I. Frankreich im Mittelalter
1. Westfränkisches Reich und frühes Frankreich (843–1180)
Nachdem die Einheit des Fränkischen Reiches schon unter Kaiser Ludwig dem Frommen (814–840) brüchig geworden war, brachte der Vertrag von Verdun im August 843 die Aufspaltung in zunächst drei Hauptkönigreiche, darunter das Westfränkische mit Paris, das zum Kern des späteren Frankreich wurde. Damals prägte die lange Regierungszeit Karls des Kahlen bis 877 das Reich. Es handelte sich allerdings noch um eine Zeit des Übergangs, und er musste mit großen Schwierigkeiten ringen (Anspruch seines Neffen Pippin II. von Aquitanien, Kampf gegen die Bretonen). Wichtig war die Einigung mit dem als Korporation auftretenden Adel im Vertrag von Coulaines, der diesem eine starke Mitwirkung sicherte, ihn aber ebenso wie den hohen Klerus an den König band. Allerdings gelang es Karl nur mangelhaft, sein von Normanneneinfällen bedrohtes Reich wirksam zu verteidigen. Durch dieses Versagen des Königtums wurde die Stellung der bedeutenden Vasallen im Lande gestärkt, welche die Normannenabwehr organisierten. Unter den kurzen Regierungen der karolingischen Nachfolger Karls des Kahlen konnten die Könige deshalb keine bedeutende Machtposition erringen.
Als 888 mit Graf Odo von Paris für zehn Jahre zum ersten Mal ein Nichtkarolinger zum König gewählt wurde, der Paris erfolgreich gegen die Normannen verteidigt hatte, kam es zu 100 Jahre dauernden Auseinandersetzungen zwischen den Karolingern und den Robertinern bzw. Kapetingern um die Königswürde. Während das Königtum als solches im Gebiet des gesamten Westfränkischen Reiches anerkannt wurde («Legitimationsbereich»), war die effektive Herrschaft («Sanktionsbereich») auf die Kerngebiete (Oise-Aisne-Gebiet, seit 987 auch Pariser Becken bis Orléans) beschränkt. Die in den übrigen Regionen recht starken Prinzipate stellten damals jedoch «stabilisierende Einheiten» (Schneidmüller, Entstehung, 27f.) dar. Eine sehr mächtige Position nahmen die Herrscher der Normandie ein, die später im Jahr 1066 England eroberten und als englische Könige eine besondere Stellung hatten.
Als 987 mit kräftiger Hilfe des Erzbischofs Adalbero von Reims Hugo Capet (987–996) zum König und gleich darauf sein Sohn Robert II. (987/996–1031) zum Mitkönig gewählt wurden, ging die Herrschaft der Karolinger zu Ende, während das darauf folgende kapetingische Königshaus bis 1328 lückenlos regierte. Allerdings errang diese neue, durch die Kirche legitimierte Dynastie zunächst wenig Machtzuwachs, sodass das Königtum auch im 11. Jahrhundert weiterhin schwach blieb. Angesichts der führenden Rolle Frankreichs im kulturellen und sozialen Bereich und des Aufschwungs von Gewerbe und Handel mit dem Entstehen fester Märkte und der zentral gelegenen Messen in der Champagne konnte aber das lange Zeit machtlose Königtum im Bund mit dem Papsttum mehr und mehr aufsteigen. Im Rahmen einer wachsenden Konsolidierung der Monarchie gelang es den Kapetingern, die feudalen Gewalten allmählich zurückzudrängen und auszuschalten. Dabei kamen ihnen vor allem seit Philipp I. (1060–1108) das zunehmende Ansehen des Titels und der Stellung eines rex Francorum sowie die langen Regierungszeiten der Könige zustatten. Es glückte ihnen, die anfangs noch recht bescheidene Krondomäne auszuweiten und zu festigen.
Bei dieser allgemeinen Konsolidierung der Königsherrschaft spielte unter Ludwig VI. (1108–1137) der in Verwaltungsangelegenheiten besonders tüchtige Abt Suger von Saint-Denis eine wichtige Rolle. Dazu kamen militärische Erfolge. Der Nachfolger Ludwig VII. (1137–1180) festigte die Stellung der Monarchie weiter durch eine erfolgreiche Kirchenschutz- und Städteförderungspolitik. Auf diese Weise erlangte das Königtum eine immer größere Autorität und schuf die Grundlagen für eine Großmachtstellung, welche die Nachfolger Ludwigs VII. in Europa erringen konnten. Durch eine spezielle Königstheologie war dem französischen Monarchen gleichzeitig eine besondere Stellung eingeräumt worden, die mit der entscheidenden, vorbildhaften Position Frankreichs im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich zusammenhing.
2. Gesellschaft und Kultur bis zum 13. Jahrhundert
Für ganz Europa wurde die gesellschaftliche, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung, die sich in Frankreich vollzog, beispielgebend. Während das Königtum zunächst nach wie vor schwach war, gewann das durch seine großen Lehensfürstentümer geprägte Frankreich in diesen Bereichen seit dem 10. Jahrhundert einen Vorsprung. So verbreiteten sich von dort aus in einer Art West-Ost-Gefälle zahlreiche kirchliche, kulturelle und gesellschaftliche Anregungen und Einflüsse, vor allem auf den Gebieten der monastischen Bewegung, Baukunst, Schule und Wissenschaft, ferner in der Ausbildung einer ritterlichen Kultur und der Ausformung einer städtischen Bürgergesellschaft mit Stadtrecht.
