2. Unsere Arbeitswelt heute
Die neue Arbeitswelt und ihre Belastungen
In einem der berühmtesten aller Kinderbücher, «Alice im Wunderland», beschrieb der Autor Lewis Carroll, ein schrulliger Oxford-Professor, Folgendes: Alice wird von der mörderischen roten Königin zu einem Wettlauf gezwungen und bemerkt schon am Rand der Erschöpfung, dass sie nicht vom Fleck kommt:
In unserer Gegend (sagte Alice, noch immer ein wenig atemlos) kommt man im Allgemeinen woanders hin, wenn man so schnell und so lange läuft wie wir eben.
Behäbige Gegend! sagte die Königin. Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst. Und um woanders hinzukommen, muss man noch mindestens doppelt so schnell laufen!54
Darauf erwidert Alice: «Ich möchte lieber nicht.» Dieser Ausweg der höflichen Verweigerung steht uns leider heute nicht mehr offen.
Immer mehr Menschen leiden unter dem Gefühl, in ihren Jobs immer schneller zu laufen – und trotzdem nicht voranzukommen, sondern bestenfalls die bereits erreichte Position halten zu können. Trotzdem müssen sie weitertraben wie auf einem Laufband, das von einem sadistischen Trainer immer schneller gestellt wird … In diesem Bild zeigt sich eine der häufigsten Klagen, ein Grundgefühl der aktuellen Befindlichkeit in der Arbeitswelt von heute: Das hilflose Leiden an der Beschleunigung. Schauen wir uns also etwas genauer an, was hier wie beschleunigt wird.
Nur selten wird ein wissenschaftliches Fachbuch weit über die Grenzen der eigenen Disziplin beachtet und diskutiert: Das Buch «Beschleunigung» des Soziologen Hartmut Rosa 2005 ist eine solche Ausnahme. Kaum eine große Zeitschrift, in der nicht auf diesen neuen Schlüsselbegriff Bezug genommen wurde.
Sichtlich hat Rosa den Nerv der Zeit getroffen, hat eine dringend benötigte begriffliche Klammer für Veränderungsprozesse auf vielen verschiedenen Ebenen geschaffen. Auch ich beziehe mich in den folgenden Ausführungen zur Beschleunigung aller Lebensbereiche über weite Strecken auf dieses Werk.55
Die Beschreibung der gesellschaftlichen Entwicklungen seit der Industriellen Revolution vor über 150 Jahren als «Beschleunigungsgesellschaft» ist nicht neu, seit einigen Jahren aber sind das Unbehagen und die zunehmende Belastung durch eben diese Beschleunigungsprozesse mehrheitsfähig geworden: Zeithunger, Zeitknappheit bezeichnen ein dominantes Gefühl sehr vieler Menschen in unserer Beschleunigungsgesellschaft: In fast allen Lebensbereichen besteht das Ziel darin, die Dauer von Handlungen, Prozessen und sogar Beziehungen zu verkürzen. Die Prophezeiung von Günther Anders ist zur Realität geworden:
Alles was dauert, dauert zu lange, und alles, was Zeit beansprucht, beansprucht zu viel Zeit.56
Rosa beschreibt einen «Akzelerations-Zirkel» durch technische Beschleunigung, Beschleunigung des sozialen Wandels und Beschleunigung des Lebenstempos. Nachdem Beschleunigung, Innovation per se als Fortschritt und als positiv eingeschätzt wird, laufen die Motoren dieser Beschleunigungsspirale immer hochtouriger:
Technische Beschleunigung
Die technische Beschleunigung wird angetrieben durch den ökonomischen Motor. Eigentlich sollte technischer Fortschritt, sollten immer bessere und schneller arbeitende Maschinen den Menschen mehr freie Zeit bringen – in der Realität aber spüren wir sowohl in der Lohnarbeit als auch im Haushalt ein immer stärkeres Anziehen des Arbeitstempos, um die geforderte Produktivitätssteigerung leisten zu können.
Beschleunigung des sozialen Wandels
Die technische Beschleunigung stößt wiederum die Beschleunigung des sozialen Wandels an. Diese wiederum wird weitergetrieben durch die funktionelle Differenzierung, die Entwurzelung fast aller Menschen aus ihren Herkunftsfamilien und sozialen Schichten. Dies verstärkt die Erosion aller traditionellen und überdauernden Strukturen: Familien, aber auch Institutionen, ja sogar letztlich die Dinge des täglichen Gebrauchs haben immer kürzere Lebenszeiten: Der bekannte Bibelspruch, dass «ein jedes Ding seine Zeit» habe (Prediger, III), gilt heute immer weniger: Nicht nur die nachweislich geplante kurze Verfallszeit vieler Geräte, auch die immer schnelleren Rhythmen der jeweils neuen, «verbesserten» beziehungsweise «upgedateten» Gebrauchsgegenstände führen zu einer Beschleunigung und Intensivierung des Wegwerfens: Die meisten Geräte, aber auch sehr viele Kleidungsstücke werden heute nicht mehr so lange verwendet, bis sie kaputt gehen – schon lange vorher sind sie unmodisch oder zu wenig effizient geworden (Handys, Unterhaltungselektronik etc.). Die Produktzyklen werden immer kürzer, weil ja auch sonst der Konsum nicht die für das Wirtschaftswachstum nötige Beschleunigung erreichen könnte. Dadurch aber können auch die Dinge des täglichen Lebens für uns immer seltener eine Bedeutung erlangen.
