Einleitung
In allen Gruppen, von der Schulklasse bis zur Therapiegruppe, geht es um Veränderung, um Lernen und um Verbesserung der Lebensumstände im weitesten Sinne. Teilnehmer und Leiter wünschen sich Kreativität und Widerstandskraft. Sie wünschen sich in der Regel ein glückliches Leben mit emotionalen und materiellen Entwicklungschancen. Wir alle tragen die Voraussetzungen für eine positive Entwicklung in uns. Leider ist uns dies oft nicht bewusst. Darum suchen wir für gewöhnlich am falschen Ort nach dem Glück. Wir wünschen uns Geld und andere Lebensumstände, und wenn wir mit leeren Händen dastehen, suchen wir die Gründe irgendwo außerhalb. Doch unsere eigene Einstellung enthält den Schlüssel zur Veränderung.
Die Natur hat uns mit der Fähigkeit zu subtilen und erfreulichen Gefühlen ausgestattet, die uns erfüllen
wenn wir uns mit anderen verbunden und geliebt fühlen,
wenn wir in einer spielerischen Stimmung sind, kreativ oder auch albern,
wenn wir den Augenblick genießen und uns eins fühlen mit unserer Umwelt,
wenn wir tief bewegt sind durch die Schönheit der Natur,
wenn eine neue Idee uns beflügelt.
Wenn wir positive Gefühle erleben, wie Liebe, Freude, Dankbarkeit, Heiterkeit und Inspiration, und bereit sind, unser Herz zu öffnen, dann empfinden wir unser Leben als positiv. Jeder von uns weiß allerdings, dass diese wunderbaren Gefühle leider nicht von Dauer sind. Gute Gefühle kommen und gehen wie Sonnenschein und schönes Wetter. Die Natur hat das so eingerichtet. Wenn unsere positiven Gefühle nicht störbar wären, dann könnten wir nicht auf Gefahren reagieren, dann könnten wir nicht den Unterschied zwischen echten und falschen Freunden bemerken, zwischen guten und schlechten Nachrichten, zwischen einem Kompliment und einer Beleidigung.
Es ist gerade dieser flüchtige Charakter der positiven Gefühle, der sie so kostbar macht. Wenn wir unser privates Leben und unsere Gruppenpraxis verbessern möchten, müssen wir diese Tatsache berücksichtigen. Wir können die positiven Gefühle nicht festhalten, wir können aber darauf hinarbeiten, Gefühle von Verbundenheit, Leichtigkeit und kreativer Energie immer öfter und immer intensiver zu empfinden. Die buddhistische Philosophie warnt uns davor, uns allzu sehr an die Dinge zu binden. Statt uns anzuklammern, sollen wir häufiger uns selbst und anderen Gutes tun, sodass wir immer mehr positive Erfahrungen machen. Es gibt nämlich so etwas wie einen Positivitätsquotienten. Damit bezeichnen wir das Verhältnis zwischen positiven Erlebnissen und leidvoll erlebter Negativität.
Unser Positivitätsquotient spiegelt das Verhältnis zwischen positiven und negativen Erlebnissen im selben Zeitraum (P:N). Wenn wir mehr negative Erfahrungen machen als positive, beginnt eine Abwärtsspirale. Wir erleben dann die Welt als immer enger, rigider und negativer. Unsere Kreativität nimmt ab, was sich lähmend auf unser Leben, privat wie in der Gruppe, auswirkt. Wenn wir dagegen mehr positive Erfahrungen machen als negative, dann beginnt in der Regel eine Aufwärtsspirale. Entwicklung wird möglich, wir fühlen uns lebendig und kreativ, wir öffnen uns dem Leben und der Welt.
Wir müssen also in unseren Gruppen sehr darauf achten, in welche Richtung die Entwicklung geht. Denn keine Gruppe ist statisch. Wir haben oft die Illusion, dass wir die Dinge in einer permanenten Balance halten können, doch das ist nicht möglich, da alles ständig in Bewegung ist. Der Positivitätsquotient ist ein Indiz dafür, ob eine Gruppe lernt, sich entwickelt und kreativ ist oder ob sie stagniert und Feindseligkeit und Depression ihr Klima bestimmen.
Wenn eine Gruppe sich positiv entwickelt, dann fühlen die Teilnehmer sich nicht nur bei der gemeinsamen Arbeit wohl, sie verhalten sich auch außerhalb anders. Sie engagieren sich in ihren Familien, bei der Arbeit, in der Politik und in Vereinen. Das Gefühl, dass ihr Leben einen Sinn hat, inspiriert sie, mehr zu tun als nur ihrem privaten Egoismus zu dienen. Sie sind den anderen Menschen zugewandt und verhalten sich altruistisch.
