Marianne, deine Augen sind der Spiegel deiner lichten, alten Seele, die du unwissentlich zum Ausdruck bringst. Du malst, schreibst mit deinen zwölf Jahren schon Geschichten und Gedichte, weinst oft vor Freude. Du bist voller Mitgefühl für deine Mitmenschen, liebst Tiere und Pflanzen, das kommt vom Gärtner-Großvater. Auf deinem Schulweg sollst du gestern samt Schulranzen im Regen getanzt haben, so hat mir ein Ministrant berichtet. Du nährst deine Seele instinktiv, das ist ein Geschenk des Himmels, weißt du das? Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, dass sie sich aus einer dreiteiligen Einheit zusammensetzen, Körper, Seele und ihr Geist, der alles zusammenhält.
Die Bedürfnisse dieser Menschenkinder bleiben tief in der körperlichen Welt verhaftet. Auf der Jagd nach Geld und Macht werden sie oft krank an Leib und Seele. Unsere kirchliche Seelsorge findet hier schon seit Zeiten keinen Nährboden mehr. Wie gefühlvoll und überzeugend du heute zur Messe wieder aus dem Korinther-Brief von unserem Apostel Paulus gelesen hast! Die Leute waren ja wieder ganz berührt, wie jeden Sonntag. Viele von ihnen glauben nicht mehr recht an Gott, aber der sonntägliche Kirchgang ist, zwölf Jahre nach Kriegsende, für unsere Landbewohner immer noch ein Muss. Sehen und gesehen werden, da passen unsere Moralapostel schon aufeinander auf wie Haftelmacher. So, unser Altar wär mal wieder stubenrein gemacht«, beendet mein verehrter Religionslehrer und unser amtierender Gemeindepfarrer jetzt seinen Monolog, den er nach erfüllter Kirchenzeremonie, während der Verstauung seines Messweins, wofür er sich ordentlich Zeit genommen hat, für mich gehalten hat.
Wenn der wüsste, von wegen Regentanz, habe ich währenddessen in mich hinein gedacht. Als er nach einiger Zeit aus der offenen Sakristei-Türe wieder zu mir in den Kirchenraum heraustritt, bittet noch der wunderschöne Kelch, samt geweihtem, nicht ausgegebenem Hostienbestand der beichtmüden Kirchengemeinde-Mitglieder um respektvolle Aufräumung.
Herr Hochwürden hat seiner Brokat-Soutane samt golddurchwirktem Gewande keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt. Sein hungriger Magen ist schon während seiner leidenschaftlichen Predigt zum Knurrhahn mutiert. Nun drängt es ihn an den gedeckten Mittagstisch, wo schon ein Sonntagsbraten auf ihn wartet.
Heute jedoch macht die junge Marianne keine Anstalten, das Kirchenschiff in Richtung Heimat zu verlassen.
Das sieht so gar nicht nach lebensfrohem Tanzen im Regen aus, denkt sich Herr Hochwürden im Stillen. Die traurigen Augen seiner wachen Schülerin sind ihm heute nicht entgangen.
Auch alte Seelen weinen, Herr Pfarrer, geht es Marianne durch den Sinn.
Noch vor der Kirchenfeier hatte sie ihm eine Einladung zu ihrer Geburtstagsfeier zugesteckt, die zum 13. Lebensjahr mit einem Surinam-Gartenfest, samt Abschiedszeremonie von der Hauptschule, zelebriert werden sollte.
»Ist doch schon vorbestimmt, dass ich dir, meiner ehemaligen Schülerin und weiteren Messdienerin, zu deinem geplanten bayerisch-surinamischen Happening, wie du es immer nennst, im Kreise deiner Familie inmitten von Freunden, Mitschülern, Nachbarn und Zaungästen meine Aufwartung machen werde. Deinen verehrten Herrn Hauptlehrer habe ich dann auch im Schlepptau, ebenso die feinen Mohnnudeln aus Kartoffelteig, die dir immer so munden, wenn du bei uns bist. Sie werden deine Geburtstagstafel beglücken, und mein feines mitgebrachtes Weinderl aus Maxens Schatzkiste wird die verwöhnten Gaumen der Erwachsenen streicheln«, ließ er schon einmal eine Katze aus dem Sack.
»Bin ja nur gespannt, ob dein Stiefvater Alois kommt, nachdem wir ihn, was deinen angehenden Schulwechsel auf die Realschule betrifft, zusammen mit dem Jugendamt vor vollendete Tatsachen gestellt haben. Das war aufregend, sag ich dir. ›Entweder die Realschule für die Marianne und ihre ordentliche Kriegswaisenrente bleibt im Familientopf, oder das Mädchen kommt in ein Internat, wo sie ihre Mittlere Reife in Ruhe erreichen kann, und die Rente ist für die Familie weg‹, stellten dein Oberlehrer und ich deinem Stiefvater, der ja gar keine Erziehungsberechtigung hat, wie wir feststellen mussten, vor zwei Monaten das Ultimatum, weißt du noch?«
»Ja«, sage ich, »unser selbsternannter Familien-Pate hat vermeintlich klein beigegeben. ›Du darfst die Schule besuchen‹, erklärte er mir, ›aber deine Hausaufgaben dürfen nicht in meinem Hause – man höre und staune, er sagte in meinem Hause – gemacht werden. Schulbücher hätte ich auch gerne gehabt, aber der Krieg hat unser aller Bücher und Seelen aufgefressen. Sag deinen neuen Büchern, sie sollen mir ja nicht unter die Augen kommen‹, drohte er mir, Herr Pfarrer. ›Dann parke ich halt meinen Lesestoff bei meiner Nachbarin Maria, bei der ich auch mein Fest feiern darf‹, konterte ich da noch frech, denn nach eurem Besuch war der Alois doch etwas kleinlaut geworden. Ich hatte aber nur für kurze Zeit Oberwasser«, wusste ich aufgeregt, etwas lauter, Richtung Sakristei zu berichten und klatschte, einem plötzlichen Impuls folgend, in die Hände.
