II. Im Bann der Revolution (1793–1800)
Als am 24. Oktober 1794 die Franzosen unter den Klängen der Marseillaise in Koblenz einzogen und eine fast 20-jährige Epoche französischer Herrschaft für Görres’ Heimatstadt begann, gehörte der 18-Jährige zu dem relativ kleinen Häufchen derer, die die politische Wende begrüßten, die, so schrieb er später, „die beseeligenden Gefühle der Freyheit“ genossen und die anrückenden Franzosen mit Enthusiasmus bejubelten.12
Schon in den Jahren vor dem Einmarsch der Franzosen hatte sich in Koblenz, wie auch in andern Städten des Rheinlands, ein Klub von „Patrioten“ zusammengefunden, der die Ideale der Französischen Revolution und des Republikanismus auf seine Fahnen schrieb. In der Theorie sympathisierte man mit den Zielen der französischen Jakobiner, ohne jedoch deren Bereitschaft zur Gewalt zu teilen, in der Praxis aber setzte man – nach den alten Prinzipien der Aufklärung und eines Moralismus à la Kant – vor allem auf die Besserung des Menschen durch Erziehung. An eine politische oder publizistische Wirksamkeit war vorläufig nicht zu denken. Das Häuflein der Revolutionsanhänger musste sich vielmehr im Untergrund treffen, denn die meisten Koblenzer Bürger, zumal die Männer der Oberschicht, standen, obwohl von den Ideen der Aufklärung geprägt, dem Patriotenklub mehr als skeptisch gegenüber. Sie waren alles andere als Republikaner, hofften vielmehr auch nach dem Einmarsch der Franzosen noch lange auf eine Rückkehr ihres geistlichen Fürsten. Selbst unter denen, die in den ersten Jahren nach der Revolution Frankreich noch als Vorbild ansahen, machte sich seit 1792 ein Stimmungsumschwung bemerkbar. Viele Gemäßigte konnten sich schon mit der Ausrufung der Republik nicht anfreunden, die Nachrichten von der Terrorherrschaft in Paris, vom Wüten der Guillotine, von der Hinrichtung des Königs ließen dann viele am Musterland der Freiheit zweifeln.13
Der junge Görres aber und seine Gesinnungsgenossen vom patriotischen Verein, unter ihnen nicht zuletzt einige seiner ehemaligen Lehrer, sehnten sich danach, auch in ihrer Heimat die Revolution ihren Siegeszug antreten zu sehen. Als bedeutenden Schritt auf diesem Weg feierten sie die Eroberung von Mainz durch die Franzosen im Oktober 1792. Die Mainzer Republikaner, die sich damals als „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“ nach dem Vorbild der Pariser und Straßburger Jakobiner zusammenschlossen, wurden bald zum Vorbild und geistigen Zentrum der Revolutionsbegeisterten am Rhein. Diese „Klubisten“ taten alles, um ihre Mitbürger für die Ideale der Revolution zu gewinnen, hielten allabendlich Versammlungen mit Vorträgen ab, verteilten Flugschriften und Zeitungen. Im Februar 1793 gründeten sie unter der Ägide der Besatzungsmacht eine selbstständige Mainzer Republik und organisierten Wahlen zu einem Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent. Doch spätestens mit der Rückeroberung von Mainz im Juli 1793 endete der kurze Traum. Die Koblenzer Republikaner, allen voran Görres’ Lehrer, hatten bereits von Anfang an mit den Mainzern in Verbindung gestanden. Auch der junge Görres hat wohl im Lauf des Jahres 1792 – vermutlich mit einem seiner Lehrer – Mainz besucht und Bekanntschaft mit dem Zirkel der Klubisten gemacht. Das Konzept der Erziehung der Massen durch Wort und Schrift, das die Mainzer praktizierten, und die Perspektive eines möglichen Schritts von der philosophischen Theorie in die politische Praxis haben ihn sicher nachhaltig beeindruckt. Später wird er sich erinnern, dass damals „die Keime zu einem Enthusiasmus“ gelegt wurden, der auf sein künftiges Leben von entscheidendem Einfluss war.14
Als dann im Oktober 1794 mit dem Einmarsch der Franzosen der Traum der Koblenzer Republikaner in Erfüllung ging, verstand es der junge Görres sehr schnell als seine ganz persönliche Aufgabe, sich mit der Feder für seine politischen Ideale einzusetzen. Im Sommer 1795 bereits entstanden seine ersten publizistischen Versuche. In einem bösen kleinen satirischen Gedicht, frei nach einer Ode von Horaz, feierte der 19-Jährige die Hinrichtung des royalistischen Bischofs von Dol – ein geschmackloses Werkchen, das erst einige Jahre später gedruckt wurde.15 Kurz darauf entstand Görres’ erste publizistische Veröffentlichung, die Satire Der allgemeine Friede. Sie