1927
In die Gesellschaft
hineingeboren
Kindheit zwischen den Kriegen
Geboren wurde ich am 2. Februar 1927 in Bunzlau. Zwei Jahre später kam mein Bruder Peter zur Welt. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs Anfang September 1939 hatten wir eine frohe und sorgenfreie Kindheit – mit lieben Eltern in einem geborgenen Zuhause in Schlesien. Ab 1929 wohnten wir in Liegnitz, wohin mein Vater aus beruflichen Gründen mit der Familie umgezogen war. 1937 erfolgte – wiederum aus beruflichen Gründen – der Wohnungswechsel nach Brockau bei Breslau. Dieser Weg von einer Kleinstadt in eine Bezirksstadt und dann in die Hauptstadt Schlesiens – immerhin eine Großstadt mit 600 000 Einwohnern – war für meinen Vater Bedingung und Ausdruck seiner beruflichen Entwicklung als Architekt. Für mich bedeutete er die schrittweise Erweiterung meines Gesichtsfeldes für Entdeckungen und Möglichkeiten des Lebens, für etwas Eigenes in ihm, vermittelt durch Bildung, Kultur und urbane Kontakte.
Meine Eltern stammten aus sozial einfachen Verhältnissen. Hineingeboren in die Kaiserzeit, hatten sie den Ersten Weltkrieg überlebt und in den darauffolgenden Jahren unsicherer gesellschaftlicher Verhältnisse – auf sich allein gestellt – dennoch verstanden, ihr Leben lebenswert zu machen. Mein Vater, Johann Flierl, geboren 1898 in Fürth, also in Franken, war das siebte Kind einer neun Kinder zählenden proletarischen Familie: drei Mädchen, sechs Jungen. Seinen Vater, Johann Baptist, hatte er so gut wie nicht gekannt, da der schon 1905 verstarb. Er war ein offenbar musisch sehr begabter Mensch, der in keine normale Anstellung passte, ein „versoffenes Genie“, wie erzählt wurde, der sich als Bänkel- und Straßensänger sein Geld verdiente. Dafür war seine Mutter, Barbara, sein Ein und Alles. Er liebte sie und verehrte sie dafür, wie sie ihn und die ganze Familie durchs Leben brachte, vor allem durch die Jahre des 1914 ausgebrochenen Krieges: mit Arbeit als Waschfrau und mit Heimarbeit, an der sich auch die Kinder beteiligen mussten. Erschöpft von einem solchen Leben – und ohne Trost über den Tod eines ihrer Söhne im Krieg –, verstarb sie, kaum dass der Frieden begonnen hatte.
Mein Vater hat uns das oft erzählt, vor allem aber, wie geradezu wunderbar es für ihn war, dass er 14-jährig als Zimmermann einen Beruf ergreifen und also Geld nach Hause bringen konnte und dass er schließlich auch die Bauschule besuchen durfte. Doch 1917 geriet er als „Pionier“ in den Krieg, noch dazu in den Stellungskrieg vor Verdun, hatte aber das Glück zu überleben und anschließend seine Ausbildung als Bauingenieur fortsetzen und 1920 beenden zu können. Nun brauchte er Arbeit. Die fand er als Bautechniker für kurze Zeit im Stadtbauamt in Fürth. Danach tat er das, was damals üblich und unter den Verhältnissen von Armut und Arbeitslosigkeit nach dem verlorenen Krieg notwendig war: Er ging auf „Wanderschaft“ und arbeitete zuerst in Städten am Main und am Rhein, aber auch in anderen Städten Deutschlands, bis er schließlich – auf ein Angebot hin – in Schlesien landete und in Freiwaldau die Aufgabe übernahm, für eine große Ziegelei einen Ringofen zu bauen.
Im nahe gelegenen Bunzlau begegnete er dann meiner Mutter, Gertrud Heidrich. Sie war gelernte Verkäuferin in einem Wäscheladen. Ihre Eltern, einfache Leute, deren Vorfahren Bauern auf dem Lande gewesen waren, hatten sich wohl erst um 1900 in der Stadt beheimatet. Ihr Vater Carl betrieb dort ein kleines Fuhrgeschäft mit einem eigenen Pferd, für das er einen Stall im Hinterhof eines städtischen Mietshauses am Klosterplatz zur Verfügung hatte. Meine Mutter – 1905 geboren und als Stadtkind groß geworden – wäre gern auf die Mittelschule gegangen. Die Begabung hatte sie. Sie war Klassenbeste. Aber die Eltern hatten dafür kein Geld. Mein Vater befreite sie von dieser sozialen Fessel, die sie nicht nur als Makel, sondern auch als Schicksal empfand, nicht frei für Bildung und Kultur geboren zu sein. Weihnachten 1925 – nach den Jahren der großen Inflation während der Weimarer Republik – heirateten sie und lebten zusammen in einem kleinen, zu einer Wohnung ausgebauten Häuschen in einer Gartensiedlung, in der „Au“, nahe dem großen Eisenbahnviadukt über den Bober. Das war auch meine erste Wohnung. Ich erinnere mich an sie, weil es ein Glasdach über dem Eingangsbereich gab, durch das hell die Sonne schien. Das ist mein ältestes Erinnerungsbild überhaupt.