Erschrocken erschien Herrn Pfarrers Antlitz im geschnitzten Türrahmen, tauchte aber mit einem »Ich höre ja, bin gleich wieder bei dir« sofort wieder ab.
Das dauert wohl noch ein Gläschen, dachte ich mir im Stillen. Jedenfalls würde ich ab September die Realschule besuchen, eine Mädchenklasse; mein größter Wunsch würde wahr werden, nachdem der angepeilte Einzug aufs Gymnasium per Veto meines Ersatzvaters nicht angegangen werden konnte.
Da hatten meine beiden vom Himmel gesandten Lehrkräfte die Sache in die Hand genommen, und jetzt hatte er gekuscht. Sitz! Platz! Du bist nicht mein Fleisch und Blut, du darfst mich nicht zu meiner Kommunion begleiten, die Seele meines gefallenen Vaters Georg wird neben meiner Mutter an meiner Seite sein.
Er blieb meiner Initiierung fern.
Seit einem Jahr hatten sich die Wolken über unserem Familienverhältnis verdüstert. Das war wohl damals sehr hart für ihn, aber durch das Auftauchen dieses Mannes in unserem Dreifrauen-Familienbund war auch das Schicksal sehr hart zu mir. Bis zum sechsten Lebensjahr war ich als erstgeborene Tochter auch die beste Freundin und Beschützerin meiner Mutter gewesen, in Vertretung meines gefallenen Vaters Georg, bis sich dieser fremde Mann in unseren Familienbund und in Mutters Doppelbett drängte. Diesen meinen angestammten Platz musste ich jetzt gegen eine alte nierenförmige Couch eintauschen, die schon aus den letzten Springfedern pfiff. Die kleine Schwester Renate durfte mit ihren vier Jahren unbedarft im Kinderbettchen des ehelichen Schlafzimmers nächtigen.
Ich weinte in der ersten Zeit still in mein Kissen, tobte mich beim Schulsport aus, wanderte nach Schulschluss durch Wälder und Felder, Mutter kam erst am späten Nachmittag von ihrer Arbeit als Leiterin einer Krankenhausnähstube nach Hause. Viele Wochenenden durfte ich nach Absprache mit ihr und meinem Stiefvater, »Ein Esser weniger«, so seine Worte, bei unserer Nachbarin Maria und ihrem Mann Hans verbringen, herzliche Menschen, deren beide Kinder ihr Leben auf der Flucht aus dem Sudetenland lassen mussten. 1946 wurden sie als Flüchtlinge im Nachbarhaus eingewiesen, im Jahre 1953 kam unsere zusammengeschusterte Familie dazu, so betitelt von einer anderen Nachbarin, »Frau Immeraufstreitaus«, wie ich diese Zeitgenossin taufte, und so war für mich einer zweiten Elternschaft, mit liebevollster Absegnung meiner Mutter Agnes, Tür und Tor geöffnet worden.
Die Sommerferien verbrachte ich jedes Jahr im Gärtnerei-Refugium der Familie meines Großvaters Franz-Xaver, in dessen Schutzzone ich mit Mutter Agnes meine ersten drei Kindheitsjahre verbringen durfte und danach seelisch gestärkt und sehr selbstsicher die ganze Welt umarmen wollte. Vier Jahre versuchte Agnes, mit zwei Kindern alleine zu überleben, wegen der zweiten Schwangerschaft musste sie die Großfamilie mit mir verlassen. Sie hatte sich geweigert, das kommende Wesen zur Adoption freizugeben. Bei meinen Abschiedsküssen ahnte ich lachendes Geschöpf noch gar nichts von der schweren Zeit, die auf meine Mutter zukommen sollte. Ihre Ehe mit dem Stiefvater war anfangs von Mutters Liebe durchdrungen, sicherte ihr auch, nach schweren Zeiten als Alleinerziehende, eine existenzielle Lebensgrundlage, scheiterte aber nach Jahren an einer seelischen Erkrankung dieses Mannes, die durch schwere Kriegstraumata ausgelöst worden war. Hätte ich ihm nur die Patenschaft zur ersten Kommunion an meiner Seite angeboten, so wie es mir mein Oberlehrer und der Herr Pfarrer nach einer persönlichen Information über das Konzentrationslager, in dem er selbst als katholischer Pfarrer und mein Stiefvater als Halbjude gelandet waren, vorgeschlagen hatten, wäre vieles leichter gewesen. Aber vielleicht auch nicht.
Jedenfalls werde ich meinem Stiefvater in nächster Zeit mit viel Respekt und Nachsicht begegnen, geht es mir während des Wartens auf Herrn Hochwürden durch mein stures, pubertäres Köpfchen. Jetzt spüre auch ich den Hunger an meinen Magenwänden kratzen.
Mein eigener Aufschrei reißt mich aus tiefen Gedanken. Die kalte Hand meines Mentors hat sich auf meine Schulter gelegt, um auf einen schnellen Aufbruch aufmerksam zu machen. »Auf geht’s, Marianne, ich muss heim, wir seh’n uns ja zum nächsten Sonntag wieder, dann folgt ja schon dein Geburtstag. Auf, auf!«, drängelt er jetzt.
Aber jetzt bin ich dran, nach all dem Warten. »Ich bin so froh, dass ich trotz neuer Schule im Familienrund verbleiben kann, samt Waisenrente, die der Haushaltstopf der Familie gut gebrauchen kann. Wissen Sie, Herr Pfarrer, diese Rente hat sich aus dem unseligen Sterben eines...