EINLEITUNG
Schlesische Ursprünge
Die ältesten Überlieferungen der Cassirers stammen aus Schlesien. Dort fanden sie in Dörfern wie Bujakow und Schwientochlowitz in der Umgebung von Kattowitz oder in Städten wie Gleiwitz, Glogau und Kattowitz ihr Einkommen als Brauer, Gastwirte, Webstuhl- und Tuchproduzenten oder Holzhändler. In der Mitte des 19. Jahrhunderts zog Marcus Cassirer, der Stammvater aller später in Berlin zu Ruhm gelangten Nachkommen, nach Breslau. Diese Stadt hat die Cassirers in vieler Hinsicht geprägt, so wie die Familie umgekehrt Berlin in mancher Hinsicht geprägt hat.
Die Geschichte Breslaus verläuft in ihrem Wechsel von Aufstieg und Niedergang ähnlich der Geschichte ihrer jüdischen Gemeinde. Diese ist im heutigen Wrocław seit dem 12. Jahrhundert belegt. Wie an vielen anderen Orten ist es eine mühsame Entwicklung: Einem langsamen Wachstum stehen plötzliche Katastrophen wie Hungersnot oder Pest gegenüber und Beschuldigungen, bei denen den Juden Brunnenvergiftung oder Hostienraub vorgeworfen wurde. Letztere Anklage führte nach einer lateinischen (!) Predigt des Franziskanerpredigers Johann Capestrano zum Feuertod von 41 Juden am 4. Juli 1453 auf dem Salzmarkt, dem heutigen Rynek. Wiederholte Vertreibung und Rückkehr kennzeichnen die Geschichte der Juden in Breslau.[1] Die Stadt bot für Handel, Handwerk und Industrie schon durch ihre Lage an der Oder mit regem Schiffsverkehr bis zur Ostsee viele Wirkungsmöglichkeiten. Sie lag nahe den Steinkohlebergwerken Oberschlesiens und in einer Region, die reich an Schafzucht war; diese machte Schlesien zum ersten Wollproduzenten der Welt, ehe Australien ihm den Rang ablief.
Der wirtschaftliche Aufschwung Breslaus verlief nicht ohne Unterbrechung. Nach dem Siebenjährigen Krieg wurde durch die absolutistische Staatsführung in Berlin besonders unter Friedrich II. der Handel durch Vorschriften und Regulierungen «stranguliert».[2] Die Stadt verarmte. Goethe fand 1770 «das lärmende, schmutzige, stinkende Breslau» vor.[3] Erst nachdem Napoleon die Stadtmauern sprengen ließ und der düsteren Festungsstadt ein natürliches Wachstum ermöglichte, nachdem 1808 die Stein’schen Reformen den Juden das kommunale Bürgerrecht gewährten[4] und nachdem 1811 die Gewerbefreiheit eingeführt wurde, begann in Breslau auch für die Juden eine neue Epoche.
Zwar ging die große Zeit als Handelsmetropole zu Ende, bedingt durch russische Einfuhrzölle und den österreichischen Verschluss der Märkte in den Kronländern und im «Freistaat Krakau». Aber die Gründung und Entwicklung neuer Industrieunternehmen im Maschinenbau, die unter anderem Dampfmaschinen für den Bergbau, Web- und Spinnmaschinen herstellten, machten den Verlust mehr als wett, und die Stadt wuchs rapide. Zwischen 1841 und 1891 verdreifachte sich die Bevölkerung auf 330.000. Breslau besaß drei Bahnhöfe, darunter den ersten Hauptbahnhof in Deutschland, und die erste Großstadtstraßenbahn. 80 Banken und andere Geldinstitute förderten das Wirtschaftsleben der Stadt.
Die kulturelle Entwicklung stand dem nicht nach. Die Universität, die aus der Vereinigung der Universität von Frankfurt an der Oder mit den Resten der Jesuitischen Hochschule Leopoldina hervorgegangen war, war eine fortschrittliche Hochschule, die erste, an der sowohl katholische als auch protestantische Theologie gelehrt wurde. Viele akademische Karrieren begannen in Breslau, so die von Wilhelm Dilthey, Theodor Mommsen und Ferdinand Sauerbruch. Zu den Breslauer jüdischen Gelehrten von Rang gehörten der Botaniker Ferdinand Julius Cohn, der erste jüdische Professor in Preußen, und zwei Nobelpreisträger, der Physiker Max Born und der Chemiker Fritz Haber. Der weit über Breslau bekannte jüdische Augenarzt Hermann Cohn änderte die Namen seiner Kinder: Sein Sohn Emil Ludwig wurde mit historischen Romanen einer der erfolgreichsten Schriftsteller seiner Generation.
Bereits in den 1830er Jahren hatte das als Opernhaus neu erbaute Stadttheater eröffnet. 1852, noch vor München, wurde Wagners Tannhäuser in Breslau aufgeführt. Im Stadttheater trat auch die junge Tilla Durieux auf, die später Paul Cassirer heiratete. Es gab mehrere Orchester und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts insgesamt 62 Musikvereine sowie ein Museum für moderne Kunst. Vor allem nach der Reichsgründung erlebte Breslau eine kulturelle Blütezeit, in deren Genuss auch das jüdische Bürgertum kam.
