Kapitel 2
Warum meditieren?
Es gibt eine Geschichte von Buddha, kurz nachdem er seine Erleuchtung erlangt hatte. Er ging eine staubige Landstraße entlang und begegnete dabei einem Wanderer. Der sah in ihm einen schönen Yogi von bemerkenswerter Ausstrahlung.
»Du scheinst ganz außergewöhnlich zu sein«, sagte der Wanderer. »Was bist du? Eine Art Engel oder Deva? Offensichtlich bist du kein Mensch.« »Nein«, sagte Buddha. »Bist du dann vielleicht eine Art Gott?« »Nein«, sagte Buddha. »Ein Hexenmeister oder ein Zauberer?« »Nein«, sagte Buddha. »Dann bist du also doch ein Mensch?« »Nein«, erwiderte Buddha. »Was bist du denn dann?« Darauf antwortete Buddha: »Ich bin erwacht.«
Mit diesen drei Worten – »Ich bin erwacht« – umschreibt er den Kern aller buddhistischen Lehren. »Buddha« bezeichnet jemanden, der erwacht ist. Ein Buddha zu sein bedeutet, jemand zu sein, der zur wahren Natur von Leben und Tod erwacht ist und inmitten der Welt sein Mitgefühl erweckt und befreit hat.
Die Praxis der Meditation verlangt nicht von uns, dass wir Buddhisten werden oder in Meditation versunkene oder spirituelle Menschen. Sie lädt uns lediglich dazu ein, die jedem Menschen eigene Fähigkeit zu erwachen in Anspruch zu nehmen. Achtsamer zu sein und gegenwärtiger, mitfühlender und wacher, ist etwas, das wir lernen können, wenn wir auf einem Meditationskissen sitzen – aber die Achtsamkeit hilft uns auch bei vielen anderen Gelegenheiten: beim Programmieren eines Computers, beim Tennisspielen, beim Lieben oder beim Spazierengehen am Meer, wenn wir dem Leben lauschen, das uns umgibt. Wach zu sein und wirklich gegenwärtig, ist tatsächlich die wesentliche Kunst in allen anderen Künsten.
Was ist das, zu dem wir erwachen sollen? Wir erwachen zu dem, was die Buddhisten das Dharma nennen. »Dharma« ist ein Wort aus dem Sanskrit und Pali, das sich auf die universellen Wahrheiten bezieht: die Gesetze des Universums und die Lehren, die es beschreiben. In diesem Sinne ist Dharma etwas, das sich augenblicklich enthüllen kann. Es ist die Weisheit, die immer gegenwärtig ist und nur darauf wartet, entdeckt zu werden.
Das ist etwas anderes, als darauf zu warten, dass Gott in Glanz und Gloria vom Himmel zu uns herabsteigt, oder als eine große spirituelle Erleuchtung oder als eine wundervolle übersinnliche Erfahrung. Das Dharma der Weisheit, zu dem wir erwachen können, ist die Wahrheit, die genau dort ist, wo wir sind – wenn wir uns von unseren Fantasien und Erinnerungen lösen und uns auf die Wirklichkeit der Gegenwart einlassen. Wenn wir das tun und ganz aufmerksam sind, dann beginnen wir, die Merkmale des Dharma in eben dem Leben zu erkennen, das wir gerade leben.
Zu den ersten Merkmalen des Dharma, die sich während der Meditation enthüllen, gehören Unbeständigkeit und Unsicherheit. »So sollst du denken über diese flüchtige Welt«, heißt es in einem buddhistischen Sutra. »Ein Stern in der Dämmerung, eine Luftblase in einem Fluss, ein Lichtblitz in einer Sommerwolke, ein Echo, ein Regenbogen, ein Trugbild und ein Traum.« Je ruhiger du sitzt, je genauer du beobachtest, desto deutlicher wird dir, dass sich alles, was du siehst, in einem Zustand der Veränderung befindet. Gewöhnlich erscheint uns alles, was wir erleben, beständig – auch unsere Persönlichkeit, unsere Umwelt, unsere Gefühle und die Gedanken in unserem Kopf. Es ist so, wie wenn wir uns einen Film anschauen und derartig von der Handlung gefangen sind, dass sie uns wirklich erscheint, obwohl es sich doch nur um flackernde Lichtbilder auf der Leinwand handelt. Wenn du dich aber sehr sorgfältig konzentrierst auf das, was du siehst, dann ist es möglich zu erkennen, dass der Film in Wirklichkeit aus einer Folge von Standbildern besteht, die eines nach dem anderen ablaufen. Eines erscheint, dann kommt eine kurze Unterbrechung, und dann taucht das nächste auf.
Genau das geschieht in unserem Leben. Denn es ist so: Nichts im Leben bleibt für eine sehr lange Zeit beständig oder unverändert. Du brauchst kein Meister im Meditieren zu sein, um zu erkennen, dass alles stets im Wandel begriffen ist. Konntest du jemals einen bestimmten Geisteszustand über einen sehr langen Zeitraum aufrechterhalten? Gibt es irgendetwas in deinem Leben, das ganz und gar gleich bleibt?
Dies bringt uns zum zweiten Gesetz des Dharma. Wenn wir wollen, dass Dinge, die sich ständig ändern, unverändert bleiben, und uns daran festklammern, werden wir eine Enttäuschung erleben und leiden. Nicht, dass wir leiden müssen, und es dient auch nicht dazu, uns zu bestrafen. Es ist einfach der Lauf der Welt und es ist so elementar wie die Schwerkraft. Wenn wir krampfhaft darauf bestehen, dass etwas so bleibt, wie es ist, dann wird es sich trotzdem verändern. Wenn wir versuchen, daran festzuhalten, »wie es war«, dann wird uns das nur Leid und Enttäuschung einbringen, denn das Leben ist ein Fluss, und alles ändert sich.
