II. Das Konzil – ein neuer Weg in der Geschichte
Johannes XXIII.: „Die Kirche der Armen“
Papst Johannes XXIII. hält am 11. September 1962, genau einen Monat vor dem öffentlichen Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils, über Radio Vatikan eine Rundfunkansprache zum Konzil.12 Zur damaligen Zeit war der Rundfunk das einzige Kommunikationsmedium, das über eine globale Reichweite verfügte. Dass der Papst dieses Medium nutzt, lässt darauf schließen, dass er seine Vorstellung vom Konzil dem gesamten Globus – und nicht nur der katholischen Welt – persönlich übermitteln will. In dieser Botschaft macht er unmissverständlich deutlich, wie er über das Konzil denkt und welche Richtung er dieser Weltversammlung geben will.
Das Konzil soll die innere Lebenskraft der Kirche zum Leuchten bringen: „Was ist ein Ökumenisches Konzil anderes als die erneute Begegnung mit dem Antlitz Christi, des Auferstandenen?“ Aber zugleich soll angesichts der „Bedürfnisse und Nöte der Völker“ der Sozial- und Gemeinschaftssinn, „der innerlich zum wahren Christentum gehört“, nachdrücklich bekräftigt werden.
Zwei Gedanken aus der Botschaft sind besonders hervorzuheben: die globalisierte Welt und die Kirche der Armen:
Das ökumenische Konzil steht vor seinem Zusammentritt 17 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Zum ersten Mal in der Geschichte werden die Konzilsväter wirklich allen Völkern und Nationen angehören, und jeder wird seinen Beitrag an Wissen und Erfahrung leisten zur Heilung der Narben der beiden Kriege, die das Antlitz aller Länder tief verändert haben.13
Ein weiterer Punkt: Gegenüber den unterentwickelten Ländern erweist sich die Kirche als das, was sie ist und sein will: die Kirche aller, vornehmlich die Kirche der Armen. Jede Verletzung des fünften und sechsten Gebotes des heiligen Dekalogs; die Vernachlässigung der Pflichten, die sich aus dem siebten Gebot ergeben; das soziale Elend, das um Rache schreit vor dem Angesicht des Herrn; das alles muss deutlich in Erinnerung gebracht und beklagt werden. […] Dringende Pflicht des Christen ist es, […] darüber zu wachen, dass die Verwaltung und Verteilung der geschaffenen Güter allen zum Vorteil gereichen.14
An diesen beiden Leitgedanken des Papstes zur Orientierung des Konzils wird der Kontrast zwischen der Vorstellung des Papstes und der vatikanischen Kurie besonders deutlich. Offenbar stimmt das Konzil, das Johannes vorgeschlagen und entschieden hatte, nicht mit jenem überein, das in den siebzig vorbereiteten Texten enthalten ist, die die Konzilsteilnehmer nach Ansicht der vatikanischen Kurie beschließen sollen. „Die Radiobotschaft stellt einen Kontrapunkt dar zur theologischen und dogmatischen Starrheit der Texte, die in der Tradition römisch-kurialer Sprache entstanden waren.“15 Wie weit der Papst selbst verantwortlich ist für diesen Kontrast, wie weit die Spannung zwischen den beiden römischen Akteuren des Konzils (Papst und Kurie) gewollt ist, um die Eigenaktivität des dritten Akteurs – der Konzilsteilnehmer – zu befördern; wie weit eben dadurch eine Dynamik in Gang gesetzt wird, die das Konzil erst zu sich selbst kommen lässt, und wie in diesem möglicherweise ungesteuerten Prozess vielleicht auch eine List des Heiligen Geistes entdeckt werden könnte – diese Fragen werden uns weiter beschäftigen.
Die Plattform, die Papst Johannes hier dem Konzil und damit der Kirche anbietet, ist jedenfalls völlig neu. Mit diesen beiden Leitgedanken stellt der Papst die Kirche „in die Welt von heute“. Er sieht sie herausgefordert zum Dienst an der gesamten Menschheit. Johannes XXIII. erweist sich als derjenige, der sich der globalisierten Welt bewusst ist, bevor der Begriff „Globalisierung“ den Sprachgebrauch erobert. Zum ersten Mal stellt die Kirche sich selbst als weltweite Gemeinschaft „aus allen Völkern und Nationen“ greifbar dar. Ein Novum einerseits für die Kirche selbst: Es ist in der Konziliengeschichte tatsächlich das erste Mal, dass alle Völker und Nationen, in denen die Kirche lebt, vertreten sind. Sie werden in ihren Sprachen öffentlich bezeugen, wo sie heute dem Antlitz des auferstandenen Gekreuzigten begegnen. Ein Novum andererseits für die Weltöffentlichkeit: Der Glaube, der hier bezeugt werden soll, erweist sich als sehr konkret angesichts „der Narben der beiden Kriege, die das Antlitz aller Länder tief verändert haben“. Die Sendung jedes Einzelnen und der gesamten Kirche wird daran erkennbar, dass jeder aus dem Glauben mit seinem Beitrag an Wissen und Erfahrung der Menschheit einen Dienst leisten soll, nämlich die Narben zu heilen. Johannes plädiert bereits für eine „Globalisierung der Solidarität“, die ausdrücklich erst später von Papst Johannes Paul II. programmatisch proklamiert werden sollte. Wenn man diese wenigen Sätze nach mehr als fünfzig Jahren im Licht der seither geschehenen Ereignisse wieder liest und bedenkt, erkennt man ihre prophetische Kraft und Bedeutung.
