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Die Ursachen des Deutschenhasses - Eine nationalpädagogische Erörterung

AutorMax Scheler
Verlage-artnow
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl132 Seiten
ISBN9788026846222
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis1,99 EUR
Dieses eBook: 'Die Ursachen des Deutschenhasses - Eine nationalpädagogische Erörterung' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Max Scheler (1874-1928) war ein deutscher Philosoph, Anthropologe und Soziologe. Während seiner Umhabilitation bei Theodor Lipps an der Universität von München machte er 1906 die Bekanntschaft der dort ansässigen Phänomenologen (Alexander Pfänder, Moritz Geiger, Johannes Daubert, Dietrich von Hildebrand. Neben Husserl beeinflussten ihn in dieser Zeit Immanuel Kant, Henri Bergson und Friedrich Nietzsche. Inhalt: Unzureichende Erklärungsmethoden Affektmenge und Hintergründe des Hasses Größenordnung und Träger des Hasses Arten und Einteilung der unmittelbaren Ursachen Die Vertreibung aus dem Paradiese Notwendige nicht schuldhafte Mißverständnisse Abwendbare Mißverständnisse als Hassursachen Unser Verhalten zum Hasse der Welt

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Leseprobe

II. Affektmenge und Hintergründe des Hasses


Um die Ursachen unserer Erscheinung kennen zu lernen, müssen wir zuerst die nur indirekt wirksamen Hintergrundsfaktoren dieser Ursachen von den direkt wirksamen auf das Deutschland vor dem Kriege unmittelbar bezogenen Faktoren unterscheiden. Angesichts der Ersteren aber besteht eine Vorfrage, die man sich – soweit ich sehe – bisher überhaupt noch nicht gestellt hat. Sie betrifft Dasein und Möglichkeit einer so ungeheuren negativgerichteten Affektenmenge (Haßmenge) überhaupt, wie sie bei Gelegenheit dieses Krieges in die Erscheinung getreten ist. Daß sie sich gegen uns Deutsche richtet, davon müssen wir bei dieser Vorfrage zunächst absehen. Es handelt sich vielmehr gleichsam um das Haß kapital der ganzen europäischen Seele, das in diesem Kriege erst sekundär gegen uns flüssig gemacht wurde, das aber vor dem Einschlagen dieser Richtung und seiner Fruktifizierung gegen uns, als fluktuierende Masse schon dagewesen sein muß, wenn wir uns ernsthaft die ganze Sache begreiflich machen wollen.

Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, ist aber für die bloße Aufstapelung dieser gelben bösartigen Affektenmenge überhaupt die tiefgehende Verwilderung der moralischen Lebensformen des modernen Europa, ist der durch den Krieg jedem aufgewiesene (nicht erzeugte) jahrhundertewährende langsame Niedergang seines Ethos im ganzen verantwortlich. Um diesen lautlosen Umschwung und Niedergang des europäischen Ethos selbst, d. h. schon der europäischen Maßstäbe menschlichen Seins und Tuns, nicht also seiner an diesen Maßstäben gemessenen praktischen Moralität voll zu verstehen, müßte die ganze innere Geschichte dieses Ethos hinter ihren weltgeschichtlichen Erscheinungsformen aufgesucht werden. Das ist nicht dieses Ortes. Ich habe diesen Versuch mit der besonderen Absicht auf das Verständnis der langsamen Umgestaltung des europäischen Ethos in das Ethos des »bürgerlich kapitalistischen Zeitalters« aus dem fortschreitenden Siege der Werte, die ich »Ressentimentwerte« genannt hatte, über die echten christlichen Werte anderwärts in Extenso unternommen; und ich muß Sie für dieses sehr allgemeine Hintergrundsproblem der Erscheinung, mit der wir es zu tun haben, auf diese meine Ausführungen verweisen Siehe hierzu meine »Abhandlungen und Aufsätze« Band I: »Das Ressentiment im Aufbau der Moralen.«. Ihre Kenntnis gibt auch dem hier zu Sagenden erst das letzte volle Verständnis. Gerade das Werden und die das europäische Ethos umformende Bedeutung der negativen Affektenmengen (als da sind Haß aller Art, Neid usw.), die wir später – alle fast – während dieses Krieges so völlig unerwartet und so unsagbar verwundert emporschießen sahen, sollte in oben zitierter Abhandlung begreiflich gemacht werden. Hier hebe ich nur einen einzigen Punkt, der ein Ergebnis dieser Untersuchung war, nochmals hervor:

