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Das Fragezeichen im Herzen des Menschen
? Welchen Platz hat die Mystik in deiner Religion?
Meine Religion ist die reine Mystik, es geht um nichts anderes. Andere Religionen haben keinen Platz für Mystik. Sie können keinen Platz dafür haben, weil sie auf jede Frage schon Antworten wissen – Scheinantworten ohne jeden Beweis, ohne stichhaltige Begründung. Sie sind aber eine Beruhigung für diese leichtgläubige Menschheit; sie entmystifizieren das Dasein. Alles Wissen entmystifiziert das Dasein.
Ich lehre euch kein Scheinwissen. Genau das tun aber die Religionen: Sie machen euch scheinwissend. Sie haben einen Gott als Schöpfer. Und sie haben Boten Gottes, die euch sämtliche Antworten liefern – direkt von Gott, aus erster Quelle, unbestreitbar und unfehlbar. Diese Religionen haben es verstanden, die Menschheit auszubeuten, einfach weil der Mensch ein inneres Unbehagen fühlt, wenn es Fragen gibt, auf die sich keine Antworten finden lassen. Und Fragen gibt es. Der Mensch wird mit Fragen geboren, mit einem großen Fragezeichen im Herzen – und das ist gut so.
Es ist ein Glück, dass der Mensch mit einem Fragezeichen geboren wird, sonst wäre er nur eine andere Tiergattung. Büffel haben keine Fragen – sie akzeptieren alles, wie es ist, ohne es zu hinterfragen; sie sind wirklich gläubig und fromm. Bäume haben keine Fragen, Vögel haben keine Fragen. Nur der Mensch hat Fragen, und das ist sein Vorrecht, sein menschliches Privileg. Er allein in der ganzen Schöpfung ist fähig, Fragen zu stellen.
Die alten Religionen haben es schon immer darauf angelegt, euch eures Vorrechts zu berauben. Sie wollten euch gewaltsam auf dem Niveau der Tiere halten. Das nennen sie »Glauben«, unerschütterlichen Glauben. Sie sähen euch lieber als Büffel, als Esel, aber nicht als Menschen. Aber gerade diese einzigartige Eigenschaft ist es, die den Menschen vom Tier unterscheidet: das Fragezeichen.
Ja, es bringt Chaos. Ohne zu fragen lebt es sich viel friedlicher. Ein solcher Friede ist aber ein toter Friede, in ihm ist kein Leben. Eine solche Stille ist die eines Friedhofs, einer Grabstätte. Lieber ist mir der Mensch im Chaos, aber lebendig.
Ich möchte den Menschen nicht als Grabstätte. Diese Art Friede, diese Art Stille hat einen hohen Preis: Ihr verliert eure ganze Lebendigkeit, verliert eure Intelligenz, verliert jede Möglichkeit, eine ekstatische Lebensart für euch zu entdecken. Dass der Mensch mit einem Fragezeichen geboren wird, ist nicht unerheblich. Dass jedes Kind mit dem Zweifel geboren wird und nicht mit dem Glauben, ist nicht das Werk des Teufels.
Es ist natürlich, zu zweifeln. Jedes Kind stellt tausenderlei Fragen. Und je mehr es fragt, umso mehr zeigt sich sein Potenzial, etwas entdecken zu können. Es gibt auch stumme Kinder – nicht dass sie stumm wären, ihre Seele ist nur verstummt. Den Eltern sind sie sehr genehm, weil sie keine Probleme machen, keine peinlichen Fragen stellen. Jedes Kleinkind könnte eure ganze Wissensfassade zum Einsturz bringen.
Dazu fällt mir vieles aus meiner Kindheit ein, was euch die Schönheit des Fragezeichens verstehen lässt. Erst wenn ihr versteht, dass das Fragezeichen euer Menschsein ausmacht, eure Würde, erst dann könnt ihr verstehen, was Mystik bedeutet.
Mystifizierung ist nicht Mystik. Mystifizierung ist die Vernebelungstaktik der Priester. Sie haben euch eures Fragezeichens beraubt. Sie haben jede Möglichkeit aus dem Weg geräumt, das Mysterium der Existenz selbst ergründen zu können. Sie mussten euch aber einen Ersatz liefern, irgendein einlullendes Trostpflaster. Dazu dienen die religiösen Schriften, und die grundlegende Methode war und ist überall die Gleiche.
Im Hinduismus zum Beispiel sind die Schriften in Sanskrit verfasst, einer äußerst schwierigen Sprache. Kein einziger Inder redet in Sanskrit; es ist eine tote Sprache. Was mich betrifft, habe ich mir große Mühe gegeben, herauszufinden, ob diese Sprache jemals lebte, doch ich habe keinen einzigen Beweis dafür gefunden. Sanskrit war schon immer tot, von Anfang an. Diese Sprache ist eine Totgeburt, eine Erfindung der Priester. Das Volk hat diese Sprache nie verwendet; man kann sie nicht verwenden. Sie ist viel zu kompliziert – in puncto Grammatik, Mathematik, Phonetik –, als dass das Volk sie verwenden könnte.
Im Gebrauch durch die Menschen wird eine Sprache mit der Zeit weniger grammatikalisch, aber lebendiger, weniger logisch, aber bedeutungsträchtiger. Sie wird direkter, weniger abstrakt, weniger kultiviert. Und sie entwickelt sich weiter. Sanskrit hat sich nie weiterentwickelt. Etwas Totes kann sich nicht weiterentwickeln. Sanskrit ist genau dort stehen geblieben, wo es schon vor fünftausend Jahren war, ohne jedes Wachstum. Aber etwas Totes kann natürlich nicht wachsen.
