Einleitung
Das Urteil über Thomas Müntzer unterliegt starken Schwankungen. Die einen brechen den Stab über den «ruhelosen Fanatiker», und die anderen bewahren dem «uneigennützigen Streiter für Wahrheit und Gerechtigkeit» ein ehrendes Andenken.[1] Faszination und Abwehr bestimmen den Umgang mit ihm. So ist es im Laufe der Jahrhunderte stets gewesen, und so war es schon zu seinen Lebzeiten. Sein Name sei, schrieb er einst, «dem armen durfftigen heufflin eyn susser geroch des lebens vnd den wollustigen menschen eyn misfallender grewell des swynden vorterbens».[2] An Thomas Müntzer scheiden sich die Geister – damals wie heute. Für manche ist er der Vorkämpfer für eine gerechte Gesellschaft, für andere ein Utopist oder Schwärmer, ein Prototyp unerhörter Widersetzlichkeit, gelegentlich auch ein Theologe, dessen Kritik an den Missbildungen in Kirche und Gesellschaft nicht in den Wind geschlagen werden sollte.
In den Jahren, in denen das fünfhundertjährige Reformationsjubiläum vorbereitet wird (1517–2017), fällt die Aufmerksamkeit besonders auf Martin Luther und sein Werk. Auf den ersten Blick ist das verständlich; eigentlich aber gilt es, die Anfänge der Reformation in Deutschland zu feiern und nicht einen einzigen Reformator oder die ausgereifte Gestalt des lutherischen Protestantismus. Die Anfänge waren turbulent und ihr Ausgang ungewiss, die Bemühungen um eine Erneuerung der Christenheit waren diffus und tentativ. Nachdenkliche und Eigenwillige, Gelehrte und Laien, Ungestüme und Zauderer, Friedfertige und Militante: Alle waren sie auf der Suche nach einer «trefflichen unüberwindlichen, zukünftigen Reformation», die Thomas Müntzer, der frühe Gegenspieler Martin Luthers, seinen sächsischen Landesherren in einer aufrüttelnden Predigt 1524 auf dem Schloss zu Allstedt in Aussicht stellte. Die Reformation entstand aus dem Gewirr vieler Stimmen, und Müntzers Stimme gehörte dazu.
Auf einem modernen Wandbild in der Dorfkirche zu Alt-Staaken in Berlin-Spandau steht Thomas Müntzer mit Martin Luther und Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon, Lucas Cranach d. Ä., Johannes Bugenhagen und Johannes Calvin unter dem Kreuz Christi. Der italienische Kommunist Gabriele Mucchi hat dieses Wandbild nach dem Fall der Mauer, die diesen Ort einst teilte, gemalt und Thomas Müntzer, dessen Leichnam nach der Hinrichtung vor den Toren Mühlhausens zur Schau gestellt und ohne kirchliches Geleit verscharrt worden war, in den Schoß der Kirche zurückgeführt. Sich unter das Kreuz Jesu Christi zu stellen, ist das Bekenntnis, auf göttliche Zuwendung und Erlösung aus Sünde und Schuld angewiesen zu sein. Wenn sich eine historische Epoche in einer Botschaft an die Nachwelt Ausdruck zu schaffen vermag, dann ist es für die Reformationszeit dieses Bekenntnis, an dem auch Thomas Müntzer mitgewirkt hat: Die Epoche, die als Zeitalter der Glaubensspaltung in die Geschichte einging, war im Grunde von einer tiefen Sehnsucht nach «versöhnter Einheit» erfüllt. So wurde das Wandbild von Alt-Staaken benannt.
Ein Reformator, der die gesellschaftlichen Verhältnisse radikal ändern wollte und dabei auf heftigen Widerstand stieß, ja, darüber sogar sein Leben verlor, hat gute Chancen, später einmal in die ideologischen Auseinandersetzungen um eine bessere Gesellschaft hineingezogen zu werden. Das geschah bereits im Zuge der Französischen Revolution und im deutschen Vormärz, im Kampf um die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, zuletzt in den Spannungen des Kalten Krieges zwischen Ost und West und unter den Befreiungstheologen in Lateinamerika. Einerseits wurde Thomas Müntzer als Symbolfigur des Sozialismus verehrt und andererseits als Schwärmer oder Inkarnation des Bösen abgelehnt. Diese Auseinandersetzungen waren für ihn ein Glücksfall, denn sie brachten ihn ins Gerede und regten intensive Forschungen zu seinem Wirken an. So wurde er allmählich von Verunglimpfung und Denunziation befreit und zu einer historischen Gestalt, die in der Lage war, Historiker und Theologen in Ost und West miteinander ins Gespräch zu bringen und sich gemeinsam um ein historisch angemessenes Verständnis der Reformation in Deutschland zu bemühen. Seither ist Müntzer aus dem wissenschaftlichen Diskurs um den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit nicht mehr wegzudenken. Die intensive und weitverzweigte Beschäftigung mit ihm wird auf eindrucksvolle Weise in der voluminösen Bibliographie dokumentiert, die von Marion Dammaschke und Günter Vogler 2013 vorgelegt wurde.[3]
Die Zeit des Kalten Krieges war in Deutschland die heißeste und zunächst ideologischste Phase der Müntzer-Forschung, bis sich in den 1980er Jahren die Müntzer-Deutungen in Ost und West einander annäherten. Aus dem Sozialrevolutionär avant la lettre wurde im Osten ein Theologe, der die «frühbürgerliche Revolution» vorantrieb, und aus dem schwärmerischen Himmelsstürmer wurde im Westen ein Prediger, der aus der Glut spätmittelalterlicher Frömmigkeit Funken schlug, die eine eigene reformatorische Theologie entfachten und eine «treffliche unüberwindliche, zukünftige Reformation» erwarten ließen. Animose Wissenschaftspolemik begann gegenseitiger Gesprächsbereitschaft zu weichen.
