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Suizid. Wie weiter?

Trauern und Abschiednehmen bei Suizid und plötzlichen Todesfällen

AutorPeter Gill
VerlagVerlag Johannes Petri
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783037840801
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
"Das Buch soll helfen, das Schweigen über den Suizid zu brechen. Denn Schweigen belastet noch mehr und ermöglicht keine Trauer. Schweigen macht körperlich und seelisch krank und kann den Betroffenen selbst suizidal werden lassen." Peter Gill Nach einem Suizid bleiben die Angehörigen mit der belastenden Frage nach dem Warum zurück. Ihnen widmet Peter Gill sein Buch. Als Kriminalkommissär und Medienverantwortlicher der Staatsanwaltschaft Basel ist er seit vielen Jahren immer wieder mit außergewöhnlichen Todesfällen konfrontiert. Aus seiner besonderen beruflichen Perspektive schildert er verzweifelte Lebenssituationen und gefährdende Einflüsse, den Kontakt mit den Angehörigen und den Umgang mit den Medien. "Suizid. Wie weiter?" bietet den Angehörigen Anstöße zum Nachdenken über die Notwendigkeit, richtig zu trauern, und hilft bei der Suche nach "Quellen der Kraft" in schwierigsten Lebenslagen. Einfühlsam und fundiert gibt es Hinterbliebenen wie auch Fachpersonen und betroffenen Berufsgruppen konkrete Hinweise aus der Praxis, um das traumatische Ereignis zu verarbeiten. "Gerade die ungewohnte Perspektive, aus der heraus das Buch geschrieben ist, macht seine Besonderheit aus. Der Blick des Autors ist umfassend und breit, richtet sich auf alle Aspekte des Suizides. Er ist aber auch konkret und praktisch, da es das spürbare Anliegen des Autors ist, Hilfestellung zu geben und nützlich sein zu können." Prof. Dr. med. Joachim Küchenhoff Ärztlicher Direktor, Psychiatrie Baselland

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Leseprobe

Belastende Lebenssituationen


Suizid von Kindern und Jugendlichen


Nichts wirkt stärker auf die menschliche Umgebung,

besonders auf die Kinder,

als das ungelebte Leben der Eltern.

C. G. Jung66

Suizidale Handlungen von Kindern sind selten, weil sie im Tod, im Gegensatz zu Erwachsenen, nicht die Endgültigkeit erkennen, sich also das wirkliche Tot-Sein nicht vorstellen können. Hingegen kommen Suizide bei Jugendlichen öfter als allgemein bekannt vor. Sie haben meistens andere Gründe als die der Erwachsenen, weil Jugendliche unter anderen Konflikten leiden und über weniger Möglichkeiten und Erfahrungen verfügen, um eine Lebenssituation zu verändern oder Ungewissheiten auszuhalten. Aufgrund der für diese Entwicklungsphase typischen Verunsicherung im Hinblick auf ihre Identität und damit auch auf den Sinn ihres Lebens leiden auch «normale» Jugendliche unter grossen Stimmungsschwankungen. Die beginnende Loslösung vom Elternhaus führt zur Selbständigkeit, aber auch zur Einsamkeit, zum Auf-sich-selbst-gestellt-Sein. Je nachdem wie stark ihr Selbstwertgefühl ist, kann dies auch mit grossem Erfolgsdruck und Versagensängsten verbunden sein. Ein vermeintliches oder reales Versagen, die Enttäuschung über sich selbst oder die Angst, wichtige Bezugspersonen zu enttäuschen, sowie Zweifel, das Leben überhaupt bewältigen zu können: dies alles sind Ausdrucksformen einer großen Selbstwertkrise und führen rascher als beim Erwachsenen zu suizidalen Handlungen. Ferner können gefährliche Mutproben als Initiationsritual,67 um die eigene Lebenstauglichkeit unter Beweis zu stellen, tödliche Folgen haben. Auch diese Form, sich zwischen Leben und Tod zu stellen, gehört zur adoleszenten Sinnhinterfragung.

Der Suizid von Adoleszenten kann manchmal auch als Kritik an den Erwachsenen verstanden werden, weil sie nicht vorgelebt haben, dass das Leben lebenswert ist, oder weil sie keinen Beistand gewährten oder nicht dazu in der Lage waren, als dies nötig war.