Eine lebende Sprache wächst im Gebrauch durch die Menschen ständig weiter. Ihre Wörter schleifen sich ab und werden runder, genau wie Steine, die in einem Fluss landen und mit der Zeit immer runder werden. Durch die Strömung, den ständigen Zusammenprall mit Felsen und anderen Steinen werden sie allmählich ganz rund. Man kann es sehen, wenn eine Sprache weiterwächst. Man kann sofort erkennen und definieren, welche Sprachen tot und welche lebendig sind.
Tote Sprachen werden immer perfekt sein, lebende Sprachen können nie perfekt sein. Denn lebende Sprachen werden von unperfekten, fehlbaren Menschen gesprochen und verändern sich von Mund zu Mund. Sie werden immer besser verwendbar.
Beispielsweise kam Englisch von außen nach Indien. Manche Wörter gingen zwangsläufig in den allgemeinen Sprachgebrauch ein, etwa das Wort station, Bahnhof oder Station. Nun hatte es in Indien nie so etwas wie eine »Station« gegeben. Dafür mussten erst die Engländer kommen, und als dann die Eisenbahn eingeführt wurde, gab es das Wort station bereits. Wenn man aber in Indien durchs ganze Land reist, findet man in den Dörfern, wo achtundneunzig Prozent der Leute kein Englisch sprechen, nicht einen einzigen Inder, der das Wort station verwendet. Es klingt einfach zu schwierig, zu kultiviert. Im Gebrauch wurde daraus tesan, ohne das Zutun von irgendjemandem. Durch bloßen Gebrauch entstand das neue Wort tesan. Es ist einfacher. Station war zu kompliziert, zu mühsam, darum tesan.
Oder das Wort report, berichten, sich melden … Es kam mit der Sprache der Engländer, mit ihren Polizeistationen und der Pflicht, sich dort zu melden. Auf dem Land verwendet aber erstaunlicherweise keiner das Wort report. Alle sagen rapat. Es ist runder geworden, abgeschliffen: rapat. Was an report schwierig war, schwer auszusprechen war, ist nicht mehr da. Rapat klingt irgendwie menschlicher. So gibt es viele Wörter, die eine interessante Geschichte haben. Wenn Wörter von den Menschen gebraucht werden, nehmen sie allmählich ihre eigene Form an. Allein durch den Gebrauch verändern sie sich ständig.
Doch Sanskrit bleibt immer gleich. Hebräisch, Arabisch, Altgriechisch, Latein existieren alle unverändert, weit über dem Horizont der Leute, weitab von ihrer Realität. Sanskrit war nie die Sprache des Volkes. Daher rührt seine mystifizierende, faszinierende Wirkung. Das ganze Land war von der Priesterschaft abhängig, doch was die Priester sagten, war reiner Schwachsinn – auf Sanskrit. Wenn man lernt, es zu verstehen, kann man sich nur wundern: Was soll daran heilig sein? Wenn aber etwas in Sanskrit rezitiert wird und man keine Ahnung hat, was es bedeutet, ist man fasziniert.
Um die Heiligkeit der Schriften zu bewahren, war es nötig, sie geheim zu halten. Sie sollten nicht in die Hände des Volkes gelangen; die Leute sollten sie nicht lesen können. Wenn es gebraucht wurde, war der Priester da; er konnte die Schriften lesen. Als der Buchdruck eingeführt wurde, lehnten die Hindus es ab, ihre Schriften drucken zu lassen: Was würde sonst aus ihrer Geheimnistuerei werden, die sie seit Jahrtausenden betrieben hatten?
Die Hindu-Priester haben das ganze Land mit der Vorstellung eingenebelt, sämtliche Geheimnisse würden in ihren heiligen Büchern stehen – aber diese heiligen Bücher sind zu neunundneunzig Prozent einfach nur Kuhdung! Den Hindus mag er heilig sein, aber sonst ist er für niemanden heilig. Als diese geheiligten Bücher in andere Sprachen übersetzt wurden, hörte diese ganze Mystifizierung auf; der Hinduismus verlor seinen Nimbus, seine Glorie, denn nun konnte man es in jeder Sprache nachlesen – die Schriften wurden allen zugänglich.
Mahavira redete nie in Sanskrit, Gautama Buddha redete nie in Sanskrit – allein schon der Priesterschaft zum Trotz. Sie redeten in der Sprache des Volkes. Die Priesterschaft verurteilte sie deswegen: »Das ist nicht die rechte Art. Ihr solltet in Sanskrit reden. Ihr seid beide hochgebildet« – denn beide waren Söhne großer Könige – »und ihr beherrscht das Sanskrit. Weshalb redet ihr also in der Sprache der gewöhnlichen Leute?«
Sie sagten: »Das hat einen bestimmten Grund: Wir wollen den Menschen klarmachen, dass diese Geheimnistuerei ein Ende haben muss. An euren Schriften ist gar nichts dran, aber weil sie in einer Sprache sind, die keiner versteht, ist alles der Fantasie der Leute überlassen.«
Wahrscheinlich versteht nicht mal der Priester, was er da rezitiert. Sanskrit lernt man durch Auswendiglernen, nicht durch Verstehen. Das ist ein großer Unterschied. Sanskrit wird rein mechanisch, durch Nachsprechen gelernt, bis man es auswendig kann. Was zählt, ist...