I. Mit Händen und Füßen.
Organisten am Werk
Was ist die Orgel? Wie funktioniert sie? Wie spielt man auf ihr? Wie sehen die Werke aus, die für sie geschrieben wurden? Wie groß, wie wichtig ist das Repertorium der Orgelmusik in der Musikgeschichte? Welche Spuren hat die «Königin der Instrumente» als Baukunstwerk, als Ort von Malerei, Bildhauerei, Kunsttischlerei, Fensterglas- und Lichteffekten in der Geschichte der Architektur und der bildenden Künste hinterlassen? Und wie spiegelt sich die Orgel in der erzählenden Literatur, im Musikgedicht?
Ein reiches Themenfeld! Beginnen wir ganz handfest und handgreiflich mit einer Feststellung: Eine Orgel wird mit Händen und Füßen gespielt. Die Hände der Organisten spielen auf den Manualen. Die Füße – Spitze, Absatz und Ballen – betätigen das Pedalwerk. Nicht nur mit den Händen, auch mit den Füßen können Orgelspieler den ganzen Tonraum ausloten; in der Orgelliteratur gibt es zahlreiche vieltaktige, weit ausgreifende Pedal-Soli. Das Pedal muss dabei nicht immer die tiefen Töne, den Bass, spielen. Es kann auch die Mittelstimmen, ja sogar die Oberstimme übernehmen, während die Hände die darunter liegenden Stimmen, die Bässe und Mittelstimmen, spielen – so in vielen Choralvorspielen von Johann Pachelbel bis zu Johannes Brahms.
So müssen Organisten also nicht nur die Tasten, das Clavir, beherrschen – sie müssen sich auch, wie Johann Sebastian Bach in seinem «Orgelbüchlein» verlangt, «im Pedalstudio … habilitiren». Denn das Pedal wird bei genuinen Orgelkompositionen «gantz obligat tractiret». Demgemäß umfassen auch die Orgelnoten herkömmlicherweise meist nicht nur zwei Notensysteme (wie etwa beim Klavier), sondern drei – falls es sich nicht um Stücke handelt, die ausdrücklich (nur) für die Hände geschrieben sind und daher manualiter gespielt werden.
Trotz ihrer Künste waren die Organisten lange Zeit für das Publikum schlechterdings unsichtbar – und in ihrer Mehrzahl sind sie es auch heute noch. In den Kirchen der Christenheit (die Weltreligionen außerhalb des Christentums kennen keine Orgeln) saßen sie fast immer im Rücken oder seitlich der Gemeinde – weit oben auf der Orgelempore. Sie stand gewöhnlich im Westen, seltener im Norden oder Süden; der Altar war nach Osten orientiert. Den neugierigen Blicken der Menschen waren die Organisten entzogen. Am Spieltisch, auf «hohem Stuhle», walteten sie in Verborgenheit diskret ihres Amtes. Man sah die Organisten allenfalls von fern – so noch heute, wenn ein Orgelspieler, eine Orgelspielerin nach einem Konzert an die Brüstung der Empore tritt, um den Beifall der Zuhörer entgegen zu nehmen; oft sieht man nur winzige Punkte in der Ferne. Ein wenig anders ist es in den romanischen Ländern, in denen meist keine fest stehenden, schweren Bänke wie in Mitteleuropa und im Norden zur Kirchenausstattung gehören, sondern einzelne Stühle. Das ermöglicht den Zuhörern, bei Orgelkonzerten diese Stühle einfach umzudrehen und sich dem Organisten an der Rückwand der Kirche zuzuwenden.
Will man die Organisten nicht nur hören, sondern ihnen aus der Nähe beim Spielen zusehen, so muss man in Konzerthallen mit Konzertorgeln gehen – deren gibt es inzwischen weltweit viele, auch in Ländern ohne eigene Orgeltradition. Hier können sich Organisten am frei stehenden Spieltisch auf dem Podium als Spieler, als Künstler zeigen, ebenso wie andere Solisten – als Virtuosen mit allen Fertigkeiten: der Arbeit der Hände im raschen Wechsel der Manuale, dem Treten und Gleiten der Füße, den ruhigen oder schnellen Bewegungen des ganzen Körpers, dem Agieren an dem großen, die Spieler halb umschließenden Spieltisch. Sie können etwas aus der Literatur spielen oder das Publikum mit Improvisationen erfreuen oder verblüffen. Sie können sogar am Schluss der Darbietung elegant über das Pedal «absteigen» – und die eigene Körperdrehung zwanglos in eine Verbeugung vor den Hörern übergehen lassen (wie ich es bei Karl Richter mehrmals gesehen habe).
Den meisten Organisten ist eine solch virtuose Selbstdarstellung freilich fremd. Sie sind bis heute in ihrem Auftreten eher scheu und zurückhaltend geblieben – immer noch den Kirchendienern gleichend, zu denen sie ja über viele Jahrhunderte ganz selbstverständlich gehörten (die Mehrzahl von ihnen zählt auch heute noch dazu!). Sie drängen sich nicht vor, auch dann nicht, wenn sie als Konzertvirtuosen auftreten. Sie wollen lieber angehört als angeschaut werden. Daher kennen wir die Organisten auch weniger aus Bildern (wie die meisten anderen Künstler), viel öfter kennen wir sie aus Erzählungen, Sprichwörtern, Anekdoten – und nicht zuletzt auch aus der Karikatur.
