EINLEITUNG
In kaum einem Werk, das sich mit der Finanz- und Wirtschaftsgeschichte Mitteleuropas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befasst, fehlt der Name jenes Mannes, unter dessen Ägide BMW zum Automobil- und Motorradproduzenten wurde und dessen Beteiligungskonsortium zu Beginn der 1920er Jahre nur wenige Großunternehmen und Banken in Österreich, Italien und Deutschland unberührt ließ: Camillo Castiglioni. Doch dem Italiener haften vor allem zwei Attribute an: erstens »pescecane« (Haifisch) und zweitens »Inflationsgewinnler«. Schlimmer: Permanent schimmert bei dem in Triest geborenen »Sohn eines Oberrabbiners« – so der immer wieder kolportierte Abstammungshinweis – das nationalsozialistisch geprägte Zerrbild des »Finanzjuden« als Untermalung durch.
Höchste Zeit also, mit den Klischees aufzuräumen.
Schon was seine Geburt betrifft, gilt es, die gängige Lesart zu revidieren. Als Camillo Castiglioni am 22. Oktober 1879 in Triest zur Welt kommt, ist sein Vater Vittorio nicht Oberrabbiner, sondern lehrt Mathematik an einer Handelsschule der Hafenstadt. Erst fünfundzwanzig Jahre später wird er Oberhaupt der israelitischen Gemeinde Italiens. Zu diesem Zeitpunkt hat sich sein Sohn Camillo längst als »Geschäftsmann« in Wien niedergelassen. Anstatt wie sein älterer Bruder Arturo eine akademische Laufbahn anzustreben, hat Camillo Castiglioni eine Lehre in einer Wechselstube Triests absolviert und den Umgang mit internationaler Klientel, mit Wertpapieren und Devisen gelernt. Daneben begeistert sich der Heranwachsende für alles, was rollt und fährt und fliegt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert geht er als Vertreter der Österreichisch-Amerikanischen Gummiwerke (heute: Semperit) nach Konstantinopel. Zwei Jahre später folgt er dem Ruf in die Haupt- und Residenzstadt Wien, um dort die Exportabteilung der Gummiwerke zu leiten. 1907 ist er deren Direktor, zwei Jahre später bestimmt er auch die Geschicke des Automobil- und Flugmotorenherstellers Österreichische Daimler Motoren Gesellschaft, kurz: Austro-Daimler. Einem sicheren Gespür für Inszenierung folgend, lässt Castiglioni in seinen Gummiwerken eine Lenkballonhülle und bei Austro-Daimler einen passenden Motor bauen, um gemeinsam mit Chefkonstrukteur Ferdinand Porsche im November 1909 zu einem spektakulären Lenkballon-Rundflug um den Wiener Stephansdom zu starten. Obwohl die Technologie nur begrenzt militärtauglich ist, zieht Castiglioni mit der Aktion die Aufmerksamkeit Kaiser Franz Josephs I. auf sich, der den Dreißigjährigen denn auch umgehend zum Kommerzialrat ernennt.
Das Prinzip, sich die Mächtigen durch Gefälligkeiten zu verpflichten, wird zum Treibsatz für den raschen Aufstieg. Durch die großzügige Unterstützung des Österreichischen Aero-Clubs, zu dem Mitglieder der kaiserlichen Familie, hohe Militärs und prominente Wirtschaftstreibende gehören, gelingt es Castiglioni, sich in eine derart privilegierte Position zu bringen, dass er frühzeitig von der geplanten massiven Aufrüstung der Gemeinsamen Armee der Doppelmonarchie mit Militärflugzeugen erfährt. Castiglioni gründet eine Luftfahrzeug-Handelsfirma und erwirbt die Mehrheit an zwei Flugzeugwerken. Chefkonstrukteur soll der bei den Hansa und Brandenburgischen Flugzeugwerken GmbH tätige Ernst Heinkel werden. Als dieser das Angebot ablehnt, erwirbt Castiglioni als Kopf eines Konsortiums die Hansa-Brandenburg – einschließlich Heinkel – kurzerhand und bringt sich bis zum Kriegsausbruch 1914 als Großlieferant der k.u.k. Luftfahrtruppen in Position. Fast jeder Fahrzeug- und jeder Flugmotor stammt von Austro-Daimler, jedes zweite Kampfflugzeug aus Castiglionis Fabriken. Eines der erfolgreichsten Jagdflugboote – die Hansa-Brandenburg CC – führt sogar Castiglionis Initialen.
Bereits 1917 begreift Castiglioni, dass der Krieg für die deutsch-österreichische Allianz nicht zu gewinnen ist. Ahnend, dass die Luftfahrtindustrie in den Verlierer-Ländern nach dem Krieg längerfristig zum Erliegen kommen wird, stößt Castiglioni seine Flugzeugfabriken ab und parkt die Erlöse in Dollar auf Schweizer Konten. Zur Abwicklung künftiger Geschäfte erwirbt er die kleine, aber feine Allgemeine Depositenbank in Wien. Vor allem aber nutzt er nach Kriegsende die durch den Friedensvertrag gegebene Möglichkeit, die italienische Staatsbürgerschaft anzunehmen, und erhält damit – als einer »Siegermacht« zugehöriger Ausländer – gleichsam freie Hand für künftige geschäftliche Aktivitäten.