Von besonderer Bedeutung für die Kulturgeschichte Frankreichs und bald auch ganz Europas erwies sich die Gründung der Benediktinerabtei Cluny in Burgund zwischen 908 und 910. Das Entscheidende war dabei, dass dieses Kloster zum Vorteil des mönchischen Lebens direkt dem Papst unterstellt und somit aus der weltlichen und bischöflichen Bindung gelöst wurde. Diese dadurch gewonnene Freiheit, die eine große Faszination auf den burgundischen Adel ausübte, und der glückliche Umstand, dass die ersten sehr fähigen Äbte in den Jahren 927–1109 lange regierten, führten dazu, dass sich Cluny damals zum bedeutendsten Reformzentrum für das abendländische Mönchtum und die Kirche entwickelte. Aufgrund cluniazensischer Reform wurde das Klosterleben streng durch die Regel des hl. Benedikt, die neugeschaffenen Consuetudines (Vorschriften) und eine besonders intensive Pflege der Liturgie geprägt. Dieses Leitbild erneuerte das mönchische und christliche Leben in Frankreich und von dort ausgehend in Europa. Etwa 150 Jahre lang wurde das abendländische Mönchtum von dem durch den sacer ordo cluniacensis gebildeten, straff an die burgundische Mutterabtei gebundenen Klosterverband beherrscht.
Das Mutterkloster Cluny erhielt mit der 1088 unter Abt Hugo neu erbauten gewaltigen Klosterkirche ein außerordentliches Zentrum. Dieses romanische Gotteshaus mit einer Länge von 187 m, zwei Querschiffen und fünf Glockentürmen war damals die größte Kirche des Abendlandes. Wie so viele Bau- und Kunstwerke wurde sie in der Revolutionszeit zerstört und 1798 großenteils als Baumaterial verkauft und abgebrochen.
Im 12. Jahrhundert erlebte Cluny allerdings einen allmählichen Niedergang, während, ebenfalls von Burgund ausgehend, ein junger Orden, die Zisterzienser, die monastische Erneuerung betrieb und von Frankreich aus ins übrige Europa weitertrug. Es handelte sich dabei um einen 1098 vom burgundischen Kloster Citeaux ausgehenden benediktinischen Reformorden, der 1108 unabhängig wurde. Auch hier gab es eine patriarchalische Überordnung des Mutterklosters über die Ortsgründungen. Diese Gemeinschaft, welche die Schlichtheit der Kirchenbauten, die Armut und die Handarbeit der Laienmönche (conversi) betonte, breitete sich, besonders unter dem Einfluss Bernhards von Clairvaux (1090–1153), schnell in Frankreich und dann in ganz Europa aus und spielte eine große Rolle bei der Urbarmachung neuen Landes. Die ordenstypische mystische, die Marienverehrung betonende Frömmigkeit prägte sehr stark die damalige Zeit. Neben den Zisterziensern war der ebenfalls von Frankreich ausgehende, auch zentral regierte Prämonstratenserorden, gegründet in Prémontré in der Nähe von Laon, von erheblicher Bedeutung bei der religiösen und geistlichen Erneuerung. Grundlage dieses Ordens (regulierte Chorherren) war die Augustinusregel.
Die Kirche beeinflusste jedoch nicht nur durch das Mönchtum und die Orden sehr stark die Entwicklung von Kultur und Gesellschaft, sondern auch durch die Bischöfe und den übrigen Klerus. Angesichts des schwachen Königtums kam zum Beispiel der Kirche eine große Rolle bei der Durchsetzung des Landfriedens in Frankreich zu. In der damaligen Situation galt nämlich die Fehde als legitimes Mittel der adeligen Gesellschaft, ihre subjektiv beanspruchten bzw. objektiven Rechte durchzusetzen. Um dieses Fehderecht und die damit verbundene allgemeine Gewaltanwendung einzuschränken, schritten, ausgehend von Südfrankreich, Klerus und Bischöfe ein. Diese erwirkten zunächst unter Androhung des Interdikts (Verbot aller kirchlichen Amtshandlungen als Strafe), dass grundsätzlich bestimmte Personengruppen (waffenlose Kleriker und Bauern) und Sachen (Kirchen, Häuser, Vieh, Früchte des Feldes) unter Schutz gestellt wurden. Ferner erreichten sie, dass wenigstens an bestimmten Tagen, in der Advents- und Fastenzeit sowie an Heiligenfesten, Waffenruhe einzuhalten sei (treuga dei). Die Bischöfe ließen die Friedenspflichten von den Adeligen per Eid beschwören und banden diese auf solche Weise in die Gottesfriedensbewegung ein. Dadurch wurden das Land und die Gesellschaft stabilisiert.
Die von der Kirche entwickelte...