Der Polizeiroman
Polizeiromane sind Romane über Städte, zuallererst, noch bevor sie Polizeiromane sind, oder: Sie sind Polizeiromane erst dann, wenn sie Romane über die Städte sind.
Frei zitiert nach Wolf-Eckart Bühler und Felix Hofmann, Polizei. Filmkritik, 1974
Zuerst sieht man nur die Skyline der Stadt, die klare Silhouette der Gebäude, die den Himmel zu berühren scheinen.
Es verschlägt einem den Atem.
Die Stadt ist riesig. Eine gigantische Big City, von pulsierendem Leben erfüllt. Ein Hexenkessel.
Und mittendrin das 87. Polizeirevier.
Es ist Ende Juli, Mitte der Fünfzigerjahre. Eine lähmende Hitze lastet auf der Stadt. Es wird gestöhnt und es wird geflucht. Aber die Männer vom 87. Polizeirevier machen dennoch ihre Arbeit.
Zwei Kollegen sind ermordet worden.
Dem einen wurden vor einem abbruchreifen Kino zwei Kugeln in den Kopf gejagt.
Den anderen hat es gleich nach Dienstschluss auf dem Heimweg erwischt.
Der eine ist ein Weißer, der andere ein Farbiger.
Beide sind mit derselben Waffe getötet worden. Mit einer Remington, Kaliber .45.
Polizisten hassen Cop-Killer. Sie wollen sie schnellstmöglich zu fassen kriegen, sie festnageln und sie ein für alle Mal zur Hölle schicken. Doch das braucht mitunter Zeit.
Das 87. Polizeirevier ist angesichts der Größe seines Zuständigkeitsbereichs völlig unterbesetzt. Nur 16 Detectives stehen Chef Lieutenant Peter Byrnes für den Stadtteil der Iren und der Italiener, der Juden in der dritten und der Puerto-Ricaner der ersten Generation zur Verfügung, für den riesigen Park und die 35 Stadtstraßen, die unzähligen Gassen und Hinterhöfe und für die Hochhäuser im Süden mit den exklusiven Wohnungen und Lofts.
90.000 Menschen leben in diesem Bezirk. Sie lieben und betrügen, sie hassen und sie töten. 186 Polizisten sind in drei Schichten rund um die Uhr auf Streife.
Steve Carella ist einer der Detectives des 87. Er ist ein großer, kräftiger Mann, hat braunes, kurz geschnittenes Haar, braune Augen und schmale Lippen. Seine Augenwinkel sind leicht nach unten gezogen und geben ihm etwas Orientalisches. Er ist dreiunddreißig Jahre alt und hat bislang an über drei Dutzend Mordfällen mitgearbeitet.
Steve Carella ist immer elegant gekleidet. In der Nacht des ersten Polizistenmordes trägt er einen blauen Anzug, ein weißes Hemd und eine graue Krawatte. Das hat Stil. Das ist der Italiener in ihm.
Sein Kollege Hank Bush tritt längst nicht so gepflegt auf. Er hat wildes und ungekämmtes rotes Haar und auf seinem rechten Arm eine von einem Messerstich herrührende Narbe.
Hank ist seit zehn Jahren mit Alice verheiratet, und ihr Anblick erregt ihn wie am ersten Tag. Sie ist blond, hat starke Brüste und lange, schlanke Beine. Sie ist ein rattenscharfes Weib, keine Frage, aber seit einiger Zeit blockt sie sein allabendliches Begehren ab.
Alice nämlich hat einen Lover, den sie angestiftet hat, ein paar Cops umzubringen – einzig und allein, um dann den Mord an ihrem Mann als eine weitere Polizisten-Hasser-Tat erscheinen zu lassen. Sie hat Hank satt bis zum geht nicht mehr, und ihr Lover tut, wie ihm geheißen. Er knallt den Detective Hank Bush ab.
Es ist der dritte Polizistenmord innerhalb weniger Tage.
Steve Carella stellt kurz darauf den Cop-Killer und erfährt die Wahrheit über die Frau des toten Kollegen.
»Warum gaben Sie ihm keine Chance?«, fragt er sie.
»Gab er mir denn jemals eine? Eingeschlossen in diese verdammte Wohnung, immer auf ihn warten zu müssen, bis er vom Dienst heimkam. Was ist denn das für ein Leben für eine Frau?«
»Sie wussten, als sie ihn heirateten, dass er ein Cop war«, sagt Carella.
Sie antwortet nicht.
Sie und ihr Lover werden zum Tod auf den elektrischen Stuhl verurteilt. Das ist geltendes Recht in dieser Stadt, in diesem Land, und das schon seit langer Zeit.
Der erste Fall der Cops vom 87. ist abgeschlossen. Steve Carella fährt in Urlaub und heiratet am 9. August die taubstumme Theodora »Teddy« Franklin.
Die Schlagzeile des Tages lautet: »Ende der Hitzeperiode.«[1]
Es ist Herbst.
Roger Havilland ist Police Detective dritten Grades des 87. Polizeireviers.
Er ist ein Meter achtzig groß und hat den Körper eines Ringers.
Er war einmal ein netter Mensch. Doch dann hat ihm irgend so ein Scheißkerl mit einem Bleirohr den Arm an vier Stellen gebrochen.
Es hat lange gedauert, bis Havilland wieder fit für den Dienst im 87. war. Aber da war er nicht mehr der nette Bulle.
Er ist zum bösen Bullen geworden, zu einem zornigen.
