1. Frühgeschichte
„Ein umherirrender Aramäer war mein Vater“: Dieses geschichtliche Credo‘ betete jeder Hebräer, wenn er zur Zeit der Monarchien im Tempel opferte (Deuteronomium 26, 5). Er rief sich damit ständig ins Gedächtnis, daß seine Vorfahren nicht Ureinwohner Kanaans, sondern dorthin eingewandert waren.
Um die Mitte des 13. Jahrhunderts hatten drei Großmächte die Geschicke des syrisch-palästinischen Raumes bestimmt: Ägypten, die Hettiter, das Reich von Mitanni. Bereits ein halbes Jahrhundert später war von ihnen nur noch Ägypten übrig, aber auf die zentralen Gebiete am Nil zurückgeworfen. Zwei unterschiedliche, aber gleichermaßen machtvolle Völkerbewegungen waren für diesen Wandel verantwortlich. Von Nordwesten drangen immer neue Wellen von Seevölkergruppierungen über das Meer an die Levanteküste vor. Sie zerstörten teilweise die dort bestehenden Strukturen kanaanäischer Stadtstaaten und waren in einigen Fällen mit Ansiedlungen erfolgreich. Seit dem beginnenden 12. Jahrhundert besiedelten die P(h)ilister die fruchtbaren Küstenebenen des nach ihnen benannten Palästina und drangen im Laufe der Zeit auch in die östlich gelegenen Bergregionen vor. Wie die Hebräer bewahrten die Philister ihre Traditionen über Wanderungen in ihrer fernen Vergangenheit. In der Mitte des 8. Jahrhunderts heißt es dementsprechend bei dem Propheten Amos (9, 7): „Gewiß habe ich (Jahwe) Israel aus dem Lande Ägypten herausgeführt, aber auch die Philister aus Kaphtor.“ Mit Kaphtor war Kreta gemeint oder die Ägäis im ganzen.
Die Philister schufen in der Region eine übergreifende politische Ordnung, den ‚Fünfstädtebund‘, der Gaza, Askalon, Asdod, Ekron und Gath umfaßte. Bei ihren Eroberungen stützten sich diese Städte auf Söldnertruppen sowie schwerbewaffnete Einzelkämpfer, wie sie uns das Alte Testament in der Person des Goliath vor Augen führt (1. Samuel 17, 4–7).
Der Vordere Orient im 2. Jahrtausend
Die zweite Einwanderungswelle kam, zeitlich etwas versetzt, aus den östlichen Regionen der arabisch-syrischen Wüste. Es waren Aramäer, die in kurzer Zeit in Babylon auf friedlichem Wege zur Herrschaft gelangten und die Staatengebilde Syriens beherrschten. In Palästina waren es die Hebräer, die sich dort in der Nachbarschaft zu den Kanaanäern niederließen.
Am Anfang ihrer Geschichte waren die Hebräer Nomaden. Diese Lebens- und Wirtschaftsweise eines umherziehenden Hirtenvolks prägte wesentliche Entwicklungen der gesellschaftlichen Ordnung, und sie wirkte bewußtseinsbildend noch zu einer Zeit, in der man längst nicht mehr in Zelten, sondern in Hütten, Dörfern und Städten lebte. Wie lang und intensiv die tatsächliche nomadische Phase auch gewesen sein mag, in der Rückschau wurde sie immer mehr – wie auch die vormonarchische Sozialordnung – zum Ideal. Und da Vergangenheit vor allem dadurch wirkt, wie sie gesehen wird, und weniger dadurch, wie sie wirklich war, blieb der ‚umherirrende Aramäer‘ selbst den Bewohnern der Königreiche präsent.
Nomadisierende Lebensweise war immer eng mit derjenigen der Bauern verbunden. Mit ihren Kleinviehherden – Schafen und Ziegen – waren die Nomaden auf Wasserstellen angewiesen, deren gemeinsame Nutzung Absprachen mit den Bauern notwendig machte. Dies galt ebenso für die Sommerweide der Herden auf den abgeernteten Feldern, da die Wüsten und Steppen nur in der Zeit des Winterregens Weidemöglichkeiten boten; zudem tauschten beide Gruppen die Erzeugnisse ihrer Vieh- und Weidewirtschaft beziehungsweise ihres Ackerbaus untereinander aus.
Der Nomade war also auf das Kulturland angewiesen; hierin lag der mancherorts zu beobachtende Übergang zur dauerhaften Siedlung begründet. Oft waren Teile eines Familienverbandes bereits seßhaft, während andere Mitglieder noch den Weidewechsel praktizierten. Auf diese Weise begann die allmähliche Ansiedlung – ein Prozeß, der sich über Generationen hinziehen konnte und keineswegs überall gleichzeitig erfolgte. Dieser Vorgang betraf ohnehin nicht die großen landwirtschaftlichen Zentren, die fruchtbaren Ebenen, die Siedlungsgebiete der kanaanäischen Stadtstaaten blieben.
