Die Struktur des Ego
Persönlichkeit
Jeder Organismus hat eine Persönlichkeit, das lässt sich bei Hunden und Katzen und Pferden leicht beobachten. Bei einer Studie hat man festgestellt, dass selbst Ameisen eine Persönlichkeit aufweisen. Innerhalb der Struktur des Ego bildet die Persönlichkeit den äußersten Ring, sie liegt ganz oben an der Oberfläche und besteht aus konditionierten und genetischen Anlagen. Diese Muster treffen dann später im Leben auf die entsprechenden Umwelteinflüsse oder sozialen Umstände.
Wir haben es mit drei Körpern der Manifestation zu tun – dem mentalen, dem emotionalen und dem physischen Körper, die in der Persönlichkeit als »meine Gedanken«, »meine Gefühle« und »meine Verhaltensweisen« aktiv sind. Auf diesen drei Ebenen sind wir in dieser Welt identifiziert.
Die meisten herkömmlichen Therapien setzen bei der Arbeit mit dem Ego an; sie sind überwiegend darauf ausgerichtet, dir zu einem besser funktionierenden Ego zu verhelfen. Die Identifikation mit dem Ego verlangt nun allerdings, dass die persönliche Geschichte ständig aufrechterhalten wird. Die Geschichte von mir entsteht, wenn einzelne Momente auftauchender Phänomene aneinander gereiht werden. Das Ganze wird mit einem Band der Kontinuität versehen, indem man alles auf sich selbst bezieht, was bedeutet: Man nimmt es persönlich. Oft geht es in der Therapie darum, die Geschichte zu verändern, die du dir selbst erzählst, und oft genug ist der Therapeut ein sympathisierender Berater, der dir beibringt, wie du mit der Geschichte anders umgehen kannst.
Du kannst deine persönliche Geschichte verändern. Ein positiver innerer Dialog ist einem negativen sicher vorzuziehen, und in einem bestimmten Stadium kann es sehr wertvoll sein, deine Geschichte zu verändern. Es kann wichtig sein zu erkennen, dass du in einer bestimmten Geschichte nicht feststeckst. Es ist nur so: Wenn Therapie hier aufhört, wirst du dich immer wieder mit denselben Themen auseinander setzen müssen, du wirst sie in ähnlichen Umständen wieder und wieder aufgreifen. Vielleicht für diese Runde in einer anderen Besetzung, aber bestimmt wieder in der alten, bekannten Rollenverteilung.
Oft gehen Menschen zu Seminaren oder in die Therapie, weil sie gern mehr Mut oder weniger Angst hätten, weil sie lernen möchten, sich selbst besser anzunehmen oder ihren Eltern zu vergeben. In alledem geht es um die Arbeit an der Persönlichkeit – etwas soll hier anders werden. Die große Falle bei der Arbeit an der Persönlichkeit oder an den Umständen liegt darin, dass hier niemals die Frage gestellt wird: Wer hat denn diese Persönlichkeit; wer ist der, der an ihr arbeitet?
Geschichten erzählen – soweit es um die eigene geht – ist eine Form von Selbsthypnose, es handelt sich um eine »Trance-Induktion«. Bewusstsein versetzt sich selbst in Trance, und von hier aus beschreibt es fortan die Welt, von hier aus reagiert es auf die Welt, und von hier aus entwickelt es persönliche Meinungen und Urteile darüber, wie die Welt denn auszusehen hätte.
Wenn du spirituell gereift bist, wirst du dich allein mit einer besseren Persönlichkeit oder einem besseren Leben nicht zufrieden geben. Dich wird nach etwas Tieferem verlangen. Ein spürbares Sehnen, wieder nach Hause zu kommen, ein Sehnen nach wahrem Frieden, nach wirklicher Liebe und wahrhaftiger Freiheit. Grundsätzlich und schlussendlich ist die Persönlichkeit weder das Problem, noch ist es die Lösung.
Charakterfixierung
Das Enneagramm ist kein System der Persönlichkeitsstrukturen, auch wenn es sehr häufig als solches dargestellt wird. Es ist vielmehr eine Beschreibung der Charakterfixierung, und dieselbe Charakterfixierung kann sich in einer ganzen Reihe unterschiedlicher Persönlichkeiten zeigen. Jack Nicholson und Slobodan Milosevic zum Beispiel haben dieselbe Charakterfixierung, aber unterschiedliche Persönlichkeiten.
Die Charakterfixierung liegt auf einer tieferen Ebene als die der Persönlichkeit. Hier finden wir den Knotenpunkt des Ego. Von hier aus, von dieser Identifikation im tiefsten Kern steigen alle Gedanken, alle Gefühle und alle Verhaltensweisen der Persönlichkeit auf. Man kann die Charakterfixierung auch als zentrale Überlebensstrategie des Körpers betrachten. Hier, auf dieser Ebene, wird das falsche »ich«-Gefühl, das die Wurzel allen Leidens ist, erkannt und transzendiert.
In der Charakterfixierung maskiert sich das Ego und verdeckt den wahren Charakter. Wahrer Charakter befindet sich auf der Ebene der Seele. Er drückt sich in den Eigenschaften aus, die die Seele ihrer Essenz entsprechend hervorgebracht hat. Wahrer Charakter wird entwickelt, wenn man gewillt ist, persönliches Vergnügen oder persönliche Sicherheit für etwas Wichtigeres herzugeben; wenn man bereit ist, für etwas einzustehen, von dem man weiß, dass es wahr ist, auch im Angesicht der Rationalisierungen und Ängste, die in der Charakterfixierung emporsteigen.