erschien, da es in Koblenz noch keine republikanische Presse gab, in Köln, in dem berüchtigten revolutionären Hetzblatt Brutusoder der Tyrannenfeind des ehemaligen Mönchs Franz Theodor Biergans.16 In dieser Parodie eines Friedensvertrags schüttet Görres seinen Spott über die Machthaber der antirevolutionären Koalition aus und lässt sie vom Sieger, der Grande Nation, auf passende Weise entschädigen. So erhält der Kaiser den Planeten Saturn, der König von England den Merkur als Stapelplatz, dazu das Recht, die Menschheit in Zukunft mit Sonnenlicht zu versorgen, die Bouteille für einen halben Pence. Der König von Preußen erhält den Jupiter, der König von Spanien den Uranus, verbunden mit dem Recht, Entdeckungsschiffe zu weiteren etwaig noch vorhandenen Monden zu entsenden. Der König von Sardinien erhält den Mars und freien Sardellenfang, der von Neapel eine Schachtel Bleisoldaten und die freie Jagd auf dem Mond, die Königin von Portugal einen vollkommenen Ablass mit der Auflage, das Muttergottesbild von Loreto neu einzukleiden. Dem Papst wird ein westfälischer Schinken zuerkannt, die Kurfürsten erhalten Ansprüche auf „die nächst erscheinenden Kometen“. Frankreichs König soll wieder in seine alten Rechte und Würden eingesetzt werden und – innerhalb der alten Grenzen, nur 12000 Fuß über dem Meer – in Luftpalästen herrschen. Der Titel des allerchristlichsten Königs aber soll in Zukunft dem Großtürk zufallen.
Damals, im Herbst 1795, sah alles danach aus, als wäre nach dem Kriegsaustritt Preußens und Spaniens im Frieden von Basel und nach dem siegreichen Vormarsch der französischen Sambre-Maas-Armee die Vereinigung des linken Rheinufers – und damit auch der Stadt Koblenz – mit Frankreich und ein von Frankreich diktierter Friedensvertrag nur noch eine Frage der Zeit. Doch schon einen Monat später schien Fortuna wieder auf Seiten der Österreicher zu kämpfen, und in Koblenz kursierten wieder Gerüchte von einem baldigen Abzug der Franzosen. Das wechselnde Kriegsglück der streitenden Parteien in den nächsten beiden Jahren brachte für die Bevölkerung am Rhein beständiges Hoffen und Bangen auf beiden Seiten und ließ abwechselnd Republikaner und Anhänger des Ancien Régime auf den Sieg hoffen. Dabei wurden die Kontributionen und Requisitionen durch die Besatzungsmacht immer drückender, das Land, das die Soldaten ernähren musste, war langsam ausgeblutet und die Franzosen hatten zu tun, die Bevölkerung ruhig zu halten. Die wachsende Unbeliebtheit der Besatzer in der Bevölkerung und die unsichere politische Lage machten es den Koblenzer Patrioten nicht einfacher, Sympathien in der Bevölkerung zu gewinnen. Zudem überging sie General Hoche, der siegreiche Kommandant der Sambre-Maas-Armee und Chef der Zivilverwaltung in Koblenz, bei der Besetzung der Ämter und setzte, um die Bevölkerung für sich zu gewinnen, die alten monarchisch gesinnten Beamten und Stadträte wieder ein. Nach wie vor mussten sich Görres und seine Gesinnungsfreunde im Geheimen treffen, waren Zielscheibe des Spotts. Ihnen blieb nur die Hoffnung auf einen baldigen Frieden, der die Rheingrenze in ihrem Sinn regeln würde.17
Doch der Vorfriede von Leoben zwischen Bonaparte und Österreich im April 1797 enttäuscht diese Erwartungen, denn er setzt die Integrität des Deutschen Reiches als Grundlage für einen Friedensvertrag fest und bringt somit die Gefahr, dass Frankreich trotz anderslautender Beteuerungen auf die Rheingrenze verzichten könnte, und damit für Koblenz die Gefahr einer Rückkehr des Ancien Régime mit sich. Um diese Horrorvision zu bannen, meldet sich der junge Görres mit einem fingierten Auszug der Friedensbedingungen zu Wort, den er als Extrablatt zum Koblenzer Intelligenzblatt verteilen lässt. Die angeblich in Frankfurt unter Glockengeläut und Kanonendonner verkündeten Vereinbarungen zwischen den europäischen Mächten, die er hier aufzählt, u. a. die Anerkennung der französischen Republik durch den Kaiser und der Verzicht Frankreichs auf das linke Rheinufer – sollen den Territorienschacher der Kabinette ad absurdum führen und „kein unbedeutender Fingerzeig für die französische Regierung“ sein.18
Zur gleichen Zeit, da diese kleine Friedensfarce entstand, beschäftigt sich der 21-Jährige auch erstmals ernsthaft mit der Friedensthematik. In seinem ersten politischen...