Überall in Kleinem wie in Großem lag vor dem Kriege längst eine der ethischen Grundideen, die z. B. noch das gesamte europäische Mittelalter als christliche Korporationsidee beherrschte, lag die Idee der Solidarität und Gegenseitigkeit aller Individuen und aller menschlichen Untergruppen in Schuld und Verdienst, Schicksal und Wert zerbrochen am Boden. Im Wirtschaftsleben siegte der Geist grenzenloser Pleonexie und ungehemmter freier Konkurrenz, sei es zwischen Individuen, sei es zwischen Staaten; ein Geist, der Jeden mit Jedem um so stärker zu neiderregendem Vergleich zwingt, als steigende bürgerliche Gleichheit vor Verfassung und Gesetz zu diesem Vergleich einladet; der alle »Stände« in »Klassen« (Interessengruppen) verwandelte, alle Liebe zum Werke und seiner Qualität auflöste und alles nach dem Geldgewinn bemessen ließ. Im geistigen Leben sperrte gleichzeitig ein immer dumpferer und frecherer, immer kleinere Völker ergreifender Nationalismus die Völker immer stärker voneinander und von gegenseitigem Verständnis ab. Ins Maßlose wuchs dazu überall die Schätzung des irdischen sinnlichen Lebens, damit auch die Angst es zu verlieren. In der letzten Phase der europäischen Entwicklung vor dem Kriege aber übertrug sich dieser Geist der Pleonexie auf die Staaten, die nun alle eine merkantilistische imperialistische Politik gleich England, zuerst im Dienste der herrschenden Klassen inaugurierten. In jedem der europäischen Großstaaten samt Rußland aber war ein freilich sehr verschieden starker revolutionärer Geist und Wille der Unterschichten tätig – überall geladen von Haß, Neid, Ressentiment gegen Oberschichten, die man herrschen und genießen sah, und die man doch als herrschaftswürdig schon wegen ihres historischen Ursprungs aus demselben Stande, aus dem die revolutionären Unterschichten sich abdifferenziiert hatten, nicht anerkennen konnte.

Es ist nun aber die weitere Frage, die ich mir im Rahmen der zitierten Abhandlung noch nicht stellte, ob die Ursprungsformen und ob die Art der Wirksamkeit dieser generellen Faktoren der europäischen Geistesgeschichte (für die Europa auf alle Fälle als Ganzes und solidarisch die Verantwortung vor dem Richter aller Dinge trägt), so geartet gewesen sind, daß sie in allen Teilen Europas gleichmäßig stark und gleichförmig tätig gewesen sind oder ob dies nicht der Fall ist. Wäre es nicht der Fall, wären sie z. B. innerhalb der Sphäre der Mittelmächte weniger stark und weniger einförmig, desgleichen weniger früh tätig gewesen, so ließe sich begreifen, daß die aus diesen Umbildungen des Ethos und der sozialen Schichtungen in allen Teilen Europas resultierenden Haßmengen Gesamteuropas vermöge ihrer verschiedenen Druckverteilung in den Teilen Europas von vornherein auch einen gewissen Richtungs- und Neigungswinkel auf die Mittelmächte gehabt haben müssen – eine Tatsache die, wie das Folgende zeigen wird, nicht im entferntesten den gegenwärtigen Haß gegen uns zu erklären vermöchte, die aber gleichwohl einen sehr wesentlichen dispositionellen Hintergrund für seine Erscheinung bildet, ohne den sie nicht voll verstanden werden kann. So aber war es in der Tat. Zum dispositionellen Hintergrund hat auch der heute gegen uns tobende Haß der Welt einen weder ursprünglich national noch politisch (im Geiste der Staatsverfassungen, z. B. Monarchie contra Parlamentarismus) verankerten, sondern einen aus sozialgenealogischen und ethischen Schichtengegensätzen innerhalb aller Nationen und Staaten geborenen Affekt, der sich von seinem nicht national und staatlich, sondern querschichtenmäßig geborenen Ursprungsort schließlich gegen jene Länder und ethischen Geisteszonen fortsetzt, ja in einem allgemeinen Welthasse gegen sie gleichsam kulminiert, die an diesen moralischen und sozialen Umbildungsprozessen noch am vergleichsweise wenigsten teilgenommen hatten. Um dies zu begreifen, bedarf es nur weniger historischer Erinnerungen.

