Ich lag auf einem Felsvorsprung in der Nähe des Clouds Rest, einem schmalen, rund zwölfhundert Meter hohen Granitgrat in gut zweitausendsiebenhundert Metern Höhe. Die Dunkelheit war hereingebrochen. Ringsum lag Schnee. Ich war fünfzehn Meter hoch auf ein Plateau von der Größe einer Parkbank geklettert, in der Hoffnung, dass mich hier oben die Bären nicht erwischten.
Die Erkenntnis, welcher Lebensweg der richtige für mich war, hatte ich einer losen Verkettung von Ereignissen zu verdanken – genau dieselbe, die mich auch hierhergeführt hatte. Als ich sieben war, trennten sich meine Eltern, und meine Mom und ich zogen nahezu jedes Jahr um. Irgendwann – inzwischen war ich sechzehn – zogen wir beim damaligen Freund meiner Mutter ein, dessen Wohnung eine Dreiviertelstunde von meiner Schule entfernt lag. Dies und meine Unlust, den ganzen Tag die Schulbank zu drücken, führten dazu, dass die klassische Schulbildung immer mehr an Bedeutung für mich verlor.
In den normalen Schulbetrieb hatte ich eigentlich nie so richtig gepasst. Zwar war ich unglaublich wissbegierig, aber acht Stunden am Tag in einem Klassenzimmer eingesperrt zu sein und nur eine Stunde draußen herumlaufen und spielen zu dürfen war nicht das Richtige für mich. Das Verhältnis stimmte einfach nicht: Ich musste die Hälfte des Tages im Freien verbringen, und zwar in der Natur, auch wenn ich es damals noch nicht wusste. Im Lauf der Zeit genügte es mir nicht mehr, mit einem Holzschläger einen Ball zu schlagen, auf einem Spielfeld herumzurennen und auf viereckige Polster zu hüpfen; nein, ich brauchte das Runde und Ovale der Natur.
Von meinem Pult aus malte ich mir die Welt draußen aus, um mich nicht so eingesperrt zu fühlen. Ich war schlicht nicht dafür geschaffen, den ganzen Tag bloß trockene Informationen zu verarbeiten. Auf jeder Schule, die ich besuchte, war ich der beste Sportler. Ich war kräftig gebaut, dazu wendig und konnte schnell laufen.
Der Wendepunkt kam sehr früh, in der zweiten Klasse, als wir unsere Geschichtsbücher beim Kapitel über die amerikanischen Ureinwohner aufschlugen. Auch heute noch erinnere ich mich, wie mich die Abbildung einer wunderschönen Speerspitze berührte. Obwohl ich es damals noch nicht ausdrücken konnte, spürte ich, dass der Mensch, der diese perfekt geformte Speerspitze erschaffen hatte, jemand Besonderes gewesen sein musste. Dieses Werkzeug war nicht wie die, die ich aus der Eisenwarenhandlung kannte. Es hatte eine Seele.
Während ich dieses Wunderwerk bestaunte, erklärte die Lehrerin, dass wir uns auch mit dem spirituellen Glauben der amerikanischen Ureinwohner beschäftigen würden, warnte uns jedoch, jene würden »Gott nicht so kennen wie wir«. Dass die amerikanischen Ureinwohner in Gottes Augen angeblich weniger wert waren als wir, machte sie nur noch interessanter für mich. Denn schon damals wusste ich, dass die Welt nicht bloß aus den religiösen Dogmen einer Dorfschule bestand.
Je enger mein Kontakt mit der Natur wurde, umso mehr wuchs meine Distanz zum Schulalltag. Wie die meisten Jungs war auch ich glühender Fan von Superhelden. Superman war cool, aber letztlich war es Tarzan, der mein Herz gewann, weil er in der Wildnis lebte und sowohl die Menschen als auch den Dschungel beschützte. Ich war hin und weg von seinen körperlichen Fähigkeiten und der Tatsache, dass er in perfekter Harmonie mit der Welt rings um ihn herum lebte.
Ich wollte Tarzan sein, auch wenn ich nicht recht wusste, wie ich das bewerkstelligen sollte.
Besonders genoss ich immer die Zeit in unserer Hütte in Lake Arrowhead. Mein Vater war leidenschaftlicher Hobbynaturkundler. Er brachte mir alles Wichtige über Pflanzen bei und nahm mich mit auf die Wachteljagd. Auf unseren langen Wanderungen erklärte er mir die landschaftlichen Begebenheiten und ließ mich an Pflanzen riechen.
Diese Ausflüge und die Wochenenden während des Jahres, wenn meine Mutter mit mir an den Strand fuhr, zeigten mir, wie lebendig ich mich dort draußen fühlte. In den Bergen wie im städtischen Park fühlte ich mich ganz anders als in Gebäuden oder mit Asphalt unter den Füßen.
Menschen verwirrten mich sehr häufig, die Mechanismen der Natur hingegen erschienen mir stets logisch und nachvollziehbar.
Mit siebzehn erlaubten mir meine Eltern, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und ich zog in den Yosemite Nationalpark. Es war das ideale Alter, um sich mit der Wildnis auseinanderzusetzen. Ich hatte die Kraft der Jugend auf meiner Seite und keine Familie, für die ich sorgen musste. Es war Spätherbst. Ich nahm einen Job in einer Eisdiele an, und als sie zum Saisonende schloss, arbeitete ich die nächsten sechs Wochen in einer Cafeteria. Ich legte mich mächtig ins Zeug und bekam besondere Veranstaltungen und Catering-Events zugeteilt. Das Beste an dem Job war allerdings, dass ich nur an zwei Tagen pro Woche arbeiten musste.
