Henriette
Willardt
DIE LÖWENBÄNDIGERIN MISS SENIDE
1866 – 1923
Emma Willardt ist entsetzt. Ihre sechzehnjährige Tochter Henriette steht in einem Käfig, umgeben von acht Wölfen, zwei Bären und zwei Hyänen – vor dem Käfig ein riesiger Menschenauflauf. Die Tiere verhalten sich ruhig, die Tochter droht: Sie werde den Käfig nicht eher verlassen, bis ihr die Mutter erlaube, Tierbändigerin zu werden. Das sei ihr Traumberuf. Sie hört weder auf Mahnungen noch auf Bitten, bis die Mutter keine andere Wahl hat, als zuzustimmen. Sie tut es unter Tränen. Emma Willardt, die sich ihren Lebensunterhalt mit einer Schaubude im Wiener Prater verdient, kennt die Gefahren, denen die immer beliebter werdenden Raubtierbändigerinnen ausgesetzt sind. Der Tod der erst siebzehn Jahre alten Dompteuse Ellen Chapman, die 1850 von ihrem Tiger getötet worden war, hatte in England sogar zu einem Auftrittsverbot für Frauen in Raubtierkäfigen geführt. 1886 wird die Französin Nouma-Soulet im Alter von fünfundzwanzig Jahren von ihrem Löwen zerrissen und 1888 stirbt in Prag die kaum ältere Dompteuse Bertha Baumgarten. Manche Dompteusen tragen gepolsterte Kleidung, um sich vor Bissen zu schützen, mit Peitschen, Eisenstangen oder Gabeln versucht die Tierbändigerin im Notfall sich den Rückzug aus dem Käfig zu sichern, auch um den Käfig herum postierte Zirkusmitarbeiter sollen von außen ein angreifendes Raubtier ablenken. Dass diese Maßnahmen höchst unzureichend sind, zeigt die große Anzahl von in Käfigen getöteten Dompteusen.
Emma Willardt, eine gebürtige Hamburgerin, hatte 1873, im Jahr der Wiener Weltausstellung, im Prater in der Ausstellungsstraße Nr. 147 eine Schaubude eröffnet. Sie zeigt Attraktionen wie Magie im Welt- und Zaubertheater von Fräulein Amanda mit Wandelbildern und Wachsfiguren, stellt Riesendamen und Bambutti-Zwerge, Lappländer mit Rentieren und Fidschi-Insulaner aus wie auch die Athletin Sophie Sondermann, die Riesendame Judith Matursik und das Riesenmädchen Therese. Eine Sensation und ein noch besseres Geschäft als die Schaubude ist der angeschlossene „Schnellphotographie-Salon“, in dem Tag und Nacht Ferrotypien hergestellt werden, ein fotografisches Direktpositiv-Verfahren. Später kommt noch eine Schießstätte dazu.
Natürlich wünscht sich Emma Willardt, dass ihre Tochter zunächst in dem florierenden Unternehmen mitarbeitet und es später einmal übernimmt. Aber die Tochter Henriette interessiert sich weder für die Zauberkunststücke und Kuriosa in der Schaubude noch ist die Schnellfotografie nach ihrem Geschmack. Das am 5. November 1866 geborene Mädchen wird in Bruck an der Mur in einem Mädchenpensionat erzogen und kommt im Alter von fünfzehn Jahren zur Mutter nach Wien. Sie ist vom ersten Augenblick an von den Raubtieren fasziniert, die sie in den Pratermenagerien bestaunen kann.
Frauenpower in der Manege: weibliche Leopardendompteuse (Foto 1905)
In „Europas größter Menagerie“ von F. Kleeberg auf der Feuerwerkswiese treten Tierbändiger auf, darunter, wie das Illustrierte Wiener Extrablatt vom 16. April 1884 berichtet, auch das Fräulein Emma Kleeberg. Von der „Ehlbeckschen Menagerie“ wird behauptet, dass sie ihresgleichen auf dem Kontinent suche. Den Tierbändigern, die dort auftreten, war allerdings von der Polizei verboten worden, den Kopf in den Rachen der Löwen zu stecken.3 Eine polizeiliche Verwarnung trifft auch den Menageriebesitzer Adolf Holzinger, als seine einjährige Löwin an der Leine im Garten des Wirtshauses „Zum Butterfaß“ spazieren geführt wird.4 Vielleicht hat das todesmutige Fräulein Kleeberg Henriette auf die Idee gebracht, es ihr gleichzutun, jedenfalls träumt sie nicht nur vom Beruf der Dompteuse, sondern setzt auf die eingangs geschilderte drastische Weise auch durch, dass sie ihn ausüben kann.
DIE „LÖWENBRAUT AUS WIEN“
Emma Willardt hält ihr Versprechen, sie fährt mit ihrer Tochter nach Hamburg und kauft zwei Berberlöwen, einen Bären und einen Leoparden. Bereits fünf Monate später, am 13. Mai 1883, berichtet das Illustrierte Wiener Extrablatt, dass in der Schaubude Willardt eine junge Tierbändigerin, Fräulein Henriette Willardt, „einzig und allein in ihrer Art in diesem Genre“ zu bewundern sei. Noch im Dezember desselben Jahres reist die junge Dompteuse, der Zirkusdirektor Ernst Renz zur besseren Vermarktung den exotisch klingenden Künstlernamen „Miss Senide“ vorgeschlagen hat, mit ihren Tieren und einem prächtigen Schaukäfig nach Berlin. Reißerisch als „Löwenbraut aus Wien“ angekündigt, gibt sie am 12. Dezember 1883 bei der Damengala im „Zirkus Renz“ ihr Debüt. Der Auftritt ist eine Sensation. Die jugendliche Tierbändigerin lässt sich von einem Löwen die Tatzen auf die Schultern legen, nimmt ein Stück Fleisch in den Mund und lässt den zweiten Löwen danach schnappen. Ein Leopard legt sich ihr schnurrend zu Füßen und setzt sich dann manierlich zu Tisch, ebenso ein Bär und eine Dogge.
