Prolog: Davor
Menschen, die zu Opfern gemacht werden, haben zwei Leben – davor und danach.
Das »Leben davor« war für die Familie Osmanović aus dem Dorf Zgunja, Općina1 Srebrenica, ein bescheidenes Leben.2
Die Osmanovićs waren nicht reich, aber auch nicht so arm wie viele Leute rings um sie herum. Jugoslawien wurde Ende der 1980er Jahre von einer schweren Wirtschaftskrise erschüttert, die drohte, Staat und Gesellschaft zu zerreißen.3 Viele Nachbarn standen vor dem Nichts, weil sie ihre Arbeit verloren hatten. Azem und Zuhra Osmanović aber hatten Glück gehabt. Sie hatten ihre Arbeit noch, und das war in diesen unsicheren Zeiten viel wert. Azem, Jahrgang 1959, war Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft und machte eine Fortbildung zum Einzelhandelskaufmann; Zuhra, Jahrgang 1960, arbeitete in der Küche eines Grillrestaurants – ein junges Paar mit zwei gesunden Kindern: Mirnes, der Sohn, Jahrgang 1980, und Mersa, seine Schwester, Jahrgang 1982, gingen in die Schule.
Eine jugoslawische Familie, Bosniaken,4 also bosnische Muslime. Damals hat sich fast niemand dafür interessiert, welcher Volksgruppe man zugehörte. In Titos Staat war es ein Tabu gewesen, nach der Religion eines Menschen zu fragen. In Zgunja, ihrem Dorf, lebten Bosniaken und bosnische Serben Haus an Haus, waren befreundet oder waren sich egal oder konnten sich nicht leiden. Wie das Leben in Zgunja und überall sonst auf der Welt eben so ist. Die Kuma, die Patin von Zuhra Osmanović, war Serbin und lebte gleich nebenan. In Bosnien-Herzegowina ist die Beziehung zwischen der Kuma und dem Patenkind sehr nah, nicht selten so eng wie zwischen Kind und leiblichen Eltern. Dass Nerandža Vujić, die Kuma von Zuhra Osmanović, Serbin war, hatte nie irgendeine Bedeutung gehabt. Selbst als das östliche Bosnien 1991/92 in einer politischen Explosion der Gewalt unterging, waren die beiden so vertraut miteinander wie in den Jahrzehnten zuvor.
Azem und Zuhra Osmanović waren in ihrer kleinen Welt ganz zufrieden, als die 1990er Jahre begannen. Sie besaßen ein Auto, einen kleinen Zastava Fića, die jugoslawische Ausgabe des Fiat 600. Sie hatten sich gerade ein Haus gebaut, im gehörigen Abstand zum Fluss Drina, dessen smaragdgrünes Wasser hinter einem Spalier von Pappeln vorbeirauschte. Am jenseitigen Ufer lag Serbien. Mirnes, der Sohn, war dort im Krankenhaus von Bajina Bašta zur Welt gekommen. Nema problema – kein Problem. Warum auch? Es war das Jahr 1980 gewesen, das Jahr, in dem Tito starb und das gemeinsame Land noch Jugoslawien hieß.
Als im Sommer 1991 erste Bilder vom Krieg in Kroatien im Fernsehen auftauchten, schien das ganz weit weg zu sein. Nicht bei uns, sagten die Leute in Zgunja. Und: Kommt auch nicht zu uns. Doch das Unheil kam auch in Bosnien-Herzegowina näher und näher. Plötzlich fingen im Herbst 1991 Bosniaken und Serben öffentlich zu streiten an. Im Städtchen Skelani, das von Zgunja vier, fünf Kilometer entfernt ist, riefen im April 1992 die örtlichen Serben einen »Serbischen Gemeindebezirk Skelani« (Srpska Opština Skelani) aus. Es gab Schießereien, Tote.
Azem Osmanović drängte, die Gegend zu verlassen. Aber seine Eltern, die nebenan lebten, und die Familien seiner Brüder, die ebenfalls ihre Häuser ganz in der Nähe hatten, wollten nicht fort. Zuhra, seine Frau, sagte, wenn alle bleiben, will sie auch nicht weg. Also packten sie zwar Taschen mit dem Nötigsten, stellten sie aber beiseite, bereit für den Tag, an dem ihnen keine Wahl mehr bleiben würde und sie doch fortgehen müssten.
Anfang Mai 1992 wurde die Lage immer bedrohlicher. Auch die Osmanovićs bekamen nun richtig Angst. Marko, ein Nachbar, Serbe, der bei der Polizei war, sagte zwar noch am 6. Mai, sie sollten sich keine Sorgen machen, es würde nichts passieren. Doch schon zwei Tage danach tauchten in Zgunja Menschen aus dem Nachbardorf Rešagići auf. Sie schienen verwirrt. Als hätten sie den Verstand verloren, kamen sie den Fluss entlang angerannt.
Die »Tschetniks«5 seien gekommen, hätten die Häuser angezündet, und wer nicht rechtzeitig geflohen sei, sei umgebracht worden, schrien sie, und die Leute in Zgunja wussten, was das bedeutet. Im Zweiten Weltkrieg hatten Tschetniks in Ostbosnien Tausende von Bosniaken massakriert. Nun waren mit »Tschetniks« neue serbische Kämpfer gemeint, unter ihnen auch viele Nachbarn aus der näheren Umgebung, die über die Dörfer der Bosniaken an der Drina herfielen. Und demnächst kämen die »Tschetniks« auch hierher nach Zgunja, sagten die Leute aus Rešagići noch und rannten weiter.
