes zu nennen. Bei letzteren vermutete das saudische Herrscherhaus einen Zusammenhang mit der schiitischen Revolution in Iran.
Diese Ereignisse hatten in den folgenden Jahren in verschiedenen Bereichen eine Neujustierung der saudischen Politik zur Folge. Unter anderem beeinflussten sie auch die saudische Außenpolitik gegenüber den USA. Festzuhalten bleibt, dass das ‚gegenseitige’ Interesse an einer Intensivierung der bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Saudi-Arabien stieg. Im Jahre 1979 verloren die USA durch die Islamische Revolution einen langjährigen und wichtigen Verbündeten in der Region: Iran, von dem sich das saudische Königreich zunehmend bedroht fühlte.
Das Jahr 1979 stellt, wie soeben aufgezeigt wurde, in vielerlei Hinsicht eine Zäsur in der politischen Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens im Allgemeinen und der Saudi-Arabiens im Speziellen dar. Des Weiteren soll sowohl die Zeit nach dem 11. September 2001 intensiv betrachtet werden, als auch die aktuellen Umbrüche in der arabischen Welt Beachtung finden.
Die Frage, die in dieser Arbeit gestellt wird, kann wie folgt formuliert werden: Haben innerstaatliche bzw. wirtschaftliche Faktoren des saudischen Königreiches eine relativ betrachtet größere Erklärungskraft für den außenpolitischen Output Saudi-Arabiens gegenüber den USA als Faktoren des internationalen Systems et vice versa?
Zunächst werden wesentliche Begriffe definiert, die in der Arbeit repitierenden Charakter haben. Dies scheint auch deswegen notwendig, da gerade die zwei hier verwendeten Termini innerstaatliche Restriktionen und internationale Restriktionen Fragen aufwerfen, die bereits im Titel dieser Arbeit erscheinen. Zunächst soll die Frage geklärt werden, wie Außenpolitik im Rahmen dieser Arbeit verstanden wird.
Eine gängige und allgemeingültige Definition von Außenpolitik ist in der politikwissenschaftlichen Literatur nicht zu finden. In dieser Arbeit wird eine Definition von Andreas Wilhelm zugrunde gelegt, der sich ausführlich mit verschiedenen Definitionen auseinandergesetzt hat:
Unter Außenpolitik ist das nach außen, auf eine bestimmte internationale Umwelt bzw. einen Adressaten, in der Regel einen Staat oder andere Aktionseinheiten der internationalen Politik gerichtete und in den internationalen Bereich sich erstreckende grenzüberschreitende Entscheidungshandeln eines souveränen Akteurs (Staates) zu verstehen. Dieses erfolgt zum einen in der Absicht der eigenen Interessenwahrung und –durchsetzung gegenüber der internationalen Umwelt, zum anderen unter Reaktion auf von außen kommende strukturelle Einflüsse und aktuelle Handlungen wie auch aufgrund von...