Das gab mir genug Freiheit, die Natur in meinem Lebensrhythmus zu entdecken.
So kam es, dass ich im schlimmsten Schneesturm des gesamten Winters auf einem Felsvorsprung in Gipfelnähe des Clouds Rest landete, mit Bären als einziger Gesellschaft. Und dort oben geschah etwas Seltsames. Statt mich gefangen zu fühlen, überkam mich ein Gefühl der Freiheit, nicht nur, weil ich dort sein wollte, sondern weil ich es musste. Ich war auf den Clouds Rest geklettert, weil ich gewusst hatte, dass es dort etwas für mich zu entdecken gab.
Etwas, das größer war als ich.
In dieser Zeit stand Wandern im Yosemite ganz hoch im Kurs. An ihren freien Tagen oder Wochenenden packten die jungen Leute aus der Gegend ihren Rucksack, um irgendwo in der freien Natur zu campen. Für mich waren diese Trips bloß Touristenausflüge. Mein erster Rucksacktrip sollte etwas ganz Besonderes, ein etwas verrücktes Abenteuer sein, daher beschloss ich, den Clouds Rest zu erklimmen.
Es war Winter, und ich hatte ein langes Wochenende frei. Überall lag Schnee, bei Temperaturen zwischen höchstens fünf Grad während des Tages und minus zehn Grad nachts. Ich zog Shorts, Socken, Schuhe und eine mitteldicke Fleecejacke an und beschloss, mit minimalem Gepäck loszuziehen: einem besonders leichten, wasserabweisenden Biwaksack, der mir Schutz vor den Elementen bot.
Ich wollte zuerst den Clouds Rest erklimmen und dann weiter zum Half Dome wandern, mit so wenig Proviant wie möglich, um herauszufinden, was das Land mir anbot.
Einst galt der Half Dome als nicht besteigbar. In einem Bericht aus dem Jahr 1865 hieß es, er sei »wahrscheinlich der einzige von all den hohen Bergen des Yosemite, auf den niemals ein Mensch einen Fuß gesetzt hat und wohl auch niemals jemand einen Fuß setzen wird«. Zehn Jahre später bezwang ihn George Anderson, jener Bergsteiger, der auch die Drahtseile verlegte, die heute noch verwendet werden. Mittlerweile kann jeder einigermaßen trainierte Bergsteiger den Gipfel erreichen.
Kollegen hatten mich im Vorfeld gewarnt, der Clouds Rest sei ein heimtückischer Berg und die winterlichen Bedingungen seien viel zu brutal für eine erste lange Wochenendtour, noch dazu, da ich ganz allein losziehen wollte – und in Shorts! Aber ich musste ihn sehen.
Ich rannte den Berg förmlich hinauf. Währenddessen brach ein Schneesturm los. Nach gut elf Kilometern, etwa der Hälfte der Strecke, befindet sich eine Art Basislager, das sich jedoch merklich leerte. Alle strebten ins Tal zurück und warnten mich, der Sturm hätte enorm zugelegt, was mich in meinem Entschluss weiterzugehen nur noch bestärkte.
Etwas trieb mich an, dort hinaufzugehen und den Berg mitten im Schneesturm zu erleben.
Ich kam am Little Yosemite Valley vorbei und schlug den Weg zum Clouds Rest ein. Nach einer Weile erreichte ich die Baumgrenze und schließlich einen Aussichtspunkt gut drei Kilometer unterhalb des Gipfels. Vor mir erstreckte sich eine weiße Schneelandschaft. Der Schneefall wurde immer schlimmer, die Sichtweite betrug nicht einmal drei Meter. Da ich mich so schnell bewegte, war mir trotz meiner Shorts nicht kalt.
Der Berg zog mich geradezu magisch an. Die meisten Menschen hätten die Situation als gefährlich empfunden, ich hingegen verspürte keine Angst um meine Sicherheit. Das hier war kein idiotischer Egotrip, um anderen etwas zu beweisen, sondern ich unternahm diese Wanderung ausschließlich für mich. Ich wusste, dass mir nichts passieren würde, solange ich nur die richtigen Entscheidungen traf. Ich würde mich nicht in Gefahr begeben und von meiner Angst leiten lassen. Diese Grenze würde ich keinesfalls überschreiten.
Jeder hat seine ganz eigene Art, mit Angst umzugehen. Ich bin der Überzeugung, dass Menschen, die fest hinter ihrem Tun stehen und ehrlich zu sich selbst und ihrer Umwelt sind, die Angst überwinden können. Es geht niemals nur um uns allein. Vielmehr steht eine größere Macht hinter uns, die uns bestimmte Dinge tun lässt.
Die feste Überzeugung, sich auf dem richtigen Lebensweg zu befinden, kann uns helfen, unsere Ängste in den Griff zu bekommen.
Nichtsdestotrotz ist ein gewisses Maß an Angst durchaus ratsam und auch völlig normal, da es einen davon abhält, überstürzte Entscheidungen zu treffen; schwierig und gefährlich wird es erst, wenn man im Begriff steht, das Falsche zu tun. Unkontrollierbare Angst macht sich immer dann bemerkbar, wenn man sich zur falschen Zeit am falschen Ort befindet und unvorbereitet ist. Entweder war man von Anfang an auf dem falschen Dampfer, oder aber man hat irgendwo unterwegs das Ziel aus den Augen verloren.
Der Schneesturm tobte und tobte, fast an der Grenze zum Whiteout. Obwohl sich der Gipfel des Half Dome...