Und der Zorn hat ihn brutal werden lassen.
Ein anderer Brutalo zieht nächtens um die Häuser. Er überfällt Frauen, entreißt ihnen die Tasche und schlägt sie zusammen. Dann macht er eine tiefe Verbeugung und verabschiedet sich mit den Worten »Clifford dankt Ihnen, Madame.«
Detective Havilland kann den Mann stellen. Doch der versucht zu entkommen. Pech für ihn. Denn das gibt Havilland die Gelegenheit, das zu tun, was er am liebsten tut. Er donnert dem Kerl voll in die Fresse.
Havillands Partner bei dieser Aktion ist Hal Willis. Er ist der kleinste Detective des Reviers. Bei ihm hat es gerade zur vorgeschriebenen Mindestgröße gereicht. Aber wehe, wer glaubt, mit Willis habe man ein leichtes Spiel. Hal Willis ist Judoexperte und legt jeden noch so schweren Brocken aufs Kreuz.
Roger Havilland und Hal Willis profilieren sich als die Kampfmaschinen des Reviers. Der eigentliche Held in diesen Herbsttagen aber ist der Streifenpolizist Bert Kling. Er ist bei der Jagd nach dem Cop-Killer versehentlich angeschossen worden. Nach einem öden Krankenhausaufenthalt wird er von seinem Chef zu einer weiteren Woche Genesungsurlaub verdonnert. Das schmeckt ihm nun gar nicht. Also lässt er sich nicht allzu widerstrebend von einem alten Bekannten und dessen Frau überreden, ein familiäres Geheimnis aufzudecken: Die siebzehnjährige Schwester der Frau verhält sich merkwürdig. Sie ist äußerst wortkarg und wirkt verstört.
Kurze Zeit später wird sie tot aufgefunden.
Bert Kling ist vierundzwanzig Jahre alt. Er ist ein großer, gut aussehender Mann mit breiten Schulter und strohblondem Haar. Der typische American Boy aus dem Mittelwesten. Kling hat in Korea gekämpft und alle Schrecken des Krieges gesehen. Er sehnt sich nach lieben Mädels und trifft bei seinen Nachforschungen auf Claire Townsend.
Claire ist im Daniel-Woodrell-Land, in den Ozarks, großgeworden und macht es Kling nicht leicht.
Der einfache Streifenpolizist findet schließlich heraus, dass die Siebzehnjährige von ihrem Schwager schwanger war und auch von ihm getötet wurde. Den Fall aufgeklärt zu haben ist Klings Ticket in Chef Lieutenant Byrnes Abteilung als Detective dritten Grades.
Steve Carella kommt aus seinem Hochzeitsurlaub zurück: »Ein neuer Arbeitstag begann.«[2]
»Der Winter brach herein wie ein Anarchist mit einer Bombe.«
Schnee und klirrende Kälte also. Keine gute Zeit, sich in einem Kellerloch aufzuknüpfen. Doch Detective Steve Carella glaubt nicht an den Selbstmord des jungen Puerto-Ricaners. Er hat Bert Kling unter seine Fittiche genommen und ermittelt gemeinsam mit ihm in Sachen Mord. Noch wissen sie nicht, dass ihr Chef Lieutenant Peter Byrnes gewaltig unter Druck steht. Ein anonymer Anrufer hat Byrnes verklickert, dass sein Sohn ein Junkie ist. Und nicht nur das: Er soll dem Erhängten auch den »Goldenen Schuss« verabreicht haben.
Es ist ein übles Spiel, das mit Byrnes getrieben wird. Aber er muss sich auch vorwerfen, sich nie richtig um seinen Sohn gekümmert zu haben. Um ihn vom Stoff zu entwöhnen, sperrt er ihn zu Hause ein.
»Oh, Himmel, ich und krank. Ja, stimmt, ich bin krank, weil ich das alles hier satt habe. Ich bin krank von der Art, wie hier alle mit mir umgehen. Ich hab dir gesagt, dass ich nicht süchtig bin. Ich kann jederzeit los von dem Stoff. Was muss ich tun, um es dir zu beweisen?«
»Du bist süchtig und du hängst fest.«
»Ich bin süchtig, bin süchtig. Ist das alles, was du zu sagen weißt? Himmel, wie konnte ich nur an so einen biederen Vater geraten!«
»Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss.«
»Geht das schon wieder los? Der enttäuschte Vater als Märtyrer. Das habe ich seit meinem achten Lebensjahr immer wieder im Kino gesehen. Komm mir bloß nicht damit, auf diesem Ohr bin ich taub.«
Es ist Steve Carella, der den wahren Mörder des puerto-ricanischen Dealers stellt – und von ihm niedergeschossen wird.
Byrnes eilt zu dem lebensgefährlich Verletzten ins Krankenhaus.
Carellas Frau Teddy kommt ihm auf dem Flur entgegen.
»Steve? Geht es ihm besser?«
Sie las die Worte von seinen Lippen. Dann nickte sie, zuerst verhalten und dann voll überquellender Freunde. Sie warf sich Byrnes in die Arme. Er hielt sie fest und hatte plötzlich das starke Empfinden, sie sei seine Tochter. Die Tränen auf seinem eigenen Gesicht überraschten ihn. Vor dem Krankenhaus läuteten die Kirchenglocken. Es war Weihnachten und die Welt wieder in Ordnung.[3]
... Jingle bells, jingle bells, jingle all the way.
O, what...