1 Das wissenschaftliche und politische Projekt
Eine Zeitreise in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts
Die Soziale Marktwirtschaft, ein neoliberales Konzept? Im Ernst? Ausgerechnet? Wie kann das sein? Um diese auf den ersten Blick und nach eingeübten Verständnisgewohnheiten vielleicht schockierende Behauptung zu belegen, ist ein historischer Rückblick nötig. Ein Rückblick, der auch den Neoliberalismus im eigentlichen Wortsinne wieder ins Zentrum rückt – und zwar als das Projekt, das einen gesellschaftlichen Ordnungsrahmen dafür schafft, die Grundwerte der Freiheit und der Gerechtigkeit, der Verantwortung und der Solidarität harmonisch zu verbinden.
Dieser Rückblick führt zurück in die dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Der Neoliberalismus entstand in den dreißiger Jahren, ebenso seine deutsche Ausprägung, der Ordoliberalismus. Das ordoliberale Konzept der Sozialen Marktwirtschaft wiederum ist ein Geschöpf der vierziger Jahre.
Freiburg als Keimzelle des deutschen Neoliberalismus
Wesentliche konzeptionelle Bestandteile der später in Deutschland so erfolgreichen Sozialen Marktwirtschaft wurden in Freiburg entwickelt. Man spricht deshalb auch vom „Freiburger Imperativ“. Freiburg war eines der internationalen Entstehungszentren des Neoliberalismus, die anderen Keimzellen waren London, Chicago und Wien. Die gedanklichen Vorarbeiten zur Sozialen Marktwirtschaft fanden hier schon während des „Dritten Reichs“ statt, zum großen Teil heimlich, unter bisweilen dramatischen Umständen und häufig in höchster Gefahr für die beteiligten Personen und ihre Familien. Eine führende Rolle hatte hier eine Gruppe von religiös motivierten Wissenschaftlern der Albert-Ludwigs-Universität inne, die in akademischen Widerstandskreisen engagiert war.
Sich über diese besondere Konstellation im Klaren zu sein, ist aus zwei Gründen wichtig. Erstens, weil die Bedrängnis der Beteiligten in der damaligen Zeit möglicherweise die eine oder andere Lücke im theoretischen Konzept erklärt und man einer solchen dann mit entsprechender Nachsicht begegnen darf. Und zweitens, weil es verdeutlicht, dass es sich hier keineswegs um intellektuelle Spielereien handelte, die man auf die leichte Schulter nehmen könnte, sondern um sehr sorgsam durchdachte Antworten auf wahrhaft existentielle Fragen. Mutige Menschen riskierten ihr Leben im Ringen um diese Zukunftsentwürfe im Interesse des Gemeinwohls.
Freiburger Schule und Ordoliberalismus
Die Begründer der Freiburger Schule
Zu den berühmtesten Köpfen der Freiburger Schule gehörten der Ökonom Walter Eucken sowie die Rechtswissenschaftler Franz Böhm und Hans Großmann-Doerth. Diese drei Begründer der Freiburger Schule fanden 1933/1934 zusammen, als sie im Wintersemester ihr erstes „wirtschaftsrechtliches und wirtschaftspolitisches Proseminar für Juristen und Nationalökonomen“ abhielten.
Die Begründer der Freiburger Schule
Walter Eucken (1891–1950) war der Sohn des Jenaer Philosophen und Literaturnobelpreisträgers Rudolph Eucken und seiner Frau Irene, einer Malerin. Er studierte Geschichte, Staatswissenschaften, Nationalökonomie und Jura in Kiel, Bonn und Jena. Er schrieb 1913 an der Universität Berlin seine Dissertation; 1920 habilitierte er sich mit einer Arbeit über die Stickstoffversorgung der Welt. Seine erste Professur erhielt er 1925 in Tübingen, bevor er 1927 einem Ruf nach Freiburg folgte, wo er zeitlebens blieb. Seinen wissenschaftlichen Rang hat sich Eucken, der noch als Vertreter der Historischen Schule der Nationalökonomie begann, mit der Entwicklung der Ordnungstheorie erarbeitet. Mit seinen Einsichten in die Funktionsbedingungen einer freiheitlichen Wirtschafts- und Sozialordnung schuf er die Grundlage für die Soziale Marktwirtschaft. In Freiburg war er schon früh ein Widersacher des damaligen Rektors der Freiburger Universität, des Philosophen Martin Heidegger, der die Judenverfolgung in der akademischen Welt unterstützte. Euckens Frau Edith Erdsiek war jüdischer Abstammung. Eucken engagierte sich in den Freiburger Kreisen, die dem akademischen Widerstand zuzurechnen sind und die schon früh eine Nachkriegsordnung entwarfen. Nach dem Krieg zählte Eucken zu den Beratern der französischen und der amerikanischen Besatzungsmächte in Deutschland. Er war Gründungsmitglied der Mont-Pèlerin-Gesellschaft.