Nahtlos gelingt Camillo Castiglioni der Übergang vom Protegé des österreichisch-ungarischen Monarchen zur wirtschaftlichen Zentralfigur der Ersten Republik. Inmitten von ökonomischem Chaos, veralteten Strukturen, schwächelnder Industrie, unstabilen Finanzsystemen und um sich greifender Inflation steht Castiglioni mit seinen Dollarreserven (wie ein Zeitgenosse bemerkt) »gleich einer Krake bereit, seine Tentakel auszustrecken, um die Beute an sich zu reißen«. Mit »Beute« gemeint sind Industriebetriebe in Bayern und auf dem Balkan sowie die »Leckerbissen« unter den Industriebetrieben der ehemaligen Monarchie – darunter fast alle österreichischen Automobilhersteller und ein Großteil der österreichischen Papierindustrie.
Innerhalb von sechs Jahren kauft Castiglioni durch geschicktes Ausnutzen der in den verschiedenen Ländern zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlicher Stärke wirksamen Inflation ein aus Dutzenden Aktiengesellschaften bestehendes Firmenimperium zusammen und häuft dabei neben einem stattlichen Vermögen einen nicht minder stattlichen Schuldenberg an. Wie bei seinem Kooperationspartner Hugo Stinnes ist auch bei Castiglioni das erste Prinzip die Vermögensmehrung: Kaufe jetzt und zahle später in inflationsentwerteter Währung. Und wie Stinnes gilt damit von nun an auch Camillo Castiglioni in der öffentlichen Wahrnehmung als »Kriegsgewinnler« und »Inflationskönig«.
Castiglioni hält dagegen, indem er eine imagefördernde Presse finanziert und als Kunst- und Kulturmäzen in Erscheinung tritt. 1916 hat er in zweiter Ehe die um sechzehn Jahre jüngere Schauspielerin Iphigenie Buchmann geheiratet, deren Auftritt in Arthur Schnitzlers Bühnenstück Das weite Land auch in der New York Times Erwähnung fand. 1923 finanziert Castiglioni zugunsten Max Reinhardts Umbau und Neuausstattung des Wiener Theaters in der Josefstadt im Stil des venezianischen Teatro La Fenice. Vor allem aber stattet er sein mit Inflationsgeldern erworbenes Palais nahe dem Schloss Belvedere mit Schätzen des europäischen Kunsterbes aus, lässt Decken aus italienischen Palazzi importieren und hält in der Manier italienischer Renaissancefürsten Hof. Längst reist der rundliche Triester im Salonwagen des letzten österreichischen Kaisers durch die Lande. Bevorzugtes Ziel an den Wochenenden ist seine 1920 erworbene Villa am Grundlsee. Hier sind die engeren Freunde zu Gast, darunter Hugo von Hofmannsthal und Anton Rintelen, Landeshauptmann der Steiermark, hier feiert er mit großer Geste den Geburtstag seiner Frau, zu dem er die damals berühmteste Gesangsgruppe der Welt – die Revelers – engagiert. Dass Castiglionis Grundlseer Villa kaum zwei Jahrzehnte später den Großteil der geplanten »Führerbibliothek« beherbergen wird, ist zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig vorstellbar wie der Zusammenbruch seines gewaltigen Finanzimperiums.
Etwa fünf Jahre lang wird Camillo Castiglioni von Wirtschaft, Politik und einem Teil der Presse wie ein Monarch hofiert, während er zugleich geschickt die Rolle eines diplomatischen Mittlers in Europa übernimmt. Besonders Benito Mussolini schätzt seinen Landsmann, der erkennbar italienische Interessen in Österreich vertritt und zu Beginn der 1920er Jahre eine erste US-Anleihe für Italien vermittelt. Ungeachtet der in hauseigenen Blättern platzierten »Homestorys« und Lobgesänge sind ab 1922 sowohl in der rechts- als auch in der linksgerichteten Presse zunehmend kritische bis aggressive Stimmen zu vernehmen. Vor allem der Satiriker Karl Kraus feuert in seiner Fackel publizistische Breitseiten gegen Castiglionis »Triumphzug des Raubes auf der Stätte des Menschenmords«, während er zugleich einräumt, dass Castiglioni »mit allen Poren seines Körpers die Zusammenhänge jeglichen Geschehens« begreift.
Bis 1924 gilt diese Einschätzung nahezu uneingeschränkt, doch dann, mit dem Zusammenbruch der Depositenbank, beginnt sich das Blatt für Castiglioni zu wenden. Zwar hatte sich Castiglioni bereits 1922 von Anteilen und Aufsichtsratsmandat getrennt, dennoch richtet sich das Interesse von Staatsanwaltschaft und Presse vor allem auf seine Person. Eine Woche lang beherrscht der Fall die Schlagzeilen von New York über Rom bis Wien, bevor Justizminister Leopold Waber und Bundeskanzler Ignaz Seipel die Justiz zurückpfeifen, was auch die Tagespresse verstummen lässt.
Dem »Inflationskönig« bleibt es damit vorbehalten, seinen Sturz selbst zu inszenieren. Seitdem sich – nach dem Stopp der deutschen Hyperinflation im November 1923 – Schulden nicht mehr inflationsbedingt »von selbst« bereinigen, sondern in harten Devisen beglichen werden müssen, hat sich die Situation für Camillo Castiglioni geändert. Zins- und Tilgungsfälligkeiten drohen, und Castiglioni, der seit 1918 unablässig expandierte, ohne je die Kunst der Konsolidierung geübt zu haben, steht erstmals vor Liquiditätsproblemen. Rettung verspricht da unversehens die seit Ende 1923 gegen den französischen Franc gerichtete weltweite Spekulation. Ihr schließt sich Castiglioni im Januar 1924 in der Hoffnung an, binnen weniger Wochen das benötigte »große« Geld zu verdienen. Doch der »pescecane« hat seine Rechnung ohne den noch größeren »Hai« J.P. Morgan, Jr. gemacht. Während Castiglioni den...