Frauen im Raubtierkäfig sind immer eine Attraktion und ein Nervenkitzel für das Publikum, umso mehr, wenn eine erst Siebzehnjährige den Käfig betritt. Doch die Raubtiere gebärden sich nicht als wilde Bestien, wie es die Ankündigungen hätten vermuten lassen, sondern folgen scheinbar sanft den Befehlen der jungen Dame und zeigen willig ihre Kunststücke. Die Vorführungen finden auf engstem Raum, in einem Käfigwagen von fünf Metern Länge und etwas über zwei Metern Breite statt, der in die Manege geschoben wird. Der Abstand zwischen der Dompteuse und dem Tier ist äußerst knapp. Der Berichterstatter des Wiener Extrablatts hatte das Einzigartige in Henriette Willardts Art der Vorführung bereits betont. Mit großer Tierliebe und enormer Nervenstärke arbeitet sie mit den Raubtieren nach der Methode der „zahmen Dressur“, die ohne schmerzhafte Bestrafungen der Tiere auskommt. „Sie liebte einfach die wilden Bestien, sie schlug dieselben nicht, sie hätschelte und liebkoste sie – und siehe da: Die Tiere wurden fromm und gelehrig wie die Pudel, gehorchten auf den leisesten Wink.“5
Mit dieser Methode löst Miss Senide die gängige Praxis der sogenannten „wilden Dressur“ ab, bei der ein Kampf zwischen einem starken Mann, dem Dompteur, und den gefährlichen Bestien, den Tieren, inszeniert wurde. Die Tiere wurden gereizt, mit der Peitsche und glühenden Stangen malträtiert, bis sie in panischer Angst brüllten und sich aufbäumten. Die Dressur bestand darin, dass ein misshandeltes Tier in seiner Angst auf ein Podest oder durch einen brennenden Ring sprang, wenn es keine andere Fluchtmöglichkeit sah. Manchmal wurden die Tiere sogar zu einem Gegenangriff provoziert. Das Publikum erlebte dabei die Überlegenheit des Dompteurs, der sich als Sinnbild männlicher Kraft präsentierte und die Raubtiere seinem Willen unterwarf. Carl Hagenbeck, der als der Erfinder der „zahmen Dressur“ gilt, verlangt als Grundeigenschaft eines Tierbändigers, einer Tierbändigerin Geduld, Selbstbeherrschung und scharfe Beobachtungsgabe. Je geduldiger und gütiger der Dompteur ist, desto mehr Vertrauen werden die Tiere zu ihm fassen. Ist aber die Güte nicht mit Strenge gepaart, die den Gehorsam erzwingt, dann wird es der Vorführung an Sicherheit mangeln. Scharfe Beobachtungsgabe ist ebenfalls notwendig, um schon geringste Veränderung in der Stimmung der Tiere zu erkennen und einer eventuell gefährlichen Situation zuvorzukommen.
Tilly Bébé im Löwenkäfig (Postkarte von 1905)
Selbstverständlich beruhen auch Miss Senides Vorführungen auf einer klaren Rangordnung. Die Dominanz der Dompteuse ist überlebensnotwendig, wird aber nicht mit Gewalt ausgeübt. Sie demonstriert vielmehr, zu welch außergewöhnlichen Leistungen Frauen mit dem Verzicht auf Gewalt imstande sind. Neben der Deutschen Claire Heliot und der Niederösterreicherin Tilly Bébé gehört Miss Senide zu den weltweit bekanntesten Dompteusen. Diese jungen Frauen verkörpern weibliche Souveränität in einem männerdominierten Umfeld. Sie sind bewunderte Ausnahmen, zeigen sich selbstbewusst und unerschrocken, verdienen gut, reisen um die Welt und können alternative Lebens- und Liebesformen jenseits der normativen Geschlechterrollen ausprobieren.
TRIUMPH UND TODESANGST
Miss Senide wird nach ihren Auftritten in Berlin vom „Circus Halle“ engagiert, gibt Gastspiele in Österreich, tritt in Portugal, Spanien, Frankreich und Belgien auf. Eines ihrer spektakulären Kunststücke, mit dem sie in die Zirkusgeschichte eingeht, ist das „Diner africain“, ein Meisterstück der Dressurkunst, das sie erstmals in Lüttich vorführt, wo sich zur Novembermesse die bedeutendsten Tierbändiger versammeln. Vor ausverkauftem Zirkuszelt zeigt sie vorerst bekannte Tricks und erntet Bewunderung, schon allein aufgrund ihrer Jugend, und beeindruckt durch ihren sanften Umgang mit den Tieren. Dann betritt sie den Käfig zum zweiten Mal, wirft einem Panther ein Stück rohes Fleisch in den Rachen, aber bevor das Tier schlucken kann, greift sie ihm ohne eine andere Waffe als eine leichte Peitsche in der Hand ins Maul und reißt das Fleisch heraus. Die Situation droht zu eskalieren, weil die anwesenden Löwen sie am Ausgang hindern wollen. Das atemlos zusehende Publikum überschüttet...