Selbstliebe? Das ist doch wie Selbstbefriedigung!
So ist es! Selbstliebe hat wirklich mit Selbstbefriedigung zu tun. Mit der Befriedigung und der Befriedung des Selbst. Natürlich verknüpfen wir das Wort Selbstbefriedigung sofort mit Sexualität. Mit Masturbation. Und das war in meiner Jugend etwas sehr Schlimmes. Eine Sünde. Bei dieser an sich angenehmen Tätigkeit sollte das Gehirn schrumpfen, das Rückenmark auslaufen und die Hände abfaulen. So die gängige Erziehungspraxis. Ich hoffe, verehrte Leserinnen und Leser, Sie haben es unversehrt überstanden.
Der Titel ist ein alter Kalauer. Selbstliebe, das heißt doch, dass man irgendwie an sich selbst rumspielt. Das ist ein schöner Gedanke: die Übungen zur Selbstliebe als wunderbares Spiel zu begreifen. Als Spiel mit und an sich selbst. Denn Spiele sind immer ernsthaft. Beobachten Sie mal Kinder beim Spielen. Sie sind mit höchster Konzentration bei der Sache.
Meine Mutter hat sich bei dem Wort »Befriedigung« geschüttelt vor Ekel. Selbstbefriedigung war etwas ganz und gar Sündiges. Und alles, was mit Selbstliebe zu tun hatte, sich selbst mögen, gut für sich sorgen, sich durchsetzen, verteidigen, das hat sie wütend gemacht. Sie hat es als Unrecht empfunden. Meine Mutter war eine intelligente, lebenslustige Frau. Sie hat Sprachen studiert, sprach mehrere fließend, war attraktiv, temperamentvoll und auch kurzfristig als Konzertsängerin unterwegs. Sie hat in meinem Vater einen 15 Jahre älteren, erfolgreichen Juristen geheiratet. Beide hielten sich in den Kreisen der oberen Einhundert der kleinen katholischen Stadt auf, in der ich geboren wurde, als einziges Kind dieser Verbindung.
Hört sich ganz gut an, oder? Aber in meiner Mutter lebten zwei Persönlichkeiten: Mrs. Jekyll und Mrs. Hyde. Mrs. Hyde war eine prügelnde, unkontrollierte Alkoholikerin, die das Kind hasste, immer wieder aufs Brutalste zuschlug und dem jungen Mädchen systematisch Steine in den Lebensweg zu legen versuchte. Meine Mutter starb im Alter von 65 Jahren an ihrer Alkoholkrankheit. Einer ihrer letzten Sätze war: »Ich habe mein Leben verpfuscht.«
Ich war ein unglückliches Kind. Das aber seine Trauer, seinen Schmerz nicht zeigen durfte. Ich beschäftigte mich schon früh allein. Um mir Trost zu spenden und um der Einsamkeit zu entgehen. So hat sich wohl meine Fantasie entwickelt. Und mein Humor. In meinem Buch »Erfolg lacht! Humor als Erfolgsstrategie« beschreibe ich, dass Humor die Fähigkeit besitzt, Leben zu retten. Bei mir tut er das bis heute.
Lesen konnte ich schon vor der Einschulung. Ich las wie besessen. Von »Hanni und Nanni« über die griechischen und deutschen Heldensagen bis hin zu Sartre und Dostojewski. Ich bin natürlich auch heute noch eine Leseratte. Als ich schreiben lernte, war ich unsagbar glücklich: Ich hatte ein Medium gefunden, um meine Erlebnisse zu verarbeiten, Gedichte, Erzählungen, Märchen, Fantasy. Das Schreiben war neben dem Humor mein zweiter Rettungsanker.
