2. Kapitel: Erstarrte Muttergefühle
Eine liebevolle Mutter liest ihren Kindern vor, erzählt ihnen Märchen, singt und spielt mit ihnen und tauscht sich mit anderen Müttern aus. Ich kann mich nicht erinnern, jemals mit Johannes gesungen oder gespielt zu haben. Obwohl es mein großer Wunsch war, Märchenerzählerin zu werden, las ich ihm keine Märchen vor. Es war eher ein schweigendes Einverständnis zwischen uns. Ich ging mit Johannes spazieren, nahm ihn an den Händen und führte ihn vor mir her, wir waren intuitiv miteinander verbunden. Johannes war eher auf sich selber angewiesen. Während er für sich spielte, las ich in Büchern nach, was ein Kind braucht und was eine Mutter mit ihrem Kind macht. Eigentlich fehlte das Muttergefühl in mir von Anfang an. Ich war mehr in meinen eigenen Welten. Johannes lernte selber Stiegen steigen, versuchte Schlüssel in Schlüssellöcher zu stecken, er versuchte sich im Alleingang mit der Umwelt zu verbinden und sie zu entdecken. Eine dunkle dämonische Kraft hatte die Blumenwiese, die anfangs zwischen Johannes und mir wuchs, langsam, schleichend zerstört. Aus Verbundenheit wurde Bedrängtwerden und Angst, dass die dunklen Kräfte aus meiner Seele auf die Kinder, vor allem auf Johannes übergriffen. Es war für mich grauenhaft zu spüren, dass der verzweifelte Versuch, meine Aufgabe als Mutter zu erfüllen, immer wieder und immer öfter zerbrach durch Attacken von Gewalt, denen ich immer stärker ausgeliefert war.
Ich kann mich an einen Wutanfall erinnern, in dem ich realisierte, dass ich den ganzen Tag alleine für Johannes da war. Ich nahm die Stühle, die um unseren Esstisch herum standen und schleuderte sie mit voller Gewalt zu Boden. Es war wie eine Ersatzhandlung, um meinen Zorn auf das Leben, das mir ein Kind beschert hatte, zu entladen. Johannes war im selben Raum. Er sah alles und ahmte mich nach, indem er ein Blatt Papier nahm und dieses auf den Boden warf. Meine Vorbildfunktion war destruktiv. Johannes lernte von mir nichts, was er im Leben hätte brauchen können.
Der Tsunami, diese immer größer werdende dunkle Welle, veränderte das wortlose Miteinander der ersten Zeit in Fremdheit. Mein Dasein bestand für mich immer mehr in der Angst, von der dunklen Kraft verschluckt zu werden und dem Bewusstsein, dass die Kinder mir den Platz wegnahmen, den ich eigentlich für mich brauchte. Niemand war da, der diese Negativspirale durchbrechen konnte und sich zwischen die dunkle Kraft und mich stellte.Vor allem bei den Kontrollterminen beim Kinderarzt wurde sehr deutlich, dass ich mit Johannes weder sprach noch spielte. Musste er kleine Tätigkeiten machen, die seinem Alter entsprechend waren, war er dazu nicht fähig. Dann fiel es mir jedes Mal wie Schuppen von den Augen. Ich war Mutter und es wäre meine Aufgabe gewesen, Johannes zu fördern, Kinderbücher mit ihm zu lesen, mit ihm zu spielen und den Tag auf gesunde Weise zu gestalten. Während die Kinderärztin Johannes auf die Fähigkeiten seines Alters testete, erschrak ich und mir wurde bewusst, dass dort, wo eine Mutter-Kind-Beziehung sein sollte, Leere war, dass die Dämonen meine Seele im Griff hatten und ich mich von der Negativspirale der Einsamkeit, Angst und dem Bedrängt-sein als Mutter immer mehr in einen ungesunden, lebensfeindlichen Bereich hinunter ziehen ließ. Ich war diesem Teufelskreis immer mehr ausgeliefert. Sie umgab mich wie eine dunkle Seifenblase. Mir wurde dies aber erst dann bewusst, wenn ich unter Menschen war und beobachtete, wie andere Mütter mit ihren Kindern umgingen.
War Thomas am Abend oder an den Wochenenden zu Hause, so bildete er in diesen Momenten ein Gegengewicht. Ich war in diesen Augenblicken froh, dass jemand um mich herum war, auch wenn ich gar nicht mit Thomas über die Dämonen, die das Leben für mich und die Kinder zur Hölle werden ließen, sprechen konnte. Hier muss ich betonen, dass Thomas sich immer schon Kinder gewünscht hatte. Ich kann mich noch an einen Abend erinnern, als ich versuchte, diese riesige Last der Dunkelheit und die Gewalt die dadurch auf die Kinder überging, Thomas zu erzählen und unter Tränen gestand. Er konnte dies gar nicht glauben. Wenn ich nachts wach lag und mir bewusst wurde, was ich den Kindern zufügte, dann lag diese grauenhafte Last auf mir und erstickte mich beinahe. Die Tatsache, dass ich Mutter war, für die Kinder aber nicht in positiver Weise da sein konnte, bedrückte mich, als hätte eine Lawine mich mit ihrer Schneelast zugedeckt.
