I. Über den Begriff der Erfahrung
1. Kant hat seinerzeit den Begriff der Erfahrung im Zuge seines Neuentwurfs des abendländischen Denkens präzisiert. Er hatte dabei die neu aufsteigende Wissenschaft im Auge, deren Möglichkeiten und deren Begründung er neu aufgerissen hat. So ist sein Begriff der Erfahrung konsequent an dem orientiert, was wir Wissenschaft im Sinne Kants und im Sinne der nachkantischen Zeit nennen, nämlich im Sinne der empirischen oder der Erfahrungswissenschaften oder der rein formalen logischen Wissenschaften.
Der in diesem Zusammenhang von Kant entwickelte Begriff von Erfahrung ist aber – wie man sieht – im religiösen Kontext nicht zu gebrauchen. Darum hat ja Kant zeigen können, daß die Metaphysik als Wissenschaft, nämlich als Wissenschaft im modernen Sinne dieses Wortes, nicht möglich ist. Und Metaphysik heißt für ihn ja vor allem das Wissen um Gott. Es ist nach Kant als Wissenschaft nicht möglich, weil es außerhalb dessen fällt, was Kant im Sinne der Wissenschaft seiner Zeit Erfahrung nennt. Und in der Tat ist die gesamte moderne empirische Wissenschaft in dieser Hinsicht Kant gefolgt. Darum hat Ludwig Wittgenstein in seinem Traktat gesagt: „Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.“5 Gemeint ist damit die wißbare, und weil wißbare, auch sagbare Welt. Die Welt ist aber die Welt der Erfahrungen im Sinne der wissenschaftlichen Erfahrungen.
Allerdings hat sich nun inzwischen gezeigt, daß der Begriff der Erfahrung weit über den Horizont der empirischen Wissenschaft ausgedehnt werden kann und muß. Dies hat bekanntlich schon Hegel getan, indem er die Phänomenologie des Geistes entwarf, von der er in der Vorrede sagte: „Die Wissenschaft dieses Weges ist Wissenschaft der Erfahrung, die das Bewußtsein macht.“6 Er ging damit so weit über Kant hinaus, wie es überhaupt denkbar ist. Und er hat damit den Begriff der Wissenschaft ebensoweit ausgedehnt. Später hat Nietzsche von Erfahrungen gesprochen, die den Rahmen der exakten Wissenschaften ganz sprengen. Vor allem aber hat nach Nietzsche Husserl mit seinem phänomenologischen Neuansatz auf eine sehr genaue Weise für einen zugleich präzisen und unbegrenzt weiten Begriff von Erfahrung die Grundlagen entworfen. Und später hat Hans-Georg Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode einen Begriff von Erfahrung entwickelt, der alle diese nachkantischen Denkanstöße aufnahm und der noch heute als Modell dienen kann für einen Begriff von Erfahrung, der aus der Enge des bloß Empirischen hinausführt, so wichtig dieses auch nach wie vor ist.7 Der hier entwickelte Begriff von Erfahrung steht also durchaus auf der Höhe des heute möglichen Denkens, und seine wesentlichen Elemente dürften gerade im religiösen Zusammenhang, auf den es uns ankommt, höchst relevant sein. Es ist ja auch kein Zufall, daß sich Gadamer selber ausdrücklich auf die theologische Überlieferung bezieht.
Auf diesen neueren und weiteren, aber genauen Begriff von Erfahrung wollen wir uns hier beziehen. So entwerfen wir, im Blick besonders auf die Gedanken von Gadamer und in Abhebung von der Linie, die sich bis Kant zurückführen läßt, einige Grundzüge eines Begriffs von Erfahrung, der für die Frage nach religiöser Erfahrung und damit für die breite moderne Diskussion darüber grundlegend sein dürfte.
2. Demgemäß muß Erfahrung grundlegend als unmittelbare Gegebenheit des zu Erfahrenden bestimmt werden. Das Erfahrene zeigt sich selber in der Erfahrung unmittelbar dem, der die Erfahrung macht. Diese Unmittelbarkeit kann dann freilich verschiedene Stufen und verschiedene Modifikationen haben. Sie kann zum Beispiel ganz unbemerkt und verdeckt, vielleicht sogar verstellt und verdrängt werden, und sie kann doch unmittelbar da sein und sich zeigen. Und solche Unmittelbarkeit kann umgekehrt auch im hellen Licht der Aufmerksamkeit stehen und kann deren Weite ganz und von Anfang an erfüllen. Und dazwischen gibt es viele mögliche Grade, Stufen und Abwandlungen.