Zurück zu meiner Mutter. Ich weiß auch heute nicht, was ihr widerfahren ist. Warum sie so wurde. Denn niemand kommt böse auf die Welt. Eins aber weiß ich genau: Meine Mutter war acht Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Sie erlebte ihn und den Antisemitismus, die Repressalien bis hin zum Mord an den Juden, den Sozialdemokraten, Kommunisten, Homosexuellen, Roma und allen anderen, die in den Konzentrationslagern gequält oder getötet wurden.
Meine Großeltern zeichneten sich nicht durch Wagemut aus. Sie waren Lehrer. Meine Großmutter musste natürlich als Ehefrau ihren Beruf aufgeben und versorgte auch mich als Baby, weil meine Mutter dazu nicht in der Lage war, mit viel Liebe und Geborgenheit. Leider starb sie früh, aber sie hat mir noch so viel emotionale Stabilität geschenkt, dass ich das psychische Inferno zu Hause überleben konnte. Mein Großvater war Kaiser-Wilhelm-Fan bis zu seinem Tod und als Beamter Mitglied der NSDAP. Ungewollt, aber der Not gehorchend. Er hätte sonst seine Familie nicht ernähren können. Zu Widerständlern taugten sie, wie so viele, nicht. Meine Großeltern sprachen nie über das »Dritte Reich« und den Krieg, ebenso wenig wie mein Vater, die ganze Familie und meine Mutter eben auch nicht. (Mein Geschichtsunterricht an einem humanistischen Gymnasium endete bezeichnenderweise mit der Weimarer Republik und der »Dolchstoßlegende«.)
Meine Mutter erlebte den Krieg mit 14, und als er vorbei war, war sie 20. Ihre Jugend hatte sie ebenfalls in einem Inferno erlebt. Was mag ihr widerfahren sein? Gewalt und Tod hatte sie erleben müssen und vielleicht auch Vergewaltigung. Sie hatte ihr Leben lang entsetzliche Angst vor Russen, das erinnere ich. 1945 lag das Land in Trümmern, viele verhungerten, die Schuld, das Schweigen und das Entsetzen waren groß. Meine Mutter lebte in ständiger Todesangst, vor absolut allem. Die sie mir vererbte. Erst später sollte ich erfahren, woher dieses Gefühl kam.
Meine Generation besteht aus den Kindern der Kriegskinder. Deren Eltern, die Großeltern-Generation, überlebten den Ersten Weltkrieg. Wie sollten solch traumatisierte Menschen Selbstliebe erlernen? Zumal Selbstliebe für Frauen geradezu als pflichtvergessen, egoistisch und amoralisch galt. Für die Männer galt natürlich das Gleiche. Der Tod für Kaiser und Vaterland bzw. Führer und Vaterland, das war die Pflicht des Mannes. Mein Vater überlebte übrigens zwei Weltkriege. Er muss Unvorstellbares gesehen und getan haben. Er wallfahrtete jedes Jahr einmal, um eine Schuld, über die er nie sprach, zu büßen.
Wird man durch Gewalt und Krieg ein liebevoller Mensch? Wie sollten solch traumatisierte Menschen lieben? Meine Eltern waren ja nur ein Paar von vielen, meine Mutter eine von vielen nicht liebesfähigen Müttern.
Wenn Sie sich vorstellen, wie viele Kriege und Gewalt, welcher Art auch immer, allein in Ihrer eigenen Familie erlebt und erlitten wurden, wenn Sie sich vorstellen, wie viel Elend in Europa, in der Welt bis zum heutigen Tag durch Kriege, durch ökonomische Ungerechtigkeiten, durch Not auf der ganzen Welt geschieht, dann ist es kein Wunder, dass die Welt so ist, wie sie ist. Und dass der Mensch schlecht lieben kann. Weder sich noch andere. (Alle, die sich zu Unrecht angesprochen fühlen, bitte ich hier um Entschuldigung.)
Ich erinnere mich an einen Satz meiner Mutter, den sie oft zu mir gesagt hat: »Du hast keine Existenzberechtigung.« Ich bin sicher, sie hat sich selbst gemeint. Zu leben, Freude und Liebe zu empfinden, Mitgefühl und Fürsorge, das hat diese Generation nie erlebt und nie lernen dürfen. Können wir es also lernen?
