Vorwort
Zu werden, der ich bin
Erfüllt zu altern ist eine Kunst, für die man Mut braucht. Ich möchte nicht den Anschein geben, als könnte ich es. Dies ist kein Buch, in dem gesagt wird, wie man altern sollte. Ich möchte darüber schreiben, wie ich es mache und was ich dabei lerne. Es sind meine »Gedanken beim Älterwerden«.
Dieses Buch ist aus zwei Gründen entstanden. Erstens, weil ich älter werde und zweitens, weil ich spüre, dass ich nicht so älter werden möchte, wie ich manche Menschen habe älter werden sehen. Beim Arbeiten bin ich dann immer mehr an Fragen gestoßen, die sich mit dem Sinn des Alterns beschäftigen. Ist ein Sinn darin zu finden, dass wir so altern wie wir altern, und müssen wir das einfach so hinnehmen?
Mein Leben lang ist mir aufgefallen, dass es leichter ist, das zu leben, was ich mir wünsche, wenn ich eine Vorstellung davon habe: Ich folge meiner Vorstellung, meiner Visualisierung. Durch meine Vorstellung hebe ich es aus dem Bereich des unklaren »eigentlich müsste man das anders machen« heraus und gebe ihm eine Gestalt. Dabei merke ich, dass manche meiner Vorstellungen nicht realisierbar sind – auch das ist wichtig. Ich muss revidieren, was ich mir vorgestellt habe. Dabei ist der Mut wichtig: Wage ich es, das loszulassen, was bisher gut war oder was ich mir vorgestellt habe? Schaffe ich, das zu leben, was anders ist als das, was um mich herum gelebt wird? Woher nehme ich die Kraft?
Dass das Älterwerden eine Kunst ist, fällt mir dabei immer wieder neu auf. Die meisten Künstler lernen, indem sie tun. Sie mögen zu einer Kunstakademie gegangen sein, aber das hat sie nicht zu Künstlern gemacht. Die Welt durch ihr ureigenes Temperament zu sehen und das zu gestalten, was sie dabei erleben, macht sie zu Künstlern. Im Altern ist es nicht anders. Man kann wohl Anstöße durch Seminare und Bücher bekommen, aber am Ende ist es wichtig, sein eigenes Altern bewusst zu üben und neue Formen und Schritte immer wieder auszuprobieren.
Es gibt viele Vorstellungen über das Altwerden. Es reizt mich, meine Beobachtungen zu diesen hinzuzufügen. Eine weit verbreitete Vorstellung ist, im Alter abzubauen. Ab einem gewissen Punkt hat man seinen Höhepunkt überschritten und wird dann zunehmend weniger. Ab fünfundvierzig oder fünfzig Jahre achten wir auf diesen Zerfall und versuchen einzuschätzen, wo wir stehen. Das Modell setzt den Körper als zentral und unser Körper beweist uns, dass unser Modell stimmt: Ab vierzig oder fünfzig können wir manches nicht mehr so, wie wir es mit zwanzig oder dreißig konnten. Spitzensportler sind häufig Teenager oder in ihren Zwanzigern und selten über dreißig. Aber sind wir unsere Körper? Oder haben wir einen Körper, der nur ein Teil der »Ausstattung« ist, mit der wir angetreten sind?
Ich möchte vor dem Hintergrund meines eigenen Lebens untersuchen, was es heißen kann, zu altern. Mich reizt es, ein neues, anderes Modell anzubieten, als das, was ich um mich herum sehe und erlebe. Manche Aussagen haben daher einen allgemeineren Charakter, andere wiederum sind ganz persönlicher Natur: So möchte ich älter werden! Alles ist anfechtbar, alles kann hinterfragt werden. Auch meine Aussagen sollten in Frage gestellt werden, weil das, was für mich gilt, nicht unbedingt für die Leserin oder den Leser wichtig ist. Dieses Buch hat seinen Zweck erfüllt, wenn es zum Nachdenken über das eigene Altern anregt.
Dies ist kein Buch über das Alter. Darüber zu schreiben, steht mir nicht zu - ich bin nicht alt genug. Vielleicht später einmal. Dies ist ein Buch über die kritische Zeit der fünfziger und sechziger Jahre eines Menschen, in der wichtige Entscheidungen über das eigene Altern getroffen werden. Für viele kommt die Zeit des Aussteigens aus dem Beruf. Wie mache ich das innerlich? Wie lebe ich mit meinen erwachsenen Kindern, die nun auf den Höhepunkt ihrer Schaffenskraft zugehen? Was mache ich mit dem vielleicht längsten einheitlichen Block meines Lebens: die zwanzig, fünfundzwanzig oder dreißig Jahre »Ruhestand«? Es ist die Zeit, in der Weichen gestellt werden. Je nachdem, wie wir sie stellen, wird das restliche Leben erfüllt oder ein Abbauen dessen sein, was einmal war. Es wird eine neue Herausforderung bedeuten, oder ein Nachtrauern, weil jetzt nicht mehr alles möglich ist.
Ich habe mich entschlossen, dieses Buch in kleineren Happen zu präsentieren, anstatt einen durchgehenden Text zu schreiben, in dem alles mit allem verbunden ist. Es ist miteinander verbunden, aber jede Haltung und Einstellung kann auch in sich gesehen und beschrieben werden. Wichtig ist mir bei diesem Buch, die Alten nicht wieder zu Jungen zu machen. Es soll viel mehr die Suche nach einem »erfüllten« Altern sein, ohne dabei zu wissen, was »erfüllt« ist. Ich möchte weder den Satz »Das kannst du in deinem Alter noch schaffen«, noch den Satz »Sowas tut man in deinem Alter nicht mehr« anbieten. Ich möchte auch nichts mies machen, auch wenn ich denke, dass es einem gewissen Alter nicht mehr entspricht. Ich vermute auch, dass es Dinge gibt, die jeweils nur die Fünfzigjährigen, die Sechzigjährigen und die Siebzigjährigen tun und denken können. Vielleicht liegt darin die Weisheit – sich dem zuzuwenden, was durch unser Alter an uns herangetragen wird.