Ich ging mit den Kindern in einsamen Wäldern spazieren und realisierte gar nicht, wie ich mich mehr und mehr vom alltäglichen Leben entfernte, in dem es eigentlich dazu gehörte, dass sich Mütter austauschen und die Kinder miteinander spielen. Ein grauenhafter Albtraum begann mich einzuhüllen. Auf dem Weg in die Wälder ging ich immer über eine Brücke. Unter dieser Brücke war eine Autobahn und die Gleise des Bahnhofs von Muttenz. Wenn ich mit Johannes über die Brücke ging und Katharina im Kinderwagen schob, bedrängten mich die düsteren Stimmen immer wieder, doch die Kinder über die Brücke auf die Autobahn zu werfen, um sie los zu werden und endlich mein eigenes Leben für mich leben zu können. Dies geschah jeden Tag. Ich musste mich extrem gegen den Sog wehren, der von diesen Befehlen ausging. Ich krampfte mich zusammen und konzentrierte mich auf jeden Schritt, den ich machte. Ich hielt ein unsichtbares Schild den Dämonen entgegen, aber sie drangen wie kalter Rauch in jede Zelle meines Körpers. Im Wald hatte ich das Gefühl, dass die dunklen Geister mich schon erwarteten. Ich versuchte mich zu schützen, indem ich positive Gedanken in mir wach werden ließ. Aber dann versiegte dieser positive Strom der Gedanken doch und die Dämonen ergriffen mich mit ihren Klauen und drängten mich, mit einem Stock auf Johannes einzuschlagen, der schützend seine Arme hob und weinend rief „Mami nit schlo – Johannes weh”. Als ich realisierte, dass die dunkle zerstörerische Macht aus mir selber heraus kam, weinte ich verzweifelt und wusste keinen Weg, aus diesem düsteren Kreis auszubrechen.
Zwischendurch gelang es mir, meine Verzweiflung und die dämonischen Attacken in Worte zu formen und ich schrieb „Gedichte an das Licht” oder „Gedichte in der Dunkelheit”. Dieser Balanceakt von heller und dunkler Kraft kippte ohne Vorbereitung und entlud sich wie unsichtbare Lava.
Das Bewusstsein, auf dieser Erde und in der Rolle als Mutter eingesperrt zu sein, war nun jeden Augenblick in meiner Seele als Last, die mir keine ruhige Nacht mehr gönnte. Ich ging zu Bett mit der Angst und dem Grauen vor der dunklen Übermacht, die mich unheilvoll bedrohte. Ich hatte Angst vor dem nächsten Morgen – ich fand keine Erholung mehr im Schlaf.
Es ist für mich ein Rätsel, wie ich es schaffte, meinen Kindern etwas zu kochen, für sie da zu sein. Manchmal schob sich der dunkle Vorhang, der mich vom realen Leben trennte, zurück und ich realisierte, dass es Mittagszeit war. Es gab Augenblicke, da saß ich mit Johannes am Klavier und spielte mit ihm eine Melodie. Auf einmal fing es in mir an zu brodeln, wie in einem Vulkan. Die Nähe meines Sohnes wurde für mich im Bruchteil einer Sekunde zur Bedrängnis und eine dunkle Welle kam über mich und ich stieß meinen Sohn von mir. Mein Mann bekam von diesen dämonischen Attacken gar nichts mit. Ich kann mich aber erinnern, dass Johannes, sobald Thomas nach Hause kam, zu ihm rannte und ihn Schutz suchend umarmte. Thomas fragte mich dann: „Ist irgendetwas geschehen?” In diesen Augenblicken fand ich keine Worte, um das Grauen zu definieren, das sich in mir zuspitzte.
Thomas drängte auf das zweite Kind, aber für mich war schon die Vorstellung zu viel, in dieser schwierigen Situation von zwei Kindern umgeben zu sein. Als ich einmal bei einem Spaziergang im Quartier eine ehemalige Arbeitskollegin antraf und wir auf meine Schwangerschaft zu sprechen kamen, sagte sie mir: ”Du musst Dich schon freuen”. Genau das war für mich der entscheidende Punkt. Von einer Mutter wurde erwartet, dass sie sich über das zweite Kind freute, das unter ihrem Herzen heran wuchs. Für mich war es in dieser Zeit meines Lebens eine unglaubliche Last, als Mutter ein zweites Kind zu erwarten und zu spüren, dass ich dieser Aufgabe niemals gerecht werden würde.
Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, als Katharina – sie wurde im Jahr 2000 geboren – so klein war, dass ich sie in der Nacht in meinem Bett stillte. In einer Nacht warf ich sie gegen die Wand, da mich ihre Anwesenheit dermaßen bedrängt. Meine Sehnsucht nach Befreiung in das Jenseits nahm immer wieder enorme Ausmaße an. So suchte ich Hilfe in den Schriften von Rudolf Steiner, da ich wusste, dass er den Weg beschrieben hatte, den ein Mensch erlebte, wenn er gestorben war. Ich erhoffte mir Ratschläge, Rituale, hilfreiche Bilder, die ich als Schutz in mir tragen konnte. Was ich aber las, war die Beschreibung von Menschen, die durch Selbstmord aus dem Leben getreten waren. So öffneten mir diese Schriften Tür und Tor und der Sog in die jenseitige Welt wurde so groß, dass ich nur noch weinte – aus Verzweiflung, keinen Halt, keinen Boden mehr in dieser Welt zu spüren. Wenn Thomas mit seinen Verwandten telefonierte, konnten diese gar nicht verstehen, warum ich weinte. Ich wollte ins Jenseits, war aber in meinen Körper und in die Aufgabe als Mutter eingesperrt und spürte diesen unglaublichen Sog hinüber. Von einer zweifachen Mutter wurde doch erwartet, dass sie über ihre beiden Kinder glücklich war. Ich hatte das Gefühl, Außenstehende würden meine verzweifelte Lage nicht verstehen und so versuchte ich erst gar nicht, den Austausch zu suchen. Wenn ich Katharina am Tag wickelte, konnte es sein, dass ich mich mit aller Kraft zwang, sie liebevoll einzucremen, doch innerhalb einer Sekunde fühlte ich, wie die dunkle Kraft sich...