1 – Johann Sebastian Bach: Choralvorspiel «Vater unser im Himmelreich» aus dem «Orgelbüchlein». Orgelnoten werden heute, wenn die Komposition für Manual und Pedal gedacht ist, üblicherweise in drei Liniensystemen notiert: Die Manuale in den oberen beiden Systemen, das Pedal im unteren System.
Jedermann kennt Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel, der sonntags «in der Kirche mit Gefühle saß bei seinem Orgelspiele» – und der gleich darauf ein Opfer der Bubenstreiche von Max und Moritz wird. Und viele kennen auch sein nobles Gegenstück, den Herrn Edmund Pfühl aus Thomas Manns «Buddenbrooks», den Meister des Kontrapunkts, der in St. Marien in Lübeck den Organistendienst versieht. Er ist geradezu ein Idealbild des Künstlers: einsam in unzugänglicher Höhe über der Gemeinde thronend, im Verborgenen seine Kunst ausübend. Ganz zufrieden ist er mit dieser herausgehobenen Lage freilich nicht. Er leidet darunter, dass die Leute drunten im Kirchenschiff kein Gespür für seine Virtuosenkünste haben. Die sind in der Tat ungewöhnlich und finden selbst unter berühmten Kollegen nicht ihresgleichen. Soeben hat er vor dem staunenden kleinen Hanno Buddenbrook eine «rückgängige Imitation» gespielt, was bekanntermaßen zu den schwierigsten Aufgaben beim Orgelspiel gehört. Aber er bleibt damit allein und ohne ein Echo der Gemeinde. «‹Es merkt es niemand›, sagte er mit hoffnungslosem Kopfschütteln.»
2 – Wilhelm Busch, «Max und Moritz, vierter Streich». Die Hände und das rechte Ohr von Lehrer Lämpel hat Busch riesengroß gezeichnet!
Oder man denke an die sprichwörtliche Figur des alten Dorfschullehrers, «der Kinder, Weib und Orgel schlug». Man erinnere sich an den lang andauernden Bund von Musik, Religion und Pädagogik in kleinen Orten mit Lehrerdienstwohnung und geistlicher Schulaufsicht. Apropos Orgelschlagen: Das erinnert an frühe Zeiten, als die Orgel breitere Tasten hatte (wie heute noch das Carillon, das Glockenspiel), die nur schwer bewegt werden konnten, geschlagen werden mussten. Das Wort Toccata (von lat. toccare = schlagen), eine der ältesten Bezeichnungen für Instrumentalstücke, kommt daher!
Wie soll man ihn also charakterisieren, den Organisten? Wo liegt seine künstlerische Eigenart? Hans Haselböck (Wien), selbst ein renommierter Organist, beschreibt ihn nicht ohne Selbstironie wie folgt: «Ein im Lauf der Zeiten in unterschiedlicher Weise geschätzter Musicus – was vor allem in monetarischer Form seinen oft betrüblichen Ausdruck gefunden hat und noch immer findet –, der jedoch gleichsam als Ausgleich für manche himmelschreiende pekuniäre Benachteiligung in der Lage ist, mit seinem Instrument Klänge von bemerkenswerter Fülle und beträchtlicher Lautstärke hervorzubringen – ein Umstand, der das Selbstwertgefühl des besagten Organisten nicht selten beträchtlich zu steigern imstande ist. Die Wertschätzung dieses von allen anderen Instrumentisten deutlich unterschiedenen, ja irgendwie geradezu ‹abgehobenen› Musikers (er spielt ja zumeist hoch oben in den Gewölben) hält sich bedauerlicherweise in gewissen Grenzen. Auf der einen Seite finden sich Stimmen der Anerkennung, ja Bewunderung, denen aber nicht wenige abschätzige Bemerkungen gegenüberstehen» (Haselböck 27).
Heute werden Organisten an Kirchenmusikschulen, Konservatorien oder Musikhochschulen ausgebildet. Früher, vor dem 19. Jahrhundert, erlernte man das musikalische Handwerk bei einem Meister. Dazu gehörten sowohl das instrumentale Spiel als auch die Komposition und die für Organisten unentbehrliche Fähigkeit zur Improvisation. «Heute legt der Organist am Ende seiner Ausbildung eine Prüfung ab. Je nach Qualifikations-Ziel (C-, B- oder A-Examen) bewegt sich die Studiendauer zwischen vier und acht Semestern. Der Konzertorganist hat bei entsprechend längerem Studium zwei weitere Prüfungen zu bestehen. Damit ist die höchste Sprosse der Studienleiter erreicht. Das Konzertdiplom im ‹Hauptfach Orgel› besitzt durchaus Seltenheitswert» (Oehms 2, 34).
Auf einen elementaren Unterschied zu anderen Musikern macht Roman Finkenzeller aufmerksam. Der Organist ist an einem «Großgerät» tätig, das sich weder versetzen noch wegräumen lässt....