Suizidalen Handlungen können auch schulische Schwierigkeiten, grosse Enttäuschung über eine in die Brüche gegangene Beziehung oder sexueller Missbrauch zugrunde liegen. Bekannt sind auch Fälle von Jugendlichen aus Drittweltländern oder ärmlichsten Verhältnissen, die von Schweizer Eltern adoptiert wurden und sich aufgrund einer ausgeprägten Identitätskrise in der Adoleszenz das Leben genommen haben. Für Außenstehende sind diese Handlungen manchmal unverständlich; sie glauben, dass die Adoptierten, denen es nach gängiger Vorstellung in ihrem neuen Umfeld gut gehe, für die ihnen erwiesene Aufmerksamkeit dankbar sein sollten.

Auch der sogenannte Werther68- bzw. Nachahmungseffekt kann besonders bei jungen Menschen, die noch ganz in der Entwicklung stehen, gravierende Auswirkungen haben, besonders, wenn die Medien die Art des Suizids weitschweifig darstellen und die Adoleszenten keiner Vertrauensperson ihre Sorgen anvertrauen können.

Suizid im Alter


Man fürchtet das Alter, ohne dass man weiß,

ob man alt werden wird.

Jean de La Bruyère69

Aus medizinischer Sicht kann der Mensch vielfach noch bis ins hohe Alter sehr lebenstüchtig sein. Wenn auch verschiedene Gebrechen die Mobilität einschränken, ist es in vielen Fällen möglich, dass Betagte dank ambulanter Hilfestellungen noch selbständig zu Hause leben. Ihre Bedürfnisse nach medizinischer Pflege und Betreuung werden meistens gut abgedeckt. Was jedoch in den wenigsten Fällen ersetzt werden kann, ist der Verlust des Partners. Diese Lücke kann oft nicht mehr geschlossen werden. Je älter die Menschen werden, desto häufiger fehlen ihnen Fähigkeiten und Möglichkeiten, sich bei einem Schicksalsschlag wieder im Alltag zurecht zu finden. Oft können sie kein neues Beziehungsnetz aufbauen, weil Freunde und Bekannte auch schon hochbetagt oder bereits gestorben sind. Sie bleiben deshalb alleine oder auf das Mitgefühl Dritter angewiesen.

Alte Menschen, besonders wenn sie gebrechlich und pflegebedürftig sind, meinen häufig, sie seien eine Belastung für ihre Umwelt und ihre Angehörigen. Der Verlust der Selbständigkeit, oft mit einem Heimeintritt verbunden, geht dann mit dem Gefühl einher, sich letztlich unnütz zu fühlen und abhängig zu sein. Dies führt dazu, dass sich Betagte abkapseln und selbst aufgeben. Die Vereinsamung ist eines ihrer Hauptprobleme. Alte Menschen leben vielfach zurückgezogen und von der Umwelt kaum noch beachtet und der Mangel an sozialen Kontakten hinterlässt Spuren. Immer wieder kommt es vor, dass Betagte, die eines natürlichen Todes gestorben sind, tage- bzw. wochenlang in der Wohnung liegen und von niemandem vermisst werden. Sie werden erst gefunden, wenn z. B. Briefkästen überquellen oder es massiv nach Verwesung riecht.

Im Gegensatz zu unserer Gesellschaft gibt es Kulturen, in denen alten Menschen mit Respekt begegnet und eine hohe Wertschätzung entgegen gebracht wird, weil sie als weise gelten. Man achtet sie für das im Leben Geleistete. Es kann beispielsweise, anders als in der westlichen Welt, der Ahnenkult eine Rolle spielen, wo die Verstorbenen verehrt werden.

