II. Slawenzeit: Obodriten, Wilzen, Ranen und Pomoranen (7.–11. Jahrhundert)
1. Slawische Stammesherrschaft
Im 4. und 5. Jahrhundert verließen die an der südlichen Ostseeküste siedelnden germanischen Stämme im Zuge der Völkerwanderung ihre Wohnsitze und wanderten nach Süden und Osten ab. Eine kleine germanische Restbevölkerung verblieb. In die jetzt dünner besiedelten Regionen wanderten in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts slawische Stämme ein, die unter dem Namen Obodriten erstmals um 780 im Zusammenhang mit dem Kampf des Frankenreiches gegen die Sachsen Erwähnung finden. Die Obodriten gliederten sich in vier Teilstämme, die Wagrier in Ostholstein, die Polaben zwischen Trave und Elbe, die Warnower an der Warnow und die Obodriten, die auch dem Stamm insgesamt ihren Namen gaben, zwischen Wismarer Bucht und Schweriner Seen. Hier schloss sich östlich der möglicherweise bereits früher eingewanderte Stammesverband der Wilzen an, zu dem ebenfalls vier Teilstämme, nämlich Kessiner, Zirzipanen, Tollenser und Redarier, gehörten. Auf Rügen lebten die Ranen, die in der Tempelburg Arkona mit dem Swantewit-Heiligtum ihr politisches und religiöses Zentrum besaßen. Südlich hiervon siedelten an Uecker und Müritz Ukranen und Müritzer. Östlich der Oder finden wir schließlich die Pomoranen, neben denen sich die Wolliner im Odermündungsgebiet und südlich davon die Pyritzer heraushoben (siehe Karte Umschlaginnenseite).
Die zum Teil heftig verfeindeten Stammesverbände standen nicht nur in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, sondern waren auch den Machtansprüchen des Fränkischen bzw. ostfränkisch-deutschen Reiches und seiner Herrschaftsträger sowie der Expansion Dänemarks und des piastischen Polen unterworfen. Dies ermöglichte vielfältige politische Allianzen, barg aber auch die Gefahr, zwischen inneren und äußeren Feinden zerrieben zu werden. Dabei scheuten weder christliche Herrscher vor «unheiligen» Allianzen mit slawischen «Heiden» gegen christliche Staaten zurück noch slawische Stämme vor Bündnissen mit deutschen und dänischen Königen gegen ihre slawischen Nachbarn oder innerstämmischen Widersacher.
Das 8. und 9. Jahrhundert waren von der Expansion des Frankenreiches und später der Ottonen in das Territorium der Obodriten und Wilzen geprägt. In der Folgezeit kamen die dänische Eroberung der südlichen Ostseeküste und die Einverleibung Pommerns durch Polen hinzu. Die Versuche der ottonischen Herrschaftsausdehnung richteten sich insbesondere gegen die slawischen Gebiete östlich der Elbe. Hier sollten die von König Otto I. eingesetzten Markgrafen neue Territorien erobern und die Slawen christianisieren. Entsprechend gründete Otto 948 die Bistümer Brandenburg und Havelberg, und 968 folgte für die Obodritenmission Oldenburg in Holstein.
Bereits im 8. Jahrhundert nahm der Handel im Ostseeraum mit der Entstehung multiethnischer Handelsplätze einen neuen Aufschwung. Zu den prosperierenden Handelsplätzen gehörten das von den Wikingern beherrschte Haithabu an der Schlei, der Schnittstelle zwischen Nord- und Ostseehandel, Reric an der Wismarer Bucht, Wollin an der Odermündung, Truso im Weichseldelta, aber auch Birka im Mälarsee und Staraja Ladoga bzw. Nowgorod in Russland, die das Scharnier vom Ostsee- zum Schwarzmeerhandel darstellten. Daneben existierte eine Vielzahl von kleineren, oft nur vorübergehend aktiven Handelsplätzen, die wie Menzlin an der Peene oder Ralswiek auf Rügen archäologisch nachgewiesen werden können. So dokumentieren die Bestattungssitten in Form von Schiffssetzungen im Falle Menzlins die Anwesenheit von Skandinaviern neben der einheimischen slawischen Bevölkerung und damit die Multiethnizität selbst kleinerer Handelsplätze.
Auf die Bedeutung Ralswieks lassen die über 800 Grabhügel und die hier gefundenen Segelschiffe schließen. Andere Handelsplätze werden darüber hinaus in der Chronistik erwähnt. So erfahren wir über Reric, das wahrscheinlich bei Groß Strömkendorf in der Wismarer Bucht zu lokalisieren ist, dass im ersten Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts (808) der Dänenkönig Göttrik (Godofried) die ansässigen Kaufleute von dort nach Haithabu umsiedelte. Adam von Bremen bezeichnet Wollin als die «größte aller Städte» Europas und hebt die Anwesenheit von Slawen, Sachsen, Griechen, Barbaren und Angehörigen anderer Stämme hervor. Hausbau, Begräbnissitten und Fundobjekte verweisen ebenfalls auf skandinavische und friesische Händler. Wollin scheint so attraktiv gewesen zu sein, dass sowohl der polnische Staat als auch der dänische König unter dem Vorwand der Piratenbekämpfung versuchten, sich dieses Emporium einzuverleiben.
