3 Die Landenge der Gräber
Wir werden nie alle Einzelheiten von Franklins letzter Fahrt erfahren. Allein dem Mut einiger Forscher des 19. Jahrhunderts, die mehrere Dutzend große Expeditionen zusammenstellten und leiteten, sich wie Franklin in die vereisten Wasserstraßen wagten und der bitteren Kälte trotzten, ist es zu verdanken, dass sich die gescheiterte Reise wenigstens vage rekonstruieren lässt.
Ende 1847 beschlich die maßgeblichen Männer der britischen Admiralität in London zum ersten Mal ein unbehagliches Gefühl über Franklins Verbleib. Niemand konnte jedoch ahnen, dass sich ihre schlimmsten Albträume unterdessen in der Trostlosigkeit von King William Island verwirklichten.
Ohne das Gefühl zu haben, dass Eile geboten sei, sandte die Admiralität drei Expeditionen aus, die Sir John Franklin Hilfe bringen sollten. Kapitän Henry Keilet bekam den Befehl, zur Beringstraße zu segeln, wo Franklin aus dem arktischen Eis auftauchen musste. Eine zweite Expedition unter dem Kommando von James Clark Ross wurde in den Lancaster Sound geschickt, wobei sie Franklins Spuren folgen sollte. Und eine dritte Gruppe unter Leitung von Dr. John Rae und Sir John Richardson wurde über Land den Mackenzie River hinunter gesandt, um dort nach den 129 Männern zu suchen. Das Scheitern aller drei Hilfsexpeditionen führte endlich zu der Erkenntnis, dass irgendetwas völlig schiefgegangen sein musste.
Am 4. April 1850 veröffentlichte der Toronto Globe eine Anzeige, in der eine Belohnung von 20 000 Pfund Sterling ausgesetzt wurde: zahlbar von »Ihrer Majestät Regierung an jede Gruppe oder Gruppen jeglicher Nationalität, die den Mannschaften der Forschungsschiffe unter dem Kommando von Sir John Franklin wirksame Hilfe leisten«. Weitere 10 000 Pfund wurden demjenigen versprochen, der in der Lage war, auch nur einer der beiden Mannschaften zu helfen, oder Informationen lieferte, die zu ihrer Rettung führen würden. Schließlich sollte auch derjenige 10 000 Pfund erhalten, der erfolgreich das Schicksal der Expedition aufklären konnte.
Bis zum Herbst 1850 durchkämmte eine Flotte von Schiffen die arktischen Wasserwege nach einer Spur von den Vermissten. Die britische Admiralität entsandte drei Expeditionen mit insgesamt acht Schiffen in die Arktis. Nur einer dieser Suchtrupps, bestehend aus der HMS Enterprise und der HMS Investigator unter Kapitän Richard Collinson bzw. Commander Robert McClure, wurde in die Beringstraße geschickt. Kapitän Horatio Thomas Austin und sein Erster Offizier, Kapitän Erasmus Ommanney, bekamen den Befehl, mit ihren vier Schiffen in den Lancaster Sound zu segeln, während die dritte Gruppe, kommandiert von dem Kapitän eines arktischen Walfängers, William Penny, nach Norden in den Jones Sound beordert wurde.
Lady Franklin nahm an diesem Wettlauf zur Rettung ihres Mannes und seiner Mannschaften aktiv teil und sandte mit Unterstützung von Freunden selbst ein Schiff aus, das sich an der Suche beteiligen sollte. Das United States Navy Department unterstützte den New Yorker Kaufmann Henry Grinnell, der zwei Schiffe unter dem Kommando von Leutnant Edwin J. De Haven ausrüstete, während der erfahrene Forscher Sir John Ross eine Expedition leitete, die von der Hudson’s Bay Company und durch öffentliche Spenden finanziert wurde.
6 Die Männer der von James Clark Ross geleiteten Suchexpedition errichten ihr Winterquartier.
Die Hudson’s Bay Company sandte ferner John Rae aus, einen Experten für das Überleben in der Arktis, damit er abermals bei der Suche mithelfe. Rae, der zunächst auf dem Landweg und dann per Schiff zur Victoria Island reiste, entdeckte an der südlichen Küste der Insel zwei Holzstücke, die nur von einem Schiff stammen konnten. Jedoch gab es keinerlei Beweise dafür, dass sie von der Erebus oder der Terror herrührten. Seine Reise endete an der südöstlichen Spitze der Insel. Das Eis, das die Victoria Strait blockierte, hinderte ihn daran, auf die nahe gelegene King William-Insel hinüberzukommen.
Schließlich konnte die Illustrated London News am 12. Oktober 1850 berichten:
… ein kleiner Hoffnungsschimmer hat schließlich das Dunkel der Ungewissheit erhellt, das über dem Schicksal Sir John Franklins und seiner Gefährten liegt.