So wurden im Osten die älteren marxistisch-leninistischen Darstellungen Moisej M. Smirins und Manfred Bensings von Biographien abgelöst, die auf der Grundlage einer inzwischen ausgearbeiteten Theorie der frühbürgerlichen Revolution im Jubiläumsjahr 1989, als Müntzers fünfhundertster Geburtstag begangen wurde, eine revidierte Sicht dieses Reformators boten. Max Steinmetz veröffentlichte bereits 1988 eine Studie zur Frühentwicklung Thomas Müntzers, Gerhard Brendler und Günter Vogler folgten mit Gesamtbiographien im darauffolgenden Jahr.[4] Im Westen, in dem hier und da nur Spezialisten auf kleineren Konferenzen an Müntzer erinnert hatten, erschienen in jenem Jahr die Studien Ulrich Bubenheimers zu Herkunft, Bildung und frühreformatorischem Wirken Müntzers, Tom Scotts englischsprachige Biographie und meine biographische Darstellung Thomas Müntzer. Mystiker, Apokalyptiker, Revolutionär, die jetzt in einer revidierten und erweiterten Fassung wieder vorgelegt wird.[5]
Wer Müntzer damals darstellen wollte, musste sich vom Zwang befreien, die Prinzipien der Deutung entweder nur in der Auseinandersetzung um soziale Ziele oder nur um die Bewegung des theologischen Gedankens zu suchen. Meine Biographie versuchte, die antagonistischen Deutungsalternativen, entweder Theologe oder Sozialrevolutionär, wie sie im Westen noch die monumentale Müntzerbiographie Walter Elligers bestimmten,[6] aufzulösen. Sie nutzte die Einsicht, dass die theologischen Überlegungen Müntzer mit innerer Konsequenz in den sozialen Kampf seiner Zeit führten und die reformatorische beziehungsweise revolutionäre Bewegung prägten. Gleichzeitig griff sie die Beobachtung auf, dass die gesellschaftlichen Spannungen der frühen Reformationszeit die Atmosphäre waren, in der seine Gedanken allmählich Gestalt annahmen – nicht in freischwebender Beliebigkeit, sondern in strengem Bezug auf die konkreten Erfahrungen im reformatorischen Aufbruch.
«Das Volk sind wir» – als diese Losung im Herbst 1989 in Kirchen, auf Straßen und Plätzen hier und da in Ostdeutschland skandiert wurde, wird mancher an das trotzig verheißungsvolle Wort Müntzers am Ende der Hochverursachten Schutzrede gedacht haben: «Das Volk wird frei werden und Gott allein will der Herr darüber sein.» Ich erinnere mich, wie Max Steinmetz mir auf einer Treppe in der Universität Halle, wo der Internationale Wissenschaftliche Kongress zum fünfhundertjährigen Geburtstag Thomas Müntzers im September 1989 stattfand, kopfschüttelnd zuraunte: «Nein, nein, mit Müntzer ist kein Staat zu machen.» Der Nestor der Müntzerforschung und Nationalpreisträger der Deutschen Demokratischen Republik muss das Ende seines Staates vorausgeahnt und sich eingestanden haben, dass es falsch war, staatliches Handeln mit Müntzer legitimieren zu wollen. Müntzer hatte das Heil in der religiös inspirierten Veränderung dieser Welt gesucht und nicht in der Stabilisierung bedrückender Lebensverhältnisse. Sein Wirken hat sich gegen eine einseitig soziale und politische Interpretation gesperrt und dazu angeregt, den Weg weiterzuverfolgen, die theologische Dimension seines Denkens mit den konkreten Verhältnissen in Kirche und Gesellschaft zu verknüpfen und immer deutlicher zum Ausdruck zu bringen.
Mit dem Fall der Mauer in Berlin geriet Thomas Müntzer zwar nicht in Vergessenheit, wohl aber begann die Erinnerung an ihn zu verblassen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihm wurde in ruhigere Bahnen gelenkt, riss aber nicht ab. Impulse aus den unterschiedlichen Forschungsansätzen in Ost und West flossen in die Arbeit der Thomas-Müntzer-Gesellschaft ein, die 2001 in Mühlhausen gegründet wurde und die Aufgabe übernommen hat, die Erinnerung an Müntzer zu pflegen, weitere Forschungen zu begleiten und zu fördern. So sind nicht nur neue Beiträge zur Gedankenwelt Müntzers entstanden, sondern...