Der Übergang zwischen Handel und Piraterie war fließend, zumal Menschen das wertvollste Handelsobjekt darstellten. So raubten vermutlich slawische Händler-Piraten den auf Hiddensee und in Peenemünde gefundenen Goldschmuck, den Goldschmiede während des 10. Jahrhunderts in Skandinavien hergestellt hatten. Reguläre Handelsgüter waren dagegen Getreide, Pferde, Honig, Wachs sowie Pelze. Aus dem Westen stammten Mühlsteine, aus Skandinavien Speckstein bzw. Specksteingefäße. Auch Salz wurde gewonnen und gehandelt. Hinzu kam die lokale und regionale gewerbliche Produktion, wie z.B. die Kammherstellung.
Zur politischen Organisation liegen nur vereinzelt Quellen vor. An der Spitze der Stämme werden Könige, Fürsten oder Häuptlinge erwähnt, wobei Könige beispielsweise bei den Obodriten den Stammesverband leiteten. Erbliche Fürsten entstammten zumeist einer Adelsschicht, die mit Gefolgschaften auf Burgen saß und von den Abgaben und Diensten der umliegenden Dörfer lebte. In manchen Stämmen, wie bei den Wilzen, war die Volksversammlung ein wichtiges Gremium. Bei ihren Nachfolgern, dem von Redariern, Tollensern, Kessinern und Zirzipanen getragenen Lutizenbund, wurde die Herrschaft in der Volksversammlung von einer Adels- und Priesterschicht ausgeübt. Hierbei lagen die militärisch-politische Führung und die sakrale Funktion in einer Hand. Das Zentrum des Bundes und auch jener Versammlungen war die Tempelburg Rethra, das Heiligtum des Hauptgottes Swarožić.
Entsprechend ging auch der Slawenaufstand von 983 von den Lutizen aus, die die politischen und kirchlichen Repräsentanten des Reiches verjagten und die Bischofssitze Havelberg und Brandenburg sowie zahlreiche Kirchen und Klöster zerstörten bzw. plünderten. Der Kaiser und seine Markgrafen waren dagegen machtlos. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts avancierte der Lutizenbund aber zu einem geschätzten Alliierten der ostfränkischen Könige, Heinrich II. und Konrad II., in deren Auseinandersetzungen mit Polen. Dennoch konnten sich die Lutizen der expandierenden pommerschen wie auch der obodritischen Herrschaft im 12. Jahrhundert nicht länger entziehen.
Bei den Obodriten gelang es den Stammesfürsten über einen längeren Zeitraum, ihre Herrschaft in Allianzen mit dem Fränkischen Reich und Dänemark zu behaupten. Seit dem auf der Mecklenburg residierenden Fürsten Nakon (960er-Jahre) ist eine ununterbrochene fürstliche Dynastie überliefert, die den obodritischen Staat auf der Basis von Burgen, Steuern und militärischen Diensten stabilisierte. Gottschalk, der erste christliche Obodritenfürst, gründete um die Mitte des 11. Jahrhunderts auf der Mecklenburg einen Bischofssitz und ließ auch in anderen Burganlagen Klöster und Kirchen errichten. Dieser Prozess der Herrschaftsintensivierung und Christianisierung wurde aber von der Aristokratie, die noch immer paganen Kulten anhing, im Bündnis mit den Lutizen zerstört. Erst Gottschalks Sohn und Nachfolger Heinrich gelangte um 1090 aus dem dänischen Exil heraus wieder an die Macht und schuf sich mit Alt-Lübeck eine verkehrsgünstig gelegene Residenz im Westen seines Herrschaftsgebietes, der er durch die Prägung von Münzen auch nach außen hin Prestige zu verleihen suchte.
Die zentrifugalen Kräfte, insbesondere der Widerstand gegen Zentralisierung und Christianisierung, verhinderten aber weiterhin eine staatliche Konsolidierung, sodass der Obodritenstaat im 13. Jahrhundert die Oberherrschaft des Reiches anerkennen musste. Gleichzeitig veränderte sich die politische Großwetterlage, als der sächsische Herzog und spätere König Lothar von Supplinburg verschiedene slawische Herrschaftsgebiete zwischen Elbe und Oder in seinen Machtbereich einzugliedern begann. Hierzu übertrug er u.a. die Grafschaft Holstein-Stormarn an Adolf I. von Schauenburg und in der Folgezeit auch das Gebiet der späteren Mark Brandenburg an den Askanier Albrecht den Bären. Entsprechend griff Adolf I. 1127 in den Nachfolgestreit der Söhne Heinrichs, Knud und Sventipolk, ein. Der Schauenburger hatte aber ohne Rücksicht auf die königlichen Interessen interveniert, sodass Lothar 1129 den Dänen Knud Laward mit dem Obodritenreich belehnte. Ihm folgten schon kurze Zeit später nach seiner Ermordung die Fürsten Pribislaw und Niklot, die von Kaiser Lothar abhängig waren. Im Bündnis mit Graf Adolf II. von Holstein gelang es Niklot,...