Fast alle bosniakischen Bewohner von Zgunja flohen an diesem 8. Mai 1992 in den nahe gelegenen Wald, der sich über die Hügel und Berge entlang des Drina-Tales erstreckt. Die Osmanovićs gehörten zu den ganz wenigen, die noch blieben. Doch am folgenden Tag kam Nerandža Vujić, die Kuma, und warnte: Sie müssten auch unbedingt weg. Die »Tschetniks« würden morgen kommen. Das hatte sie von der Tochter erfahren, die drüben in Serbien lebte.
Am 10. Mai 1992 verließen Azem, Zuhra, Mirnes und Mersa Osmanović ihr Häuschen am Ufer der Drina. Die Flucht führte sie als Erstes in ein Dorf in den Bergen zu Azems Schwester, bei der sie für ein paar Wochen unterkamen. Danach ging es weiter zu Verwandten und Freunden, immer nur für ein paar Tage oder wenige Wochen, bis die Zeit, weiterzuziehen, gekommen war. Im November waren sie wieder bei Azems Schwester. Mirnes war beim Spielen von Granatsplittern an Bein und Arm getroffen worden und brauchte Pflege.
Im Dezember waren die Lebensmittelvorräte fast aufgebraucht. Der Winter stand bevor, der in den Bergen Ost-Bosniens mit viel Schnee und Temperaturen weit unter der Frostgrenze für gewöhnlich sehr hart ausfällt. Azem und Zuhra Osmanović wussten, sie konnten nicht länger bleiben, und beschlossen, sich mit den Kindern auf den Weg nach Srebrenica zu machen, in die Bezirksstadt. Azem hatte dort einen Freund, einen Polizisten. Vielleicht konnten sie ja bei ihm unterkommen.
Der Freund konnte tatsächlich noch etwas Platz für die Osmanović-Familie frei machen, aber nur vorübergehend, denn bald schon kamen Verwandte und suchten bei ihm Zuflucht. Azem und Zuhra Osmanović mussten sich mit den Kindern wieder nach einer neuen Unterkunft umsehen. Wieder hatten sie Glück. Ein Verwandter räumte für sie sein Zimmer im Hotel Domavia in der Stadtmitte von Srebrenica, das die Stadtverwaltung vom Kurhotel – in Srebrenica gibt es mineralische Heilquellen – zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert hatte.
Das Zimmer im Hotel Domavia sollte für Azem, Zuhra, Mirnes und Mersa Osmanović nun über zwei Jahre zu ihrem Heim werden, was im Dezember 1992 noch keiner ahnen konnte. Niemand hatte damals mit einer so langen Zeit gerechnet. Alle glaubten, bald würde Hilfe von außen kommen und die »Tschetniks« würden sich irgendwann wieder zurückziehen und dann könnte man wieder nach Hause. Ohne diese Hoffnung auf Heimkehr war dieses Leben auch nicht auszuhalten. Die Osmanovićs besaßen kaum Geld. Humanitäre Hilfe von außen kam nicht. Zuhra begann, das bisschen Schmuck, das sie besaß, bei den Bauern in den Dörfern ringsum gegen Lebensmittel einzutauschen – Brot, Mehl, Öl, ein bisschen Gemüse. Ihr Ehering brachte zwei Kilo Mehl.
Ab März 1993 kamen nachts Flugzeuge und warfen Paletten mit Hilfsgütern für die mittlerweile in Srebrenica Eingeschlossenen ab. Immer wenn es dunkel wurde, kletterten alle, die noch einigermaßen gehen konnten, auf die Berghänge, die aus dem Talkessel von Srebrenica steil ansteigen. Azem und Zuhra zogen immer getrennt los, damit wenigstens einer von beiden die Chance hatte, etwas »nach Hause« zu bringen. Man folgte dem tiefen Brummen der Flugzeugmotoren, sah die Paletten mit den Paketen an kleinen Fallschirmen zu Boden schweben und rannte, so schnell man konnte, zu der Stelle, wo man den Aufprall vermutete. Es gab Schlägereien, regelrechte Kämpfe. Azem beobachtete sogar, wie Salko, ein Nachbar, beim Streit um ein Paket niedergestochen wurde und starb.
Mitte März kam schließlich doch ein Konvoi bis nach Srebrenica durch, ein paar weiß gestrichene Jeeps und zwei Lastwagen, auf denen in riesigen Buchstaben UN geschrieben stand. UNPROFOR, United Nations Protection Force, die Friedensmission der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien, hatte mit dem Konvoi zeigen wollen, dass sie sich von den bosnischen Serben nicht daran hindern lassen wollte, Enklaven, wie die von Srebrenica, mit Hilfsgütern zu versorgen. Doch auf den Lastwagen waren gar keine Hilfsgüter. Die beiden Lastwagen sollten nur ein Zeichen setzen. Die internationale Staatengemeinschaft inszenierte eine Demonstration: Srebrenica war nicht abgeschrieben.
Als am Abend der Kommandeur der UN-Truppe, der französische General Philippe Morillon, wieder abfahren wollte, blockierten die Frauen von Srebrenica sein Fahrzeug. Zuhra Osmanović war bei den Hunderten von Frauen dabei, die sich vor den Jeep des UN-Generals...