Dasselbe Prinzip des immer schnelleren Wandels betrifft auch Organisationsformen, Routinearbeitsabläufe in Institutionen und all jene Arbeitsbeziehungen, die in immer neu durcheinandergewürfelten Projektgruppen ein immer rascheres Ablaufdatum haben (müssen).
Beschleunigung unseres Lebenstempos
All diese Veränderungen wieder erleben wir als Beschleunigung unseres Lebenstempos, noch befeuert durch den kulturellen Motor, durch die Versprechen der Beschleunigung: Durch Dynamisierung aller Abläufe, Ereignisse, aber auch Beziehungen soll es für uns immer mehr Optionen in immer kürzeren Zeiträumen geben – die Verheißung eines fast schon rasenden Wandels, wobei die jeweils noch interessantere, befriedigendere Arbeit oder die noch bessere Beziehung immer noch vor uns liegen soll.
Durch diese Beschleunigungszyklen sowohl der alltagszeitlichen Tätigkeiten als auch der dadurch veränderten lebenszeitlichen Perspektiven fällt es vielen Menschen immer schwerer, ihr gegenwärtiges Leben als sinnvoll zu empfinden: Es gelingt ihnen nicht mehr, ihre Biografie als eine sowohl zusammenhängende als auch sinnstiftende Erzählung zu entwerfen – die von einer positiv erinnerten Vergangenheit zu einem erreichbaren Happy End in der mittleren Zukunft führt. Spätestens dann, wenn unsere Welt sich so viel schneller ändert, als wir als Subjekte uns in ihr bewegen können, wird unsere Beziehung zu dieser Welt problematisch, wird ein gelingendes Leben immer schwerer möglich.
Für das Gefühl eines zumindest einigermaßen gelingenden, wenn schon nicht guten Lebens sowohl in Arbeitsbeziehungen als auch privat brauchen die meisten heute in hohem Maß neue Kompetenzen wie Flexibilität, Offenheit für Veränderung, durchgehend autonom-aktives (oder in der heute allgegenwärtigen sinnentleerten Floskel: proaktives) Verhalten sowie auch Risikofreudigkeit und in höchstem Ausmaß Selbstverantwortlichkeit.
Aber selbst wenn all diese Attribute in ausreichendem Maß vorliegen sollten, bleibt der Erfolg schwer erreichbar: Denn parallel zu diesen neuen Qualitäten sollen die meisten im Job auch immer noch die alten und schon seit jeher geforderten Tugenden aufweisen: Verlässlichkeit, Ausdauer, Genügsamkeit und Loyalität! Der Balanceakt ist schwierig, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen erleben wir oft schmerzlich am eigenen Leib.
Ein Beispiel dafür ist die Situation vieler Beschäftigten im öffentlichen Dienst (wie z.B. im Gesundheitswesen), die sich «in der Doppelzange aus Markt und Bürokratie», wie Klaus Dörner es formulierte, hilflos fühlen. Ein Kollege formulierte es in einer Supervisionssitzung etwas deutlicher: «Wenn in meinem Krankenhaus die sture Bürokratie des 19. Jahrhunderts sich auf eine Beziehung einlässt mit dem Turbo-Kapitalismus des 21. Jahrhunderts: Wenn aus der Beziehung dieser beiden dann ein Kind entsteht – dann kann das nur ein hässlicher Bastard sein …»
Auf verschiedensten Ebenen leiden diese Kollegen unter der neuen Forderung der dynamischen und effizienten Kundenorientierung bei gleichzeitig sehr hohen Anforderungen in Richtung Dokumentationsaufwand und immer größerer Absicherung – auch hinsichtlich von Schadenersatzforderungen.
Die Gleichzeitigkeit dieser fast diametral entgegengesetzten Forderungen wird als oft schwer erträgliche Belastung erlebt – und prägt die Menschen in ihrer Rolle als Arbeitnehmer, als Produzenten wie auch in der Freizeit als Konsumenten. Von den noch vor zwanzig Jahren als so befreiend erlebten Chancen durch Veränderungen, durch Aufbrüche aus den alten «Gehäusen der Hörigkeit» (nach Max Weber) ist oft nur mehr die Überforderung geblieben – und die Angst. Die Angst davor, es irgendwann einmal nicht mehr zu schaffen, auf dem immer schnelleren Laufband im Job nicht mehr mitzukommen. Die Folgen sind bekannt – und wurden zuletzt vom österreichischen Sozialexperten Martin Schenk pointiert beschrieben: «Burnout ist die Erzählung davon, wie wir zusammenbrechen dürfen, ohne uns dafür schämen zu müssen.»
Beschleunigung auch nach Dienstschluss?
Nicht nur als Arbeitnehmer/Produzenten, sondern auch als Konsumenten sind wir meist unzufrieden – notwendigerweise unzufrieden: Heute sind Konsumhandlungen zu einem wesentlichen Teil unserer Identitätsarbeit geworden: Jeder von uns hat ein Bild davon im Kopf, wie er gern von anderen (und auch sich selbst) gesehen werden möchte. Jeder Kauf eines Markenartikels, jede noble oder coole Marke, die wir am Leib tragen, als Auto benutzen, als Urlaubsdestination aufsuchen –...