Wird bei uns über alte Menschen berichtet, so dominieren oft die Themen Pflegekosten, Demenz, Gebrechlichkeit, Vernachlässigung, Personalmangel in den Heimen. Man begegnet ihnen mit einer gewissen Form der Gleichgültigkeit, denn in einer leistungsorientierten Gesellschaft sind sie ökonomisch nicht mehr «brauchbar» und deshalb «wertlos», «der Gedanke, dass der alte Mensch abzutreten habe, dass er seine eigene Hilflosigkeit niemandem zur Bürde machen dürfe, ist auch bei uns noch vorhanden».70

Selbsttötungshandlungen kommen bei Betagten u. a. aus diesen Gründen häufig vor. Viele hegen suizidale Gedanken, äußern diese aber verklausuliert, eher so, dass sie selbst von Fachleuten schwer und nicht auf Anhieb verstanden werden. Körperliche Symptome werden stellvertretend für seelische Nöte von ihnen aufgeführt. Nahrungs- und Trinkverweigerungen (sogenanntes «Todesfasten») und vollkommener Rückzug sind mögliche Beispiele für eine akute Suizidalität. Ihre Hilferufe werden oft nicht oder zu spät erkannt.

Suizidale Handlungen alter Menschen zeichnen sich wiederholt durch ein verzweifeltes Vorgehen aus, was möglicherweise mit ihrer körperlichen Eingeschränktheit zu tun hat. Dazu kommt die Unkenntnis, wie man sich «richtig» das Leben nimmt, weshalb es zu besonders schmerzhaften und untauglichen Suizidversuchen kommen kann. So versuchen alte Menschen etwa, ihrem Leben ein Ende zu setzen, indem sie Reinigungsmittel oder verschiedene Medikamente einnehmen, sich mit einer Schere die Pulsadern aufschneiden oder sich zu strangulieren versuchen.

Suizid bei psychischer Krankheit


Den Mut, den der Selbstmord verlangt,

sollte man auf das Ertragen des Lebens verwenden;

aber Verzweiflung macht bekanntlich blind.

Sully Prudhomme71

Bevor die Frage gestellt wird, was «psychisch krank»72 ist, muss geklärt werden, was «psychisch gesund» ist. Nach der Definition der WHO73 wird psychische Gesundheit als Zustand des Wohlbefindens definiert, in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv und fruchtbar arbeiten kann und imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen.74 Bei einer psychischen oder seelischen Erkrankung ist das Wahrnehmungsvermögen, das Denken, Fühlen und Verhalten so beeinträchtigt, dass die sozialen Beziehungen darunter leiden. Der Betroffene kann sein Verhalten teilweise oder gar nicht mehr frei steuern.

Psychisch Kranke leiden unter der Last ihrer Gedanken, Empfindungen oder Wahnvorstellungen, von denen sie erdrückt werden. Sie empfinden ihr Leben vielfach als untragbare Bürde und versuchen deshalb, ihrem Leiden ein Ende zu setzen. Zustände der Niedergeschlagenheit, Melancholie, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Depressionen75 sind daher häufig der Grund für einen Suizid. Die Betroffenen richten ihre Aggressionen gegen sich selbst.

Es gibt aber auch Menschen, die nicht psychisch krank sind und ihre Aggressionen gegen sich selbst kehren. Erwin Ringel beschreibt dies wie folgt: «Im Wesentlichen gehorcht dieser Vorgang dem nüchternen physikalischen Gesetz von der Erhaltung der Energie: Die angestaute Kraft muss ein Ziel finden; das einzige, welches dafür dann letztlich zur Verfügung steht, ist das eigene Ich. Diese Aggressionsumkehr wird durch bestehende bewusste und unbewusste Schuldgefühle und daraus resultierende Selbstbestrafungswünsche besonders gefördert.»76

Eine der psychischen Erkrankungen, die die Gefährdung eines Suizids mit sich bringt, ist beispielsweise die Neurose,77 die im Gegensatz zur Psychose vermutlich keine körperlichen Ursachen hat. Der Begriff wird in der Wissenschaft kaum mehr verwendet, weil die so zusammengefassten psychischen Störungen zu verschieden sind und sich zu unterschiedlich äussern. An einer Neurose erkrankte Menschen leiden unter verschiedenen Wahrnehmungsstörungen, die sich in ihrem täglichen Leben negativ auswirken: in grosser Verletzbarkeit, übermässiger Ichbezogenheit, dem Gefühl des Eingeengt-Seins und Angstzuständen. Sie beurteilen oder interpretieren Situationen selbstbezogen und zuweilen inadäquat oder reagieren impulsiv auf Herausforderungen.

Auch Suchterkrankungen führen zur Suizidgefahr. Alkohol78-, Medikamenten- und...

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