Franz Böhm (1895–1977) wuchs als Sohn eines Konstanzer Staatsanwalts und späteren badischen Kultusministers auf. Er studierte ebenfalls Rechts- und Staatswissenschaften, in Freiburg. Nach einigen Jahren als Referent in der Kartellabteilung des Reichswirtschaftsministeriums in Berlin kehrte er nach Freiburg zurück; 1932 wurde er promoviert, 1933 habilitierte er sich. Sein Werk kreist um die Denkfigur der marktwirtschaftlichen Privatrechtsordnung und um die säuberliche Unterscheidung zwischen Regelebene und Handeln, zwischen Spielregeln und Spielzügen. Böhm war mit Marietta Ceconi, einer Tochter der Dichterin Ricarda Huch verheiratet. Böhms Engagement gegen die Diskriminierung von Juden verhinderte, dass ihm in Freiburg ein Lehrstuhl angeboten wurde. Immerhin konnte er einem Ruf auf eine Vertretungsprofessur nach Jena folgen, bis ihm wegen regimekritischer Äußerungen die Lehrbefugnis entzogen wurde. Nach dem Krieg wurde er in Freiburg dann aber doch zum Rechtsprofessor und Prorektor bestellt, bevor er an die Universität Frankfurt wechselte. Böhm, der später Bundestagsabgeordneter wurde und sich stets in der Politikberatung einbrachte, engagierte sich im neu eingerichteten Wissenschaftlichen Beirat bei der Verwaltung für Wirtschaft in der Bizone (der amerikanischen und britischen Besatzungszone) sowie anschließend beim Bundeswirtschaftsminister. Er fungierte sogar kurz, wie einst sein Vater, als Kultusminister (in Hessen). Von 1952 an leitete er die deutsche Delegation in den Wie-dergutmachungsverhandlungen mit dem Staat Israel und den jüdischen Weltverbänden. Nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Arbeiten rund um das Thema Kartelle gilt Böhm als der Vater der deutschen Kartellgesetzgebung. Er war es auch, der innerhalb der Union 1957 einen Kompromissvorschlag einbrachte, der in schon fast aussichtsloser politischer Lage dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen mit seinem grundsätzlichen Kartellverbot doch noch den Weg bahnte.
Hans Großmann-Doerth (1894– 1944) wuchs in Hamburg auf, als Sohn des Leiters der dortigen Seewarte. Er studierte in München und Hamburg, wurde 1923 mit einer strafrechtlichen Arbeit promoviert und arbeitete anschließend als Amtsrichter, bevor er sich 1929 noch mit einer Arbeit über das Recht des Überseekaufs habilitierte. Er lehrte zunächst in Prag und von 1933 an in Freiburg, wo er den Lehrstuhl für Handels-, Wirtschafts-, Arbeits- und Bürgerliches Recht innehatte. Wissenschaftliche Spuren hat Großmann-Doerth allenfalls mit der Unterscheidung zwischen „selbstgeschaffenem“ und „staatlichem“ Recht hinterlassen, womit er spontan „gefundene“ Konventionen von Wirtschaft und Gesellschaft der staatlichen Regelsetzung in einer Weise gegenüberstellte, die an Friedrich August von Hayek erinnern mag. 1939 wurde er zum Wehrdienst einberufen. Er starb 1944 als Regimentskommandeur in einem Königsberger Lazarett an einer Verwundung, die er an der Ostfront erlitten hatte.
Als Geburtsstunde der Freiburger Schule kann man das Erscheinen des ersten Hefts der von ihnen herausgegebenen Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft“ 1937 werten. Unter der programmatischen Überschrift „Unsere Aufgabe“ erklären die drei Herausgeber, dass die „Wirtschaftsverfassung als eine Gesamtentscheidung über die Ordnung des nationalen Wirtschaftslebens zu verstehen“ und somit „die Rechtsordnung als Wirtschaftsverfassung zu begreifen und zu formen“ ist.
Zur Freiburger Schule zählt man außerdem noch Constantin von Dietze (1891–1973), K. Paul Hensel (1907– 1975), Adolf Lampe (1897–1948), Friedrich A. Lutz (1901– 1975), Karl Friedrich Maier (1905–1993), Fritz W. Meyer (1907–1980) und Leonhard Miksch (1901–1950). Zum Ordoliberalismus jenseits der Freiburger Stadttore lassen sich außerdem noch Alfred Müller-Armack (1901–1978), Wilhelm Röpke (1899–1966) und Alexander Rüstow (1885–1963) zählen, auch wenn letztere präziser wohl dem soziologischen Neoliberalismus zuzurechnen wären.
Eine kluge, moralische und zweckmäßige Ordnung der Freiheit
Das vielleicht etwas sperrige Wort „Ordoliberalismus“, das übrigens erst in den fünfziger Jahren geprägt wurde, sollte verdeutlichen, dass es den Vertretern dieser Denkrichtung nicht etwa um anarchischen Wildwuchs in Wirtschaft und Gesellschaft ging, sondern um eine klug, moralisch und zweckmäßig sortierte Ordnung der Freiheit, die ein Leben in Verantwortung und Solidarität ermöglicht: mithin um eine ganzheitliche „Ordo“, so genannt nach einem Konzept aus der mittelalterlichen Scholastik. „Ordo“ nannten Eucken und Böhm auch die 1948 von ihnen aufgelegte wissenschaftliche Zeitschrift, die der früheren, gemeinsam mit Großmann-Doerth verantworteten Schriftenreihe „Ordnung der Wirtschaft“ nachfolgte und bis heute besteht: „Ordo – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft“.
Der Widerstand in den Freiburger Kreisen
„Der Widerstand einiger Mitglieder der Freiburger Schule institutionalisierte sich in den sogenannten Freiburger Kreisen. Der erste, das Freiburger Konzil, wurde 1938 von C. v. Dietze und A. Lampe nach der ‚Reichskristallnacht‘ initiiert. Ihm gehörten...