Das gilt ebenso für den hier zitierten zweiten Gedanken aus der Rundfunkbotschaft. Bemerkenswert an dem zitierten Text ist, dass die Lage der „armen Länder“ für das Verständnis der Kirche und ihrer Sendung überhaupt eine Rolle spielt. Es geht eindeutig um die reale Armut des überwiegenden Teils der Menschheit, und besonders bedeutsam daran ist, dass diese Lage Konsequenzen für das Selbstverständnis der Kirche nach sich zieht: Je nach dem, wie man sich zur Frage der Armut in der Welt verhält, wird man auch die Rolle der Kirche einschätzen. Der Papst nennt die armen Völker „unterentwickelte Länder“. Das ist nicht einfach als verschleiernder Sprachgebrauch der Sechzigerjahre zu denunzieren. Indem er einige Zeilen später diese Situation als „das Elend, das um Rache schreit“ beschreibt, indem er das soziale Elend mit den Zehn Geboten in Verbindung bringt – mit dem fünften Gebot „Du sollst nicht töten“, dem sechsten Gebot „Du sollst den anderen Menschen nicht missbrauchen“, dem siebten Gebot „Du sollst nicht stehlen“ –, lässt er zweierlei durchblicken: erstens, dass die sogenannte Unterentwicklung eine Ungerechtigkeit ist, die Gesellschaften anderen gegenüber zulassen oder begehen, und zweitens, dass dieses Unrecht mit den Geboten Gottes nicht in Einklang gebracht werden kann, also unmittelbar dem Willen Gottes widerspricht. Hiermit stellt sich der Papst an die Seite der armen Völker der Erde. Diese melden sich im Laufe der Fünfziger- und Sechzigerjahre des 20. Jahr-hunderts immer stärker in der Weltöffentlichkeit zu Wort, reklamieren ihre kulturelle Identität, wollen die ungerechten Verhältnisse zwischen den Völkern überwinden und politische Selbstbestimmung durchsetzen. Die Phase kolonialer Beherrschung geht zu Ende. Johannes XXIII. nimmt diese Zeichen der Zeit wahr und weiß sie als Herausforderung für das Selbstverständnis und den Dienst der Kirche zu deuten.
Gegenüber dieser Welt der Armen, die aufgebrochen ist, um das Land des Elends zu verlassen, zeigt sich die Kirche „als das, was sie ist und sein will“. Einerseits deutet der Papst in diesen wenigen Worten wieder an, was er zuvor bereits gesagt hatte: Die Kirche ist Gemeinschaft aus allen Völkern, um die Ermutigung Jesu weiterzugeben: „Erhebet eure Häupter, denn eure Erlösung ist nahe.“ (Lukas 21,27) Andererseits unterstreicht er die Aufgabe für die Zukunft. Wenn die Kirche auch in Zukunft für alle Menschen da sein will, dann muss sie eine Gemeinschaft sein, die das herrschende Unrecht nicht nur in Erinnerung bringt und anklagt, sondern zugleich dafür einsteht, „dass die Verwaltung und Verteilung der geschaffenen Güter allen zum Vorteil gereichen“. Nur ein solches Projekt wird die Kirche zu einem lebendigen Zeichen der Liebe Gottes machen; Gottes Liebe umfasst zwar jeden Menschen ohne Ausnahme („die Kirche aller“), aber zugleich wendet sie sich vorrangig den Unterdrückten und Armen zu, um ihr Schicksal zu wenden („insbesondere die Kirche der Armen“). Beide Aspekte gehören in der biblischen Tradition untrennbar zusammen. Nur der Gott, der die ausgegrenzten Armen befreit, kann auch der Gott aller sein. Nur eine Kirche, die an der Seite der Armen Partei für das Leben aller ergreift, kann auch die Kirche aller sein. Die Armen sind nämlich nicht die besonders betreuungsbedürftige Sektion der Gesellschaft, sondern der Teil, der offenbart, dass die Gesamtgesellschaft die Gaben der Schöpfung nicht gerecht verteilt und damit dem Willen Gottes widerspricht. Die Einsicht des Papstes Johannes hat im Laufe der Zeit dem Leben und der Reflexion der Kirche viel zu denken gegeben. Das lässt sich an der Konzilsdebatte und an der Gruppe zum Thema „Kirche der Armen“ verfolgen.
Die Konzilsgruppe „Kirche der Armen“
Wie das Weltereignis Konzil bewirkt, dass zumeist einander völlig unbekannte...