Wahrer Charakter lässt sich allerdings nicht entwickeln, indem man direkt an ihm arbeitet, das wäre eine Form von Selbstsucht. Er zeigt sich in selbstlosem Handeln und wird auch durch selbstloses Handeln gestärkt.
Die große Herausforderung liegt darin, zu erkennen, auf welche Weise wahrer Charakter und die wesentlichen Eigenschaften der Seele von der Charakterfixierung nachgeahmt, wie sie imitiert werden. Das wird im folgenden Teil beschrieben. Dieses Nachahmen wird zum untrennbaren Bestandteil der Strategie des Ego in seinem Bemühen um Sicherheit, Kontrolle und Liebe.
Die Charakterfixierung ist überdies auch »hilfreich«, wenn es darum geht, dieses »ich«-Gefühl in Sicherheit zu halten und abzuschirmen, denn sie bietet ein positives Bild an, mit dem man sich – offen oder heimlich – identifizieren kann. So kommt es dann erst gar nicht so weit, dass dieser »ich«-Sinn überhaupt in Frage gestellt und überprüft wird. Zu jeder Fixierung gehört nämlich eine »Idealisierung«, eine verinnerlichte Geschichte, die alles gut und richtig erscheinen lässt und somit über das, was wirklich vor sich geht, hinwegtäuscht.
Wenn man zuerst der »gebenden« Fixierung, der Zwei, begegnet, erscheint einem das alles als so überaus freundlich und liebevoll. Die unausgesprochene Botschaft, die von der Zwei ausgeht, lautet: »Wie kann ich dir helfen, was kann ich für dich tun?« Bei näherem Kennenlernen wirst du allerdings merken, dass diese Fixierung eher so etwas ist wie eine Liebes-Melkmaschine. »Ich sorge für dich – wenn du mich dafür mit Liebe versorgst. Ich tue alles für dich, wenn du mir dafür meinen Selbstwert gibst.« Diese heimliche Selbstsucht wird in der Nachahmung wahrer Güte oder Freundlichkeit verdeckt. Wahrhaftige, grundlegende Freundlichkeit und Güte müssen nicht anerkannt werden, während die egobezogene Imitation von Güte die Anerkennung braucht.
Es kann durchaus sein, dass die Charakterfixierung, da sie ja die Essenz der Seele nachahmt, so erlebt wird, als handele es sich um eine wirkliche Selbsterfahrung. Auch aus diesem Grund ist das heilige Enneagramm von so unschätzbarem Wert, denn es hat die Fähigkeit, diesen Trick des Ego rücksichtslos zu durchschauen.
Seele und Essenz
Unsere Seele ist kristallisiertes Bewusstsein in einer subtileren Form; Ich-Bewusstsein taucht als äußerst vergänglicher Körper auf. Es ist die Seele, die sich Leben um Leben auf der Suche nach Glück und Erfüllung, auf der Suche nach Gott inkarniert.
Die unerleuchtete, mit einer egobezogenen Identität belastete Seele wird in der alten Sprache Indiens, in Sanskrit, jiva genannt. In diesem Fall ist jiva oder die Seele das Lagerhaus latenter Neigungen und unerfüllter Wünsche, die in einem neuen Körper wieder geboren werden. Indem sich die Seele mit dem Körper identifiziert, entsteht der Ego-Knoten der Charakterfixierung.
Die Eigenschaften der Essenz der Seele finden wir im Sufi-System der subtilen lataif (der neun latifas) beschrieben. Für jede Eigenschaft der Seelen-Essenz gibt es eine Entsprechung in der Fixierung, wobei die Eigenschaft der Seelen-Essenz von der Fixierung verschleiert oder maskiert wird.
So wird zum Beispiel die rote latifa der shakti oder Kraft in der Achter-Fixierung maskiert, indem die Macht hier für persönliche Zwecke eingesetzt wird. Die grüne latifa der Freundlichkeit und Güte wird in der Zwei getrübt, indem die Güte hier als Stolz erscheint. Die weiße latifa der Reinheit wird durch den Zorn verdunkelt, den die Fixierung der Eins gegen alles empfindet, was nicht perfekt ist. Die goldene latifa der Freude wird vom Schleier der Melancholie verdeckt, in den die Vier sich auf der Suche nach eben dieser Freude einhüllt. Die schwarze latifa des Friedens wird durch den Versuch der Fünf verschleiert, in ihrem Rückzug vom Kontakt mit der äußeren Welt den eigenen Frieden herzustellen. Die blaue latifa des Sich-Versenkens wird von der Sieben zugedeckt, indem sie die Glückseligkeit in äußeren Aktivitäten sucht.
Die lataif der Essenz beschreiben keinesfalls die Wahrheit der Seele, denn die Seele selbst ist bar jeder Form, auch der subtilsten. Die lebendige, leere Intelligenz, die Wahrheit des Seins an sich, hat weder Farbe, Form noch Eigenschaft, und dennoch ist sie Ursprung aller Form und verleiht allem und jedem seine Eigenart, Beschaffenheit und...