1821 jedoch hatte der Breslauer Tabakverein Juden ausgeschlossen. Darauf wurde auch hier die Gesellschaft der Freunde gegründet, die im Familienleben der Cassirers eine wichtige Rolle spielen sollte.[5] Es gab Debattierclubs, eine Tanzschule, einen Tenniskreis. Andere Vereine wie die Breslauer Dichterschule hatten sogar jüdische Gründungsmitglieder. Im Humboldtverein für Volksbildung saßen Juden im Vorstand. In ganz Preußen waren sie jedoch von Freimaurerlogen ausgeschlossen. In den 1880er Jahren verstärkte sich die antisemitische Stimmung in der Stadt, und als ein erklärter Antisemit in den Vorstand des örtlichen Alpenvereins gewählt wurde, traten die jüdischen Mitglieder, immerhin 30 Prozent der Mitgliedschaft, aus. Niemand aus der Familie Cassirer scheint eine prominente Rolle in diesen Vereinen gespielt zu haben, lediglich Lisbeth Cassirer, die Frau des Sägewerkbesitzers Martin, taucht 1928 auf einem Gruppenbild des Jüdischen Frauenbundes auf.[6]
Breslau war eine liberale, für Erneuerung und Reformen aufgeschlossene Stadt, was sich auch in den verschiedenen Konfessionen zeigt. So schlossen sich die Anhänger des Kaplans Johannes Ronge, der anlässlich einer Wallfahrt zum Heiligen Rock in Trier gegen den Reliquienkult revoltierte, zur ersten Gemeinde des Deutschkatholizismus zusammen. Aus der jüdischen Gemeinde Breslaus ging eine große Reformbewegung hervor, die weltweit zum Vorbild wurde. Ihr Bahnbrecher Abraham Geiger, Mitbegründer der Wissenschaft des Judentums, wirkte als Rabbiner in Breslau, wo er mit dem orthodoxen Rabbiner Salomon Tiktin um die Durchsetzung seines Modells eines liberalen Judentums rang, bis sich beide Gemeinden vereinigten.
Seit dem Bau der Synagoge zum Weißen Storch 1829 ging die Zahl der kleinen Synagogen und Bethäuser in Breslau zurück. 1879 wurde die Neue Synagoge, die zweitgrößte in Deutschland, eingeweiht – Breslau war, nach Berlin und Frankfurt, die Stadt mit der drittgrößten jüdischen Gemeinde geworden. Das von Zacharias Fraenkel 1854 begründete Jüdisch-Theologische Seminar, an dem Heinrich Graetz lehrte, Verfasser der klassischen Geschichte der Juden, war das Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit in der ganzen Welt, dessen Tradition heute vom Union Theological Seminary in New York fortgeführt wird.
Vom religiösen Leben Breslaus wurden die Cassirers allerdings offenbar wenig berührt. Auch in ihrer Familie vollzog sich die Säkularisierung innerhalb von zwei bis drei Generationen. Das Anekdotenbüchlein, das Toni Cassirer im schwedischen Exil 1937 zu Max Cassirers 80. Geburtstag zusammenstellte, berichtet von dem Ahnherrn Moses ben Loebel, dass seine Söhne Marcus und Siegfried ihn einmal porträtieren lassen wollten. Er aber hielt sich als frommer Jude an das Gebot, dass der Mensch sich kein Abbild mache «von dem was droben im Himmel oder auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde ist».[7] Die Söhne luden daher einen befreundeten Maler ein, den Vater von einem Nebenraum aus zu skizzieren. Das merkte der alte Herr und rief: «Kinder, ich glaube, der malt mich.»[8] Ein Porträt des Moses ben Loebel Cassirer existiert bis heute, und keiner seiner vielen Nachkommen, die von berühmten Malern porträtiert wurden, hatte deshalb Gewissensbisse. Die Säkularisierung wurde in vielen jüdischen Familien Breslaus vor allem durch das Erziehungswesen und das kulturelle Leben befördert. Das höhere Schulwesen wurde dank des hartnäckig liberalen Magistrats nach erfolgreichem Kampf gegen Staat und Kirchen 1872 durch die Gründung des paritätischen humanistischen Johannesgymnasiums bereichert.[9]
Am 11. März 1812 war in Preußen «nach Jahren unermüdlichen Kampfes» das Edikt zur Emanzipation der Juden erlassen worden. In 39 Paragraphen wurden die Rechte und Pflichten der jüdischen Bevölkerung festgeschrieben. Voraussetzung der Staatsbürgerschaft – unter zahlreichen Einschränkungen – war die Annahme feststehender Familiennamen. Sie musste innerhalb von sechs Monaten und gegen Entrichtung einer je nach Vermögen unterschiedlich hohen Gebühr geschehen.[10] In diesem Jahr nahmen auch die Cassirers ihren Namen an. Einer Familienlegende nach leitet sich der Name vom portugiesischen Cáceres ab, dem Namen eines kleinen Ortes nahe der spanischen Grenze, aus dem die jüdische Bevölkerung im Zuge einer großen Vertreibung 1497 geflohen war. Die Legende entspricht dem allgemein unter Juden verbreiteten Stolz auf sephardische Vorfahren, gleichsam ein jüdisches Adelsprädikat. Eine andere, wahrscheinlichere Erklärung findet sich in der Bezeichnung Cassirer für den Kollekten- und Steuereinnehmer in jüdischen...