Ende der 90er Jahre entwickelte die amerikanische Psychologin Barbara Fredrickson eine neue Theorie zur Funktion positiver Gefühle und Gedanken im menschlichen Leben. Ihr war aufgefallen, dass negative Emotionen unser Verhalten stark einschränken, während positive Emotionen das Gegenteil bewirken: Sie vergrößern unser kognitives Feld, verbreitern unsere Perspektive und öffnen unser Bewusstsein für neue Ideen. (Freude z. B. weckt unsere Spiellust und Kreativität; Neugier beflügelt unseren Forschergeist und unsere Lust am Lernen; das Gefühl der Verbundenheit regt uns an, den Augenblick zu genießen und unsere Einheit mit der Welt zu spüren.)
Positive Gefühle schließen unseren Geist auf. Aber sie öffnen nicht nur unseren Intellekt, sondern auch unser Herz und unsere Kreativität; sie machen uns empfänglich und in einem gewissen Maß sogar weise.
Barbara Fredrickson entdeckte, dass sich positive und negative Gefühle auf verschiedenen Zeitebenen auswirken. Während negative Emotionen dem Schutz unseres Lebens, also kurzfristigen Zielen dienen, geht es bei den positiven Emotionen um langfristige Ziele: Sie helfen uns, Ressourcen, Fähigkeiten und Charakterstärken zu entwickeln, auf die wir zurückgreifen können, wenn wir vor Schwierigkeiten oder Herausforderungen stehen.
Für unsere Gruppenpraxis ergibt sich aus diesen Erkenntnissen Folgendes: Wenn wir dafür sorgen, dass unsere Teilnehmer häufiger positive Emotionen und Gedanken erleben, dann werden sie angeregt, eine offene Geisteshaltung einzunehmen, sie werden neugieriger und risikobereiter. Dadurch versetzen wir sie in die Lage, ein genaueres Bild von der Welt zu entwickeln.
Eine positive Perspektive öffnet unser Herz und unseren Geist. Sie macht uns neugierig auf neue Beziehungen und neues Wissen. Negative Gefühle und Gedanken schränken dagegen unser Erleben ein. Wenn wir uns schlecht fühlen, haben wir keine Lust zu lernen, wir verschließen uns und geben uns mit dem Status quo zufrieden.
Im Rückblick können wir die Weisheit der Evolution erkennen: Gute Gefühle gaben unseren Vorfahren eine breite Perspektive und weckten ihr Interesse an der Umwelt. Das half ihnen, Ressourcen für die Zukunft zu entwickeln, physische, soziale, intellektuelle und psychologische. Gute Gefühle versetzten unsere Vorfahren außerdem in eine kontemplative und lernbereite Stimmung; weil sie sich sicher und zufrieden fühlten, konnten sie auch komplizierte Gefühle herausbilden wie Staunen, Inspiration und Dankbarkeit. Sie schufen die ganze Skala positiver Gefühle, von denen wir heute profitieren. So waren sie in der Lage, die Kultur zu entwickeln.
Damit die positiven Gefühle in unserem Leben und unseren Gruppen Raum gewinnen, müssen wir also darauf achten, dass die Mischung stimmt, das Verhältnis zwischen freudigen, herzerwärmenden Erlebnissen auf der einen und den bedrückenden, negativen auf der anderen Seite. Barbara Fredrickson ist zu der Überzeugung gelangt, dass dieses Verhältnis mindestens 3:1 sein sollte. Das bedeutet: Für jedes traurige oder ärgerliche Erlebnis benötigen wir drei positive emotionale Erfahrungen, die uns wieder aufrichten. Diese Mischung erlaubt es uns zu wachsen, zu lernen und produktive soziale Bindungen einzugehen.
Positive Gefühle in Gruppen
und im privaten Leben
Eine positive Lebensperspektive entwickelt sich nur auf der Grundlage von positiven Gefühlen und Gedanken. Im Folgenden soll eine Reihe positiver Gefühle skizziert werden, die wir im Alltag und auch in unseren Gruppen besonders häufig erleben.
Positive Emotionen werden von verschiedenen Menschen sehr individuell erlebt und interpretiert, da sie nur zum Teil von äußeren Ereignissen abhängen. Sie beziehen ihre geheimnisvolle Energie aus der biologischen und emotionalen Lebensgeschichte des Einzelnen. Dieser individuelle Charakter der Gefühle macht unsere Arbeit als Gruppenleiter interessant aber auch kompliziert: Was den einen Teilnehmer inspiriert, langweilt vielleicht den anderen. Darum müssen wir darauf achten, dass unsere Spiele und Übungen vielfältig und variationsreich sind. In der konkreten Situation müssen wir oft schnell entscheiden. Dann ist unsere Intuition unser bester Berater.
Wenn wir im Folgenden zehn verschiedene Typen positiver Gefühle vorstellen, dann sollten Sie an Ihr eigenes Leben denken und sich fragen:
Wann habe ich dieses Gefühl zum letzten Mal gespürt?
Wo war ich zu diesem Zeitpunkt gerade?
Was habe ich getan?
Mit wem war ich gegebenenfalls zusammen?
Wodurch wurde das Gefühl sonst ausgelöst?
Gibt es noch mehr Auslöser für dieses Gefühl?
Was kann ich in Zukunft tun, um dieses...