Das Subsystem Wirtschaft
Was ist eigentlich Wirtschaft, und was ist Markt? In diesem Kapitel wird folgende Sprachregelung vorgeschlagen: Der Markt ist einer der zahlreichen Koordinationsmechanismen, mit denen die Menschen ihre wertschöpfenden Tätigkeiten organisieren. Das Merkmal, das den Markt von den anderen Koordinationsmechanismen unterscheidet, ist die Verwendung von Geld. Doch aufgepasst: Bloß die Hälfte bis ein Viertel aller wertschöpfenden Tätigkeiten haben einen Geldwert – mit abnehmender Tendenz! Die Marktmechanismen treten nur selten in reiner Form auf. Meist sind sie mit anderen Organisationsprinzipien gemischt.
Wer über etwas nachdenkt, sollte sich zuerst einmal überlegen, in welchen Gesamtzusammenhängen das Objekt seines Nachdenkens steht, und welchen Trends diese Zusammenhänge unterliegen. Gerade die Ökonomen vergessen nur zu leicht, dass die Marktwirtschaft bloß ein Subsystem im sozialen Gefüge ist. Deshalb zunächst einmal ein Versuch einer Einordnung.
Der Markt ist eines von vielen Ordnungsprinzipien, nach denen die Menschen den sozialen Austausch regeln. Professor Samuel Bowles von der University of Massachusetts hat dies wie folgt formuliert: »Die Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen wird in jeder Gesellschaft durch eine Anzahl von Regeln organisiert, namentlich durch Zuteilung auf Befehl, durch patriarchalische und gewohnheitsmäßige Zuteilung basierend auf Geschlecht, Alter oder Familienbande, ferner durch Gaben, Diebstahl, direkten Tausch und natürlich auch durch die Märkte. Je nachdem, wie diese Regeln kombiniert sind, kann man Gesellschaften als >kapitalistisch<, >patriarchalisch<, >traditionell<, >kommunistisch< oder als >korporativ< bezeichnen. Diese verschiedenen Zuteilungsregeln entscheiden darüber, wie sich jemand verhalten muss, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.«
Bowles erwähnt den Markt gleichsam nur im Vorübergehen. Das ist überraschend, denn wir sind es gewohnt, alles, was mit Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen zu tun hat, mit dem Markt schlechthin gleichzusetzen. Vor allem die Ökonomen halten von vornherein nur das für Wertschöpfung, was gegen Geld produziert und auf dem Markt ausgetauscht wird. Umgekehrt wird auch automatisch alles, was irgendwie mit Geld zu tun hat, dem Markt zugeordnet. Dabei wird übersehen, dass all das, was innerhalb der Unternehmen geschieht, eben nicht durch den Markt, sondern durch Befehl, Hierarchie oder durch eine »politische« Ausrichtung koordiniert wird.
Der wichtigste Ausdruck dieser Gleichsetzung von Wertschöpfung und Markt ist das Bruttosozialprodukt, in welchem alle gegen Geld ausgetauschte Wertschöpfung zusammengezählt wird.
Nun gibt es aber neben dem Geld noch einen anderen, umfassenderen gemeinsamen Nenner – die Zeit. Die Zeit erlaubt es uns, Dinge miteinander zu vergleichen, unabhängig davon, ob sie gegen Geld getauscht werden können oder nicht. Mit Hilfe dieses gemeinsamen Nenners können wir in einer ersten Annäherung erst einmal versuchen, die Bedeutung der Geldwirtschaft mit der Gesamtheit der wertschöpfenden Tätigkeiten zu vergleichen.
Der amerikanische Wirtschaftshistoriker und Nobelpreisträger Robert W. Fogel hat dazu folgende Daten erhoben:
Zeitbudget* in Stunden pro Tag
Diese Zeiten gelten für einen werktätigen männlichen Haushaltsvorstand in den USA. Wenn man annimmt, dass die Rubriken Lohnarbeit, Hausarbeit und Freizeit die Gesamtheit der nutzenstiftenden Tätigkeit bilden, so hat sich der »Marktanteil« der Geldwirtschaft an der gesamten Wertschöpfung wie folgt entwickelt: 1880: 69 Prozent; 1995: 38 Prozent; 2040: 29 Prozent.
Wenn man berücksichtigt, dass nur rund drei Viertel aller 20- bis 65jährigen überhaupt beschäftigt sind, dass Frauen weniger Lohnarbeit verrichten, und dass die lohn- und arbeitslose Lebenszeit seit 1880 dramatisch zugenommen hat, dann fällt der Anteil der Lohnarbeit heute insgesamt noch deutlich geringer aus als 38 Prozent.
Nun kann man sich natürlich darüber streiten, ob es erlaubt ist, eine Stunde Lohnarbeit plus eine Stunde Hausarbeit plus eine Stunde Freizeit ohne weiteres zu drei Stunden nutzenstiftender Tätigkeit zu addieren. Folgende Argumente stellen diese Gleichsetzung in Frage:
Im Geschäft wird normalerweise härter gearbeitet als in der Freizeit.
Die Hausarbeit erfordert meist geringere Qualifikationen und weniger Kapitaleinsatz als Lohnarbeit.