Der Haß gegen die Mittelmächte ist ein Haß der Peripherie gegen die Mitte, der Außenglieder gegen das Herz Europas nicht nur im räumlich geographischen Sinne, sondern auch vor allem im Sinne des moralischen Mittel- Quell- und Herzpunktes derjenigen älteren europäischen Institutionen, unter deren Herrschaft Europa den Rang eines »Führers der Menschheit« so lange innegehabt hat. Das Deutschland vor der Entstehung der großen geschlossenen Nationalkörper der modernen Welt war eben dadurch der Sitz der tiefsten und stärksten Einheitsgarantie Europas und seines Einheitsgeistes, daß es nichts Eigenes zu sein beanspruchte, daß es aus sich heraus und ohne fremden Zwang, (wie ihn später Frankreichs Nationalismus auf die ganze Welt und auch auf uns übte), zu keinem einheitlichen Nationalstaat hinstrebte, dafür aber im Besitze der Kaiserkrone des alten römischen Reichs seine Söhne, vor allem seinen Adel in aller Herren Länder sandte, um die es umgebenden Völkerwelten moralisch und politisch zu organisieren. Der hierzu nötige »kosmopolitische« Geist, sowie die mit ihm eng verhaftete besondere Fähigkeit, Fremdes zugleich zu verstehen und es nach den dem Fremden selbst einwohnenden Richtlinien höchster Anlagen zu einem besonderen idealen Dasein erzieherisch umzubilden, machte mit der einzigartig organisatorischen und staatskonstruktiven Begabung der Oberschichten deutschen Ursprungs und mit diesem so spät erst (1870) zurückgenommenen Verzicht auf nationale Eigenmacht, erst das volle Ganze der deutschen Wesensanlagen aus. Nichts konnte man aus dieser ethnischen Anlagenganzheit, die mit der geographischen europäischen Herzlage Deutschlands wie in gottgewollter Harmonie schien, vollständig wegnehmen, ohne das Ganze zu gefährden. So waren die Germanen überall als Staaten- und Herrschaftsgründer und Gesetzgeber aufgetreten. Die englischen Institutionen des gemeinen Rechts sind deutschen (sächsischen) Ursprungs; das französische Königtum ist deutschen Ursprungs. Vermöge der großen Bedeutung fränkischen und anderen deutschen Adels im Aufbau der inneren französischen Herrschaftsverhältnisse in Verwaltung und Heer bis in die Kriege Ludwig des XIV. hinein, sind auch die älteren französischen Institutionen überhaupt ursprünglich aufs stärkste durch deutsches Wesen und deutschen Geist mitbestimmt. Ja, es gibt eine gut gestützte Theorie, – als Nichthistoriker wage ich nicht, das Maß ihrer Wahrheit genau zu bestimmen – nach der die große französische Revolution, oder besser die sie erst ermöglichende Adelszersetzung und die fortschreitende Unterordnung des alten französischen Adels unter die königliche Zentralgewalt, schließlich seine immer kläglicher werdende Kammerdienerrolle...

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