Pionierland am Polarkreis
Spitze Zungen behaupten, Fairbanks habe seine eigenen vier Jahreszeiten: Juni, Juli, August und Winter. Neun Monate lang hat die Kälte Zentralalaska fest im Griff, während der übrigen drei Monate zieht der Sommer alle Register.
Während ich um Mitternacht versuchte, Schlaf zu finden, donnerten schwere Harleys im Schein der tief stehenden Sonne auf dem Johansen Expressway an mir vorbei. Zur Zeit des Sommerintermezzos spielt die Natur verrückt. Und manch anderer auch: Kaum ein Biker trägt einen Sturzhelm. Um dem Gefühl von grenzenloser Freiheit noch einen draufzusetzen, tauschen die meisten den moderaten Harley-Auspuff gegen brüllend laute Edelstahlrohre. Schalldämpfer sind überflüssiger Ballast!
Ich blinzelte durch die Jalousie meines Pickup-Campers über den Walmart-Parkplatz, auf dem die Besatzungen von zwei Dutzend Motorhomes und Pickup-Campern übernachteten.
Alaska ist anders. Einerseits das entlegene Anhängsel im hohen Nordwesten des amerikanischen Kontinents, aber zugleich auch 49. Staat der USA und somit Magnet für Aussteiger, Naturfreaks und Abenteurer aus den lower 48, den südlichen US-Bundestaaten. Vor allem, seitdem man dem Alaska Highway die Krallen gestutzt und ihn durchgehend in ein breites Asphaltband verwandelt hat.
Im Sommer dreht Alaska auf; auch nach Mitternacht war im Walmart-Einkaufszentrum noch Shopping angesagt. Auf den Parkbänken am Chena River-Ufer lümmelten ein paar Burschen, die Flasche hochprozentigen booze in Packpapier verborgen. Während die vorbeifahrenden Autos über die noch offenen Frostaufbrüche des letzten Winters polterten, schlurfte ein gebeugter Mann auf Krücken in die Mecca Bar, an deren Fenstern aufgeregt rote Lämpchen flackerten.
Eine halbe Stunde nach Mitternacht sackte die Sonne kurz unter den Horizont. Drei Stunden später stach sie mir bereits wieder in die Augen. Ich blinzelte, rappelte mich hoch und warf einen Blick auf meine »Kuskokwim-Notizen«. Was man in Kapstadt durchaus als Schnapsidee bezeichnen konnte, hatte mittlerweile konkrete Züge angenommen. Ein mail plane von Wright Air Service, eins dieser Postflugzeuge, die entlegene Buschdörfer mit Briefen, Paketen und auch sonst dem Nötigsten versorgen, würde mich morgen um 14 Uhr von Fairbanks in die winzige Wildnissiedlung Lake Minchumina am Rande des Denali National Park bringen. An klaren Tagen würde ich von dort die schneebedeckten Riesen der Alaska Range sehen.
Ich kannte die Wildnis nordwestlich des Mount McKinley gut, hatte dort zwei Jahre gelebt, war im Winter mit Schlittenhunden und im Sommer mit Kanu und Kajak in der Wildnis unterwegs gewesen. Eine Wildnis, die noch vor 150 Jahren ausschließlich von den Minkhotanas bewohnt worden war. Lake people, »Seemenschen«, wie dieser Athabasken-Stamm sich selbst bezeichnete. Dann drangen die ersten Weißen in ihr Gebiet vor; Trapper und Goldsucher. Es dauerte noch bis Ende der 1920er-Jahre, bis das erste Flugzeug den Lake Minchumina erreichte. Erst der Bau des Alaska Highway während des Zweiten Weltkriegs und die militärische Sicherung Alaskas gegen japanische Angriffe brachten nennenswerte Veränderungen an den Lake Minchumina; Fluglandebahn und ein Flugleitsystem wurden gebaut. Die technische Weiterentwicklung machte Letzteres überflüssig, doch die Landebahn blieb. Heute lebt nur noch gut ein Dutzend Menschen im Ort Lake Minchumina. Eine davon ist unsere Freundin Carol.
Fluss der Superlative
Von den 32 längsten Flüssen der USA fließen acht durch Alaska. Und der längste aller amerikanischen Ströme, die noch ungezähmt und frei von Staustufen und Dämmen durchs Land fließen, ist der Kuskokwim River. Natürlich steht er ein wenig im Schatten des legendären Yukon, doch eines haben beide gemein: Sie durchtrennen die Mitte Alaskas und münden nicht allzu weit voneinander entfernt zwischen dem 60. und 63. Breitengrad ins Beringmeer. Auf den Kuskokwim hatte ich es jetzt abgesehen.
Ich liebe es, fast geräuschlos im Rhythmus des Paddelschlags die Wildnis zu durchstreifen. Gemeinsam mit Juliana, meiner Frau, hatte ich zahlreiche Flüsse in Nordamerika bereist: Mehrere Sommer lang waren wir auf dem Churchill River zur Hudson Bay unterwegs, später im Kielwasser des Pelzhändlers Alexander Mackenzie zum Nordpolarmeer – eine Kanureise von nonstop 88 Tagen. Vor nicht allzu langer Zeit paddelte ich 2600 Kilometer im Seekajak durch die Inside Passage der nordamerikanischen Westküste von Alaska bis Vancouver.
Und nun der Kuskokwim.