3. Die unmittelbare Gegebenheit des Erfahrenen der Erfahrung darf keineswegs als bloße sinnliche Gegebenheit gesehen werden. Bloße Sinnlichkeit, zum Beispiel bloßes Sehen oder bloßes Hören oder bloßes Riechen, ist überhaupt nichts Unmittelbares, vielmehr sind die Gegebenheiten der einzelnen Sinne, vereinzelt und bloß als solche betrachtet, das Resultat einer Vermittlung durch einen Abstraktionsprozeß. Denn wir sehen ja nie bloß farbiges und schon gar nicht bloß physikalisch verstandenes Licht. Wir sehen vielmehr Sachen, Sachverhalte und Sachverhaltszusammenhänge, und diese sind es, die für uns unmittelbar gegeben sind. Auch sind wir niemals bloßes Sehen in Abhebung vom Hören, von den übrigen Sinnen und von dem, was wir Denken nennen können, sondern wir sind immer eine ganze Offenheit, die freilich reich strukturiert ist, und diese ganzheitliche Offenheit ist das Erst-Gegebene, das Unmittelbare. Was wir als Sehen, Hören, Denken usw. zu unterscheiden gewohnt sind, ist unmittelbar und also vor aller sekundären Unterscheidung eine umfassende und ungeschiedene, wenn auch reich strukturierte, ganzheitliche Offenheit auf die Welt hin und Offenheit der Welt zu uns. Und darin zeigen sich unmittelbar welthafte Sachzusammenhänge. Sie sind das Unmittelbare und also das, was sich im Sinne der Unmittelbarkeit dem Erfahrenden als Erfahrung gewährt. In diesem Sinne hat Erfahrung einen ganzheitlichen Charakter. Sie nimmt den ganzen lebendigen Menschen unmittelbar in Anspruch.
Die hier gemeinte Unmittelbarkeit schließt vielfältige Einflüsse aus dem geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem wir Menschen immer leben, keineswegs aus. Immer stehen wir unter solchen Einflüssen. Sie werden für uns am deutlichsten in der Sprache. Die Sprache, die wir sprechen, ist uns immer vermittelt aus dem geschichtlich-gesellschaftlichen Prozeß, in dem wir alle leben. Und solchermaßen vermittelt, ist sie zugleich das Medium aller unserer Erfahrungen. Denn wir könnten ja nicht von Erfahrungen sprechen, ohne überhaupt zu sprechen. Erst in der Sprache werden unsere Erfahrungen deutlich. Also, so sollte man meinen, ist die Rede von der Unmittelbarkeit deswegen fragwürdig, weil auf jeden Fall die Vermittlung durch die Sprache und mit ihr durch alles, was zu ihr gehört, für die Erfahrung unerläßlich ist.
Aber dabei ist zu beachten, daß diese Vermittlung durch die Sprache die zu erörternde Unmittelbarkeit dann nicht aufhebt, wenn die Sprache als Sprache sich rein ihrem Wesen gemäß und also ohne Beeinträchtigung entfaltet. Denn dann sprechen wir nicht Sprache, sondern wir sprechen unmittelbar Sachen und Sachverhalte und Sachverhaltszusammenhänge aus. Und ebenso hören wir auch nicht Sprache, wenn die Sprache gut funktioniert, sondern wir hören von den Sachen und Sachverhalten, von denen gesprochen wird. Die Sprache als Sprache, d. h. als ein für sich bestehendes Medium, verschwindet also in diesem Falle ganz, sie wird vollkommene Durchsichtigkeit für die unmittelbare Gegebenheit der Sachzusammenhänge der Welt. Die Vermittlung durch die Sprache geht also in diesem Falle ein in die Unmittelbarkeit des Gegebenen, die gerade durch die Sprache erst möglich wird. Und so ist es auch mit allen anderen Momenten des geschichtlich-gesellschaftlichen Prozesses, welche unsere Erfahrungen – allerdings nie ohne Sprache – bestimmen. Alles dies mündet in dem Fall, den wir hier vor Augen haben, ein in die unmittelbare Gegebenheit der sich der Erfahrung gewährenden Sachverhalte und Zusammenhänge.
Nur dann, wenn die Sprache entgegen ihrem eigentlichen Sinn nicht richtig geht, wenn also etwa bloße Worte gesagt werden und diese Worte dann nur äußerlich mit einer gemeinten Sache assoziativ verbunden werden, verschwindet die Unmittelbarkeit der Gegebenheit und damit die Möglichkeit einer Erfahrung in dem hier gemeinten Sinn. Und entsprechend ist es, wenn aus dem gesellschaftlichen Kontext, in dem wir alle leben, lediglich Meinungen und Redensarten auf dem Wege bloßer Anpassung übernommen und nachgesagt werden. Dann wird gleichfalls die Unmittelbarkeit des Gegebenen aufgelöst, ja sie kommt überhaupt nicht zustande, es ist dann alles vermittelt, und so ist nur noch die Rede da, die von keiner Erfahrung mehr Zeugnis gibt.
Wegen solcher und ähnlicher Möglichkeiten ist es ungeachtet der Unmittelbarkeit der Gegebenheit des Erfahrenen doch keineswegs leicht und selbstverständlich, die wirkliche Erfahrung zu erkennen und sie zu unterscheiden von ihr benachbarten Formen des menschlichen Lebens, die aber keine wirklichen Erfahrungen darstellen. Denn einerseits verschwimmt die Unmittelbarkeit des Erfahrenen leicht und oft und häufig ohne deutliche Grenzen mit dem, was man öffentliche Meinung nennen kann. Und was dann geschieht, nähert sich bisweilen fast unbemerkt dem bloßen Gerede, das zumeist fast erfahrungslos ist.
Und andererseits...