Wenn wir also beginnen, die Gesetze des Lebens anzuerkennen – dass die Dinge unbeständig sind und dass Anhaftung Leid verursacht –, dann können wir auch fühlen, dass es einen anderen Weg geben muss. Und es gibt ihn. Man könnte diesen Weg als »Unsicherheitsweisheit« bezeichnen. Das ist die Fähigkeit, mit den Veränderungen zu fließen, zu erkennen, dass sich alles in einem Wandlungsprozess befindet, und sich entspannt in die Ungewissheit zu fügen. Die Meditation lehrt uns, wie wir loslassen und inmitten des Wandels in unserer Mitte bleiben können. Wenn wir erst einmal eingesehen haben, dass alles unbeständig ist und wir es nicht festhalten können und dass wir eine gewaltige Menge Leid auf uns ziehen, wenn wir daran haften, dass die Dinge gleich bleiben, dann erkennen wir auch, dass die klügere Art zu leben darin besteht, sich zu entspannen und loszulassen. Wir erkennen, dass Gewinn und Verlust, Lob und Tadel, Lust und Pein zum Tanz des Lebens dazugehören, der uns, die wir in einen menschlichen Körper hineingeboren wurden, auferlegt ist. Loslassen bedeutet nicht, den Dingen gleichgültig gegenüberzustehen. Es bedeutet vielmehr, dass wir uns in kluger und den Umständen angepasster Weise um die Dinge kümmern. In der Meditation schenken wir unserem Körper eine sorgsame und respektvolle Beachtung.
Wenn wir nach der Natur des Körpers fragen, dann stellen wir fest, dass er wächst, altert, gelegentlich krank wird und am Ende stirbt. Bei der Meditation können wir den Zustand unseres Körpers unmittelbar empfinden, die Spannungen, die wir in uns festhalten, das Maß an Ermüdung oder Energie. Zeitweise fühlen wir uns in unserem Körper wohl, zeitweise bereitet er uns Schmerzen. Einmal sind wir ruhig, ein anderes Mal rastlos. Während der Meditation haben wir die Empfindung, dass wir unseren Körper nicht wirklich besitzen, sondern ihn vielmehr nur für eine kurze Zeit bewohnen, und dass er sich in dieser Zeit von selbst verändert, ohne sich darum zu kümmern, was wir gerne erleben möchten. Das Gleiche gilt für unseren Geist und unser Herz, mit seinen Hoffnungen und Befürchtungen, mit Freude und Leid. Je länger wir meditieren, desto mehr Weisheit erwächst uns im Umgang mit dem, was Alexis Zorbas »die ganze Katastrophe« genannt hat. Anstatt uns vor schmerzhaften Erfahrungen zu fürchten und vor ihnen wegzulaufen oder nach angenehmen Erfahrungen zu streben in der Hoffnung, sie mögen andauern, wenn wir uns nur daran festklammern, werden wir schließlich erkennen, dass unser Herz die Fähigkeit hat, für all das gegenwärtig zu sein und voller und freier mit dem zu leben, was gerade da ist. Wenn wir erkennen, dass alles früher oder später verschwindet, die angenehmen Dinge ebenso wie die unerfreulichen, dann können wir uns dazwischen mit Gelassenheit einrichten.
Wir meditieren also, um zur Erkenntnis der Lebensgesetze zu erwachen. Wir erwachen, indem wir die Aufmerksamkeit von der Vielzahl unserer Gedanken und Ideen abziehen und sie auf unseren Körper und unsere Empfindungen lenken. Wir beginnen zu verstehen, wie unser Körper und unser Geist funktionieren, und so können wir eine weisere Beziehung zu ihnen aufnehmen. Der Kern dieses inneren Übungsweges ist das aufmerksame Lauschen und Achten auf unser Umfeld, auf unseren Körper, auf unseren Geist, auf unser Herz und auf die Welt um uns herum. Das ist es, was als Achtsamkeit bezeichnet wird – eine sorgsame und respektvolle Aufmerksamkeit.
Die Achtsamkeit, die wir durch die Meditation lernen, ist unter allen Umständen hilfreich. Man kann sie zum Beispiel während des Essens einsetzen. Du kannst auf die Stimme in deinem Bauch hören, die sagt: »Ich habe genug, ich fühle mich wohl, ich bin gesättigt.« Du kannst auch auf die Stimme in deiner Zunge hören, die dazwischenflüstert: »Mensch, aber diese Frucht hat so gut geschmeckt, lass uns noch was davon essen.« Du kannst auch auf deine Augen hören, wenn sie sagen: »Da drüben steht ein Nachtisch, den wir noch nicht probiert haben.« Durch Achtsamkeit kannst du lernen, all diese verschiedenen Stimmen in deinem Inneren zu hören. Du kannst ebenso lernen, mit voller Aufmerksamkeit auf deine Gefühle zu achten – dir die angenehmen, die neutralen und die unangenehmen Aspekte deiner Erfahrungen bewusst zu machen. Du kannst lernen, dass du dich nicht vor dem, was schmerzhaft ist, zu fürchten brauchst und dass du dich nicht an das zu klammern brauchst, was angenehm ist. Wir sind oft zu dem Glauben erzogen worden, dass das so sein müsste, aber wenn wir meditieren, wird es schnell offensichtlich, dass es uns weder zum Frieden noch zum Glücklichsein führt, uns an die angenehmen Dinge zu klammern oder die Dinge zu fürchten, die uns...