Was reizte mich an diesem Fluss? Ich hatte ihn noch nie befahren, und ich wusste, dass sein Oberlauf – der North Fork – durch menschenleere Wildnis führt. Ab der Siedlung Medfra trägt er offiziell den Namen Kuskokwim. Jetzt bereits ein mächtiger Strom, ist er die Lebenslinie für einige indigene Völker Alaskas, die Athabasken und Yup’ik. Nach insgesamt 1500 Kilometern mündet der Kuskokwim bei Bethel ins Beringmeer.
Nach dem Flop mit der Verschiffung hatte ich mit unserer Freundin Carol per E-Mail Kontakt aufgenommen. Seit Jahren lebt sie in der Mitte Alaskas am Lake Minchumina. Viele gemeinsame Erlebnisse und Abenteuer verbinden uns. Sie war es, die mich vor Jahren »auf den Hund«, genau genommen den alaskischen Husky, gebracht hatte. Am Ende zog ich mit einem zwölfköpfigen Schlittenhundeteam 5000 Kilometer durch Alaska. Später war ich mit Carol im Faltboot vom Lake Minchumina aus über Kantishna und Tanana River zum Yukon gepaddelt. Das Boot wartete bei ihr auf neue Abenteuer …
Als ich noch in Kapstadt war, hatte mein Plan so ausgesehen: Rund 500 Kilometer würde Carol mich zur Buschsiedlung McGrath begleiten. Später sollte Juliana von Deutschland dorthin fliegen, um die letzten 1000 Kilometer bis zum Beringmeer gemeinsam mit mir zurückzulegen.
Weit schwieriger aber war es, von Lake Minchumina aus an den Oberlauf des Kuskokwim, den North Fork, heranzukommen. Es existieren weder Straßen noch Wanderpfade. Ich erwog, ein Wasserflugzeug zu chartern, das auf dem Fluss oder einem der angrenzenden Seen landen könnte. Was allerdings ein tiefes Loch ins Reisebudget reißen würde.
Eine andere Idee war verlockender. Wir könnten das Faltboot während der letzten Wintertage mit Motorschlitten über die gefrorene Tundra zum Quellwasser des North Fork Kuskokwim schaffen lassen. Dort würde es bis zum Sommer auf den Beginn unserer Paddeltour warten.
All diese Ideen flitzten atemberaubend schnell im E-Mail-Format zwischen Alaska, Deutschland und Südafrika hin und her. Bis eines Tages Carol schrieb: »Meine Trapperfreunde warnen wegen der Bären! Hungrig und neugierig wie sie nach dem Winterschlaf sind, ist das empfindliche Kajak für sie ein gefundenes Fressen.« Was im Klartext hieß: »Meister Petz wird das Faltboot mit Zähnen und Krallen zu Kleinholz machen!«
Der Winter in Alaska näherte sich bereits dem Ende. Doch ohne Schnee und demzufolge ohne Motorschlitten gab es keine preisgünstige Transportmöglichkeit fürs Boot. Wir mussten uns entscheiden.
»Lass uns mein Kanu nehmen. Fiberglas ist für Bären weniger verlockend«, las ich eines Tages in Carols E-Mail.
Dabei blieb es. Tom Green, Carols Nachbar, Trapper und Blockhüttenbauer, hängte das Kanu hinter seinen Motorschlitten und schleppte es auf einem Wintertrail zum Startpunkt unseres Kuskokwim-Abenteuers.
Der Wintertrail war im Juni natürlich verschwunden, doch die Schlittenkufen hatten über die Jahre auch auf dem Boden Spuren hinterlassen. Schwer beladen würden wir ihnen folgen und uns durch knietiefe Tundra schlagen. Zum Glück war das Wetter stabil; trocken und sonnig. Das sollte sich bald ändern …
Die Ankunft des Postflugzeugs
Ein Taxi brachte mich zum Fairbanks Airport. Noch immer schien die Sonne auf Zentralalaska. Der Fahrer hatte die Fensterscheibe heruntergedreht, kühler Wind strich mir übers Gesicht, während wir auf die University Avenue South abbogen, die zu den Hangars auf der Rückseite des International Airport führt. Hier befinden sich die Bush Airlines, die das Herz Alaskas mit ihrem Service am Schlagen erhalten. Die in ihren kleinen ein- und zweimotorigen Maschinen im Winter neben Passagieren genauso selbstverständlich Schlittenhunde wie im Sommer Ölfässer oder Baumaterialien transportieren.
Bruce, etwa vierzig Jahre alt, vor einem Jahr beim Militär ausgeschieden, jobbte jetzt als Taxifahrer. Von meinem Flugziel Lake Minchumina hatte er noch nie gehört.
Mit den »Alaskanern« ist das so eine Sache: Die wenigsten sind hier geboren. Viele kommen mit dem Militär, dessen Präsenz in Alaska unübersehbar ist. Andere ziehen wegen guter Jobperspektiven hierher, darunter auch schwarze US-Bürger und viele Immigranten aus Asien und Mexiko. Der »Lockruf des Geldes«, die jährliche Ausschüttung der Öldollars aus dem Alaska Permanent Fund in Höhe von mehr als 1000 Dollar pro Person, sorgt für zusätzliche Anreize. Und so wächst die Bevölkerung Alaskas, vor allem im Großraum Anchorage, mit einem Anflug von Humor auch als »Vorort von Seattle« bezeichnet. Denn Seattle und der nahe gelegene Hafen Bellingham sind seit dem Klondike-Goldrausch wichtigste Sprungbretter für Alaska.
Leute wie Bruce werden in Alaska umworben. McDonald’s bietet für Alaskas aktive Soldaten und Veteranen zehn Prozent Preisnachlass auf alles in seiner Frittenbude. Auch andere Anbieter locken mit Rabatten. Aber im Busch Alaskas zu leben, kann Bruce...