Dass für eine Leistung nichts bezahlt wird, beweist, dass sie auch nichts wert ist.
Bei einigem Nachdenken kommt man aber auch auf viele Gegenargumente:
Viele Tätigkeiten sind zu wichtig, als dass man sie dem Markt überlassen könnte, beispielsweise die Fortpflanzung und die Erziehung der Kinder. Auch die Kranken- und Altenpflege geschieht weitgehend im Familienkreis.
Freizeitaktivitäten, etwa im Schrebergarten, bringen zwar oft wenig fassbaren Output, dafür macht die Arbeit viel Spaß und Freude, was auch Nutzen stiftet.
Für eine immer größere Zahl kommerzieller Tätigkeiten (etwa für die Herstellung von Swatch-Uhren) muss die Nachfrage erst künstlich und mit großem Werbe- und Marketingaufwand geschaffen werden.
Auch abgesehen von der Werbung sind viele bezahlte Tätigkeiten mit einem hohen organisatorischen Aufwand und Leerlauf verbunden, so dass man sich nur schwer vorstellen kann, dass freiwillige und unbezahlte Tätigkeit tatsächlich ineffizienter ist.
Schließlich gilt nach der reinen Lehre des Marktes ohnehin die Gleichung, dass der Output der letzten Arbeitsstunde genau gleichviel Nutzen bietet wie die letzte zusätzliche Mußestunde. Der Wert einer Stunde ist also immer genau gleich, unabhängig davon, wofür sie verwendet wird.
Wenn man all dies in Betracht zieht, macht sich Fogel wohl kaum der Übertreibung schuldig, wenn er zusammenfassend feststellt: »Das Geldeinkommen macht heute nicht einmal mehr die Hälfte des gesamten Konsums aus, und in einer Generation wird es wohl nur noch ein Viertel sein.«
Mit dieser Feststellung haben wir zwar die Geldwirtschaft in ihre Schranken gewiesen, aber noch nichts über die Bedeutung des Marktes gesagt. Geldwirtschaft ist nämlich nicht gleich Markt. Oder anders gesagt: Nicht alles, was gegen Geld getauscht oder hergestellt wird, gehorcht den Regeln des Marktes. Der Markt wirkt selten allein, sondern meist im Zusammenspiel mit anderen sozialen Regeln. Die Bedeutung der an sich trivialen Erkenntnis ist den Ökonomen erst so richtig klar geworden, nachdem sie erstmals ernsthaft versucht haben, den Arbeitsmarkt von der beobachtbaren Praxis statt von der Theorie her zu verstehen.
Dabei zeigte sich unter anderem folgender Widerspruch: Wenn die reine Theorie des Marktes zutreffen würde, müssten die Arbeitgeber die (bei gleicher Qualität) jeweilig preisgünstigsten Arbeitskräfte einstellen. Das tun sie jedoch nicht, sondern sie bezahlen regelmäßig mehr Lohn, als sie aufgrund der reinen Marktverhältnisse müssten – und sie lehnen die Angebote von Preisbrechern in aller Regel ab.
Das vertrauteste Beispiel dafür sind die Gehälter von Top-Managern. Sie liegen in der Regel deutlich über dem Lohnniveau der nächsttieferen Stufe. Dies widerspricht den Erwartungen eines funktionierenden Preiswettbewerbs. Angenommen, die Firma X muss einen ihrer fünf Generaldirektoren mit einem Gesamtgehalt von je 1 Mio. Euro ersetzen. Allein im Unternehmen gibt es mindestens 10 fähige Anwärter auf diesen Posten, von denen zur Zeit keiner mehr als 500’000 Euro verdient. Auf dem freien Markt wartet ein weiteres Dutzend Anwärter. Alle würden auch für 900’000, 800’000, ja gar für 600’000 Euro unterschreiben. Dennoch werden diese Angebote nie angenommen. Der Neue wird in etwa gleich viel verdienen wie die bisherigen. Der Grund: Arbeitskräfte auf jeder Stufe vergleichen ihren Lohn immer mit dem der Kolleginnen und Kollegen auf derselben Stufe. Verdienen sie weniger, so werden sie schon bald entweder mehr Lohn verlangen, oder aber ihre (Gegen-) Leistung nach unten anpassen. Und weil die Arbeitgeber dies wissen, zahlen sie von vorneherein Löhne, die diesem sozialen Vergleich standhalten.
Heißt das nun, dass die (Markt-)Regeln von Angebot und Nachfrage nicht stimmen und dass die Annahme vom nutzenmaximierenden »Homo Ökonomicus« falsch ist? Keineswegs. In vielen Situationen sind die Annahmen der klassischen Ökonomie über das Funktionieren der Märkte und der Menschen eine durchaus brauchbare Annäherung an die Realität. Die spannende Frage ist nun die: Wann ist der Markt ein Markt und wann beginnen andere Institutionen (bzw. soziale Koordinationsmechanismen) den Markt zu überlagern oder zu ersetzen?
Eine gute Antwort auf diese Frage lautet so: Der Markt ist umso eher ein Markt, je punktueller und unpersönlicher die zugrunde...