»Das kann dann doch gar nicht gelingen«, denken Sie vielleicht, »wenn die Unfähigkeit zur Liebe über Generationen weitergegeben wird.« Aber, das, liebe Leserinnen und Leser, wäre fatal. Für Sie ganz persönlich. Für Ihr Glück. Und für die Welt. Für deren Glück. Wir brauchen dringend Frieden und Liebe.
Halten Sie mich nicht für naiv. Auch ich habe früher auf Menschen, die von Liebe und Frieden sprachen, mit Arroganz und Zynismus reagiert. Heute weiß ich es besser. Ich habe den Mut entwickelt, mich in einer Welt, die von physischer und psychischer Gewalt, von Menschenfeindlichkeit als System regiert wird, für das Prinzip der Liebe, der Fürsorge und der Menschlichkeit und Sensibilität, einzusetzen«. Mehr noch für Spiritualität.
Wir brauchen diesen Mut. Überall auf der Welt. Es reicht nicht, auf die nächsten Mandelas, Gandhis, Kings, Dalai Lamas, Hildegard von Bingens, Mutter Teresas usw. zu warten. Wir müssen viele werden. Um eine liebevollere, menschenwürdigere Welt zu erschaffen. Eine Welt, die glücklich macht. Eine Welt, der wir einen Sinn geben. Eine Welt, in der möglichst viele Menschen ein erfülltes Leben leben dürfen. Eine Welt voll Selbstliebe. Eine Welt voller Mitgefühl, Fürsorge, Handeln, Freude und Vergnügen.
Je mehr von uns den Mut für eine menschliche Welt aufbringen, umso besser und schneller wird es geschehen. Denn ich glaube nicht daran, dass der Mensch per se egoistisch, böse und ohne Mitgefühl ist. Ich glaube, dass der Mensch, wenn er für Egoismus, Gier, Konkurrenz, Machtstreben und Dominanzverhalten belohnt wird, eben auch solche Eigenschaften entwickelt. Erinnern Sie sich an die Bankenkrise. Die Banker haben gelernt, dass sie zocken dürfen ohne Sinn und Verstand und dabei ganze Staaten vernichten können. Wenn sie sich verspekulieren, werden sie trotzdem gerettet. Also belohnt. Erziehen Sie so mal Ihr Kind. Dann möchte ich ihm bitte nie begegnen. Raten Sie übrigens mal, wie die Banken jetzt Ihre Geschäfte führen.
Also! Beginnen Sie damit, sich selbst zu lieben! Ja, das hat mit einem Haltungswechsel zu tun und mit Disziplin. Und vor allem mit Handeln. Ihr Leben hängt davon ab! Aber lauschen wir zuerst den Worten des Dalai Lama:
»Ich denke oft an meine eigene Erfahrung, die ich mit meiner Mutter gemacht habe. Sie war nicht besonders gebildet und lebte auf dem Land als Bäuerin, aber sie war außerordentlich warmherzig. Wenn sie zu Beispiel einen Bettler sah, so gab sie fast alles weg, was sie in der Küche fand. Ich habe sie eigentlich niemals wütend gesehen und bin davon überzeugt, dass ich vieles von meinem geistigen Potenzial in meinem Leben durch diese Zuneigung, die Nähe und Liebe meiner Mutter ausbilden konnte. Abgesehen von der Erziehung und Ausbildung, die ich erhalten habe, die natürlich auch mit dazu beigetragen haben, war diese Erfahrung mit meiner Mutter der wohl wichtigste Faktor für meine gesunde geistige Entwicklung.
Und deshalb bitte ich die Menschen auch immer wieder, ihren Kindern die maximale Zuneigung zu geben. Ob sie später in ihrem Leben in der Lage sind, Zuneigung zu empfinden und zu geben, hängt...