Die unterschiedliche Lebensweise von Nomaden und Seßhaften spiegelt sich in den jeweiligen Anschauungen der eigenen wie der fremden Existenz wider. Für die Bauern und Städter war der Nomade der „Barbar“, der kein Haus sein eigen nennt, den Boden nicht bebaut, rohes Fleisch ißt, kurz die Umgangsformen der zivilisierten Welt vermissen läßt. Mit äußerstem Unmut sahen die Städter den für Nomaden charakteristischen Beuteerwerb, der sich aus ihren ärmlichen Lebensbedingungen erklärt. Gegen derartige Menschen mußte man sich mit Mauern schützen oder gar mit Waffengewalt vorgehen.
Die Nomaden sahen ihre Lebensweise selbstverständlich anders. Sie betonten die Freiheit, das Ungebundensein gegenüber den an einen Ort Gefesselten. Das Geburtsorakel des Ismael bringt das nomadische Selbstverständnis auf den Punkt (Genesis 16, 12):
„Er wird ein Mensch sein wie ein wilder Esel –
seine Hand wider alle, aller Hand wider ihn!
All seinen Brüdern lebt er ins Gesicht.“
Die harte Lebensweise bestimmte den Zusammenhalt der nomadischen Familie, die auf die Solidarität aller Mitglieder angewiesen war. Daher prägten strenge Regeln das Leben des einzelnen wie das der Gemeinschaft. Den Schutz des Lebens beispielsweise garantierte die Institution der Blutrache. Sie stellte einem Mörder seinerseits den Tod durch die Verwandten des Opfers in Aussicht. Um dem damit sich zwangsläufig einstellenden Kreislauf der Gewalt zu entkommen, drohte man damit, einen Mord mit einer Vielzahl von Morden zu rächen, was sich – zumindest in den Erzählungen – bis zu jener Prahlerei des Lamech steigern konnte, der sich vor seinen Frauen brüstete, er werde siebenundsiebzigmal gerächt (Genesis 4, 24).
Der nomadischen Lebensweise entsprachen die Gottesvorstellungen. Familiengötter beschützten die einzelnen Gruppen; während Anzahl und Namen der Götter so zahlreich waren wie die Familienverbände, ähnelten sich die entsprechenden jeweiligen Gottesvorstellungen. Die Götter, von denen wir einige namentlich kennen – wie den ‚Gott Abrahams‘, den ‚Schrecken Isaaks‘ oder den ‚Starken Jakobs‘ –, schützten diejenigen, die sie verehrten, und dienten als Schwurgötter. Beispielhaft für die Funktion derartiger Götter ist die Geschichte eines Streits zwischen Laban und Jakob. Als sie sich schließlich doch friedlich einigen, ruft jeder seinen eigenen Sippengott als Garanten des soeben geschlossenen Vertrages an (Genesis 31, 53): „Der Gott Abrahams und der Gott Nahors sollen zwischen uns Richter sein.“
Durch die Bindung der Götter an die Person des ehemaligen Familienoberhauptes und die späteren Mitglieder der Sippe war diesem Religionstyp ein Hang zum Historischen eigen, der sich in der Geschichte der Hebräer immer wieder manifestierte. Darüber hinaus war es später möglich, die unterschiedlichen Erzählungen von im Prinzip ähnlichen Göttern auf die Person eines einzigen Gottes hin umzuschreiben, als das ganze Volk eine einzige große ‚Familie‘ wurde. So wird im Zusammenhang der Mose-Geschichte Jahwe als Gott gleichsam vorgestellt (Exodus 3, 6): „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs.“
„Ein umherirrender Aramäer war mein Vater, der zog hinab nach Ägypten.“ Der Aufenthalt von Wanderhirten in Ägypten war vom 15. bis zum 12. Jahrhundert keine Seltenheit. Wenn die Lebensbedingungen der Wüste und Steppe nichts mehr hergaben, zog man in das Land am Nil, in dessen Delta es Nahrungsmittel im Überfluß gab. Diese Züge liefen in aller Regel geordnet ab. Wer auf diese Weise die ägyptischen Grenzposten passierte, wurde registriert und erhielt seinen Aufenthaltsort zugewiesen. In dem Bericht eines Grenzbeamten an den Pharao aus der Zeit um 1200 heißt es (T[extbuch] zur G[eschichte] I[sraels], hrsg. von Kurt Galling, Tübingen 31979 = TGI 40): „Wir sind damit fertig geworden, die Schasu-Stämme von Edom durch die Festung des (Pharao) Merenptah (1213–1203) in Tkw passieren zu lassen bis zu den Teichen von Pithom des Merenptah in Tkw, um sie und ihr Vieh auf der großen Besitzung des Pharao, der guten Sonne eines jeden Landes, am Leben zu erhalten.“ Zu solchen Nomaden werden auch die Gruppen gehört haben, die in die späteren Traditionen der Hebräer die Geschichte vom Aufenthalt in Ägypten einbrachten. Nach den biblischen Erzählungen erhielten diese Nomaden Weideland zugewiesen, wofür sie allerdings eine Gegenleistung zu entrichten hatten: Die Ägypter zogen die Hirten zu Dienstleistungen bei Bauvorhaben heran. Diese Forderung rief bei den an Freiheit gewöhnten Nomaden einen Aufruhr hervor, sie ergriffen die Flucht.
Diese Flucht einiger Hebräer aus Ägypten, die sich zeitlich nicht festlegen läßt, wurde zum Fixpunkt der Geschichte, weil sie entgegen aller sonstigen...