Rückblickend – das Buch ist fertig – habe ich gemerkt, wie häufig ich das Wort »zunehmend« gebraucht habe. Es drückt aus, was mit mir geschieht: Ich bin dabei, etwas zu entdecken und mich ihm mehr und mehr zuzuwenden. Eine Einsicht gewinnt Gewicht in meinem Leben. Bei allem Abnehmen geschieht auch ein Zunehmen. Bei aller Begrenzung gibt es auch eine Entgrenzung. Ich bin froh, diese Lebensphase so charakterisieren zu können.
Der Trick ist: die Maßstäbe zu verändern. Ich werde nicht mehr mit Extremsportlern die Welt unsicher machen, aber in zunehmendem Maße werde ich ein Abenteurer des Inneren werden. Und in diesem Inneren geht es nicht um das Leben an den Grenzen des Aushaltbaren oder der Körperkraft, sondern um den Einzug in eine Grenzenlosigkeit und um die Eroberung anderer Dimensionen. Wenn ich es »Trick« nenne, dann meine ich es so: Wenn ich etwas entbehre, leide ich nur solange Mangelerscheinungen, bis ich es nicht mehr unbedingt haben will – dann bin ich frei davon. Wenn wir als Sechzigjährige körperlich unbedingt das leisten wollen, was wir mit zwanzig konnten, werden wir unter unseren Begrenzungen leiden. Wenn wir aber etwas wollen, was zu dem Alter von sechzig gehört und was wir mit zwanzig nicht konnten, dann haben wir uns durch die Verschiebung der Maßstäbe eine Freiheit erdacht und erschaffen. Der Trick ist darum: Nicht mehr auf eine Gesellschaft reinzufallen, die unter einem Diktat, vielleicht sogar einer Tyrannei jugendlicher Werte lebt, und im Altern ein Abbauen sieht, weil eben diese jugendlichen Werte nicht mehr erreichbar sind.
Anders ausgedrückt: Ich möchte meine Begabung für jede Phase des Alterns kennenlernen, anstatt mir von anderen sagen zu lassen, wie ich in meinem Alter leben können sollte. Dieses Buch ist deshalb auch nicht als Maßstab zu verstehen – es ist eine Mitschrift meines Lebens, ein Beschreiben dessen, was für mich wichtig geworden ist und vielleicht für andere auch etwas bedeuten kann. Mehr nicht. Ich weiß nicht, wie du mit fünfzig, fünfundfünfzig, sechzig und siebzig leben willst. Es ist deine Sache.
Wir sind jedoch gemeinsam unterwegs. Wir Alternden und Alten bilden einen prozentual so großen Anteil der Bevölkerung, wie noch nie in der Geschichte der Menschheit. Darin liegt ein ungeheures Potenzial. Wenn wir unser Altern – einzeln und auch im kollektiven Ausdruck – zu einem Beitrag in der Gesellschaft machen können, dann werden wir Erfüllung erleben. Und das ist es doch, was wir uns immer zutiefst gewünscht haben. Oder?
Wir sind wie ein guter, alter Wein. Ich glaube an den Charakter eines Menschen. Wir alle starten mit Anlagen, die durch die Gene unserer Eltern bestimmt sein mögen, oder durch das soziale Umfeld, in das wir hineingeboren wurden. Dazu werden wir durch unsere Umwelt geformt. Wir lernen dazu, wir bilden uns. Dabei gehen wir ständig auf uns selbst zu. Wir haben uns sozusagen im Auge. Ein guter Wein beginnt mit der Traube, aber er wird erst zu dem Wein, der er sein kann, wenn er gereift ist. Keine Phase des Weins ist unwichtig, keine unnötig – jede muss durchlaufen werden, aber die Krönung liegt im alten Wein. Wäre das nicht ein Bild für unser Altern, anstatt des Bildes, bei dem der Höhepunkt in der Jugend liegt und alles damit verglichen wird?
In meinem eigenen Leben spüre ich, dass ich erst jetzt, in meinen Sechzigern, mehr und mehr auf das zugehe, was ich bin. Die ersten zwanzig Jahre waren unbewusst, die zweiten zwanzig Jahre befassten sich stark mit der Existenzgründung. Mit neununddreißig stieg ich aus meinem gelernten Beruf aus und begann, freiberuflich zu arbeiten. Es war noch einmal die Konzentration auf eine neue Existenz, etwas, was es in Zukunft immer mehr geben wird, wenn Menschen drei, vier oder gar fünf verschiedene Berufe oder Karrieren haben werden. Mein neuer Beruf, der eines Schriftstellers, gab mir die Möglichkeit, die Bewusstwerdung aktiv zu verfolgen – ja, der Beruf forderte es geradezu, dass ich mich darauf konzentrierte. Ich spüre, wie ich mehr und mehr ins Bild trete, ich bewohne mich und mein Leben mehr denn je.
Es ist möglich, das eigene Leben als ein Kunstwerk zu sehen, wer immer wir auch sind. Unsere Begabungen sind unterschiedlich, aber ein jeder Mensch hat etwas, was ihm in die Hände gelegt ist: Das sind die Umstände des eigenen Lebens. Niemand ist »unbegabt«. Was machen wir aus den Begabungen und Umständen?...