7 Ein Bild von der Stelle auf Cape Riley, Devon Island, wo Kapitän Ommanney von der HMS Assistance die Reste einers Lagers der Franklin-Expedition fand
Am 23. August 1850 fanden Kapitän Erasmus Ommanney von der HMS Assistance und seine Offiziere auf Cape Riley am Südwestufer von Devon Island Spuren von Franklins Expedition. Nach zwei Jahren der Enttäuschungen konnte die Royal Navy endlich einen Erfolg bei der Suche nach den vermissten Männern verbuchen. Ommanney erinnerte sich:
Ich hatte die Genugtuung, auf die ersten Spuren von Sir John Franklins Expedition zu stoßen. Es waren Überreste von Schiffsgegenständen, Kleiderfetzen, Konservendosen mit Fleisch usw. […] der Platz vermittelte den Eindruck eines Lagers.
Aber jene Überreste ließen nur auf einen kurzen Aufenthalt schließen, vielleicht zu magnetischen Messungen zu Beginn der Expedition, sagten jedoch nichts über Franklins Aufenthaltsort aus.
Ommanney ließ noch am selben Tag weitermarschieren, um das Ufer nach weiteren Hinweisen abzusuchen. Plötzlich erspähten seine Leute hoch auf einer Landzunge der nahe gelegenen kleinen Beechey Island einen großen Steinhaufen. Leutnant Sherard Osborn, Kommandant des Dampfschiffs HMS Pioneer, die unter dem Oberbefehl von Kapitän Horatio Thomas Austin ebenfalls zur Suchexpedition der Royal Navy gehörte, beschrieb die Szene:
Eine Bootsladung Offiziere und Mannschaften näherte sich dem Ufer. Bei der Landung fand man ein paar Dinge, die europäische Besucher zurückgelassen hatten. Man kann sich die Aufregung vorstellen, mit der der steile Abhang erklommen und der Steinhaufen abgetragen wurde. Jeder einzelne Stein wurde umgedreht, sogar der Boden darunter aufgegraben und dennoch – welche Enttäuschung! – wurde kein Dokument oder Bericht gefunden.
Osborn ließ sich nicht abschrecken; er hatte immer noch die Hoffnung, dass weitere Entdeckungen folgen würden: »[Der Steinhaufen] schien dem pochenden Herzen zu sagen, ›folgt denen, die mich errichtet haben‹.«
Nach und nach traf eine Flotte von Suchschiffen in diesem Gebiet zusammen, darunter auch die HMS Lady Franklin unter Kapitän William Penny. Der hartnäckige Schotte schwor, das Gebiet »wie ein Bluthund« zu durchsuchen, bis er die Antwort auf das Geheimnis gefunden habe. Weitere Spuren von Franklins Crew wurden auf Devon Island gefunden, und zwar in der Nähe von Cape Spencer. Penny fand die Überbleibsel einer aus Steinen errichteten Hütte und einige Gebrauchsgegenstände, darunter Reste einer Zeitung vom September 1844, ein Stück Papier mit den Worten »… bis gerufen …«, weitere Konservendosen sowie zerfetzte Fäustlinge – das war alles. Schließlich, am 27. August, berichtete ein atemloser Seemann Penny aufregende Neuigkeiten: »Gräber, Kapitän Penny! Gräber! Franklins Winterquartier!«
Dr. Elisha Kent Kane, Schiffsarzt unter dem amerikanischen Forscher Edwin De Haven, war dabei, als die Neuigkeiten bekannt wurden. Er beschrieb, was dann geschah:
Kapitän De Haven, Kapitän Penny, Commander Phillips und ich … eilten über das Eis und kamen, indem wir an dem lockeren und steinigen Abhang entlangschlitterten, der sich von Beechey zum Strand hinzieht, nach beschwerlichem Marsch auf den Kamm der Landenge. Hier, inmitten der sterilen Gleichförmigkeit von Schnee und Schiefer standen die Kopfbretter dreier Gräber, angefertigt nach alter orthodoxer Art wie die Grabsteine zu Hause.
Die Gräber lagen nebeneinander in einer Reihe, ausgerichtet auf Cape Riley. Zwei der Grabhügel waren sorgfältig mit Kalksteinplatten abgedeckt. Ihre Inschriften, eingemeißelt in die Kopfbretter, lauteten:
Geweiht der Erinnerung an
William Braine, R. M., HMS Erebus
gestorben am 3. April 1846
im Alter von 32 Jahren.
»Erwählet euch heute, wem ihr dienen wollt«
Josua XXIV, 15.
Die zweite:
Geweiht der Erinnerung an
John Hartnell, A. B. der HMS Erebus
gestorben am 4. Januar 1846
im Alter von 25 Jahren.
»So spricht der Herr Zebaoth:
Schauet, wie es euch geht!«
Haggai I. 7.
Das dritte Grab, das den zuerst Gestorbenen enthielt, war nicht so sorgfältig ausgeführt wie die anderen. Es trug die Inschrift:
Geweiht
dem
Andenken an
John Torrington,
der am 1. Januar
A. D. 1846
an Bord der
HMS Terror
aus diesem Leben schied,
im Alter von 20 Jahren.
Das sorgfältige Arrangement dessen, was Kane »die Landenge der Gräber« nannte, erinnerte Osborn an die Friedhöfe zu Hause:
[…] es atmet die Ruhe eines Kirchhofes, wie man sie in zahlreichen Winkeln Englands findet […] und die Ornamente, mit denen sich die Natur selbst in der Einöde des ewigen Eises schmückt, waren sorgfältig ausgesucht, um die letzte Ruhestätte des Seemanns zu kennzeichnen.
Die Forscher...