Wie sehr meine Eltern – beide aus ähnlichen sozialen Verhältnissen kommend und Ende der zwanziger, Angang der dreißiger Jahre aufgestiegen in den „Mittelstand“ – mich mit ihren Erfahrungen, Sehnsüchten und Wertungen prägten, meine Begabungen förderten, meine Lust an kreativer Gestaltung unterstützten und ihre sozialen und moralischen Normen für das menschliche Zusammenleben auf mich übertrugen – nicht zuletzt, um mich vor den Einflüssen und Anfeindungen des alltäglichen Faschismus in Hitler-Deutschland zu schützen und mich vor allem auch widerstandsfähig gegen sie zu machen –, das kann ich bis heute nicht genug bewundern.
Elternhaus und Schule waren die wesentlichen Bestimmungen in meiner Kindheit. In Liegnitz wohnte ich zuerst in der Roonstraße im Westen der Stadt in einem damals neuen Wohngebiet nahe der Haynauer Straße. Die Wohnung lag im Hochparterre und verfügte über drei Zimmer, Küche und Bad. Das Wohnzimmer – mit Sitzbank am Fenster – war der Hauptaufenthaltsraum der Familie. Hier wurde auch gegessen. Von hier ging es in das sogenannte Herrenzimmer, das mein Vater abends und an den Wochenenden zur Arbeit als Architekt benutzte. Meine Mutter beschwor uns Kinder ständig mit den Worten: „Stört nicht, Vati muss arbeiten!“ Im Schlafzimmer meiner Eltern hatten auch mein Bruder und ich unsere Betten. Zwei Ereignisse aus dieser Zeit – ich muss vier oder fünf Jahre alt gewesen sein – sind mir besonders gut in Erinnerung geblieben: die Verbrennung der Spielkarten und ein ganz und gar verdorbener Sonntagsspaziergang. Eines Winterabends nämlich, als ich beim Kartenspiel wieder einmal verloren hatte und prompt einen nicht zu zügelnden Wutanfall bekam, warf meine Mutter kurz entschlossen die Karten ins Feuer. Das Bild der geöffneten eisernen Tür des Kachelofens und der Spielkarten in den grellen Flammen habe ich bis heute nicht vergessen. Seitdem bin ich Kartenspielen so gut wie immer aus dem Weg gegangen. Ich wollte eben schon damals selbst über mich bestimmen, dafür auch einstehen, aber nicht vom Glück im Kartenspiel – vom Glück als Zufall ohne mein Zutun – abhängig sein.
Der Sonntagsspaziergang – ein regelmäßiges Freizeitritual meiner Eltern zusammen mit uns Kindern – führte eines schönen Wochenendes deshalb zum Familiendrama, weil ich mich weigerte mitzukommen, indem ich stolz auf den von mir soeben errichteten Hochhausturm aus Bauklötzern verwies und trotzig aufstampfend sagte: „Bur muss arbeiten!“ Vater, der mich so nannte, verstand das, erkannte er sich doch selbst in mir wieder. Mutter aber zerstörte den Turm und zerrte mich aus der Wohnung auf die Straße. Auf dem dann absolvierten Spaziergang in den nahe gelegenen Rufferpark am Hang der Siegeshöhe, die nach einem Sieg Friedrich des Großen im Siebenjährigen Krieg so genannt worden war, schwieg ich verbissen. Ich hatte eben meinen eigenen Kopf. Und meine durch Arbeit mögliche Selbstbestimmung ließ ich mir schon damals nicht rauben, nicht ohne Protest jedenfalls. Das blieb mein Leben lang so.
Drei weitere Vorkommnisse in diesen frühen Jahren gingen meinem Gedächtnis nicht verloren. Glück hatte ich, dass ich, nachdem ich als Fünfjähriger wagemutig, vielleicht auch nur unvorsichtig in den Brunnen der unserem Haus in der Roonstraße gegenüber gelegenen Gärtnerei gefallen war, von der nur zwei Jahre älteren Tochter des Gärtners vor dem Ertrinken gerettet wurde. Von diesem Vorfall blieb eine – hin und wieder ausbrechende – latente Scheu vor Wasser, die einige Jahre später sogar zu der ängstlichen Weigerung führte, an einer Bootsfahrt über den Ziegenteich in Liegnitz teilzunehmen. Pech hatte ich, als ich von einem fünf Meter hohen hölzernen Telefonmast in der Roonstraße, den ich erklommen hatte – ich weiß heute nicht mehr, wie –, nicht ohne fremde Hilfe sicher wieder hinuntergelangte. Bevor das aber geschah, waren auf der Straße unter mir viele Menschen zusammengelaufen, gestikulierten und schrien auf mich ein. Meine Mutter, die geholt worden war, rang entsetzt die Hände, aber schwieg aus purer Angst, gewiss auch aus Scham über ihren Sohn: „… vor den Leuten“. Nachdem sie mich an der Hand nach Hause gezerrt hatte, schimpfte sie wütend und wortreich, schlug mich aber nicht. Später bin ich nie wieder so hoch auf irgendwelche Masten oder Bäume gestiegen. Dafür verstieg ich mich oft in hohe Ideen, was mir selten gut bekam. Ein weiteres Mal hatte ich Pech, als ich gemeinsam mit meinem Bruder...