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Zen in der Kunst des Singens

Mit den Augen hören, mit den Ohren sehen. Mit einem Vorwort von Bariton Klaus Mertens

AutorBruno V. Nünlist
Verlagdreamis Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl156 Seiten
ISBN9783905473162
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Es geht in dem Buch über den klassisch abendländischen Gesang im Spiegel des japanischen ZEN, aber auch darum, dass 'Investmentbanking einfacher ist als die Ausführung einer musikalischen Pause bei Beethoven'. Und in dem Zusammenhang ist das Buch nicht nur für Musikinteressierte, sondern für alle Leser, die die Entstehung unserer aktuellen Finanz- und Kulturkrise (damit ist die gesellschaftliche Kultur gemeint und nicht die Kunst-Szene!) begreifen möchten! 'Wir können nicht die Welt verbessern, wir können nur uns selbst bessern, aktiv! Caminante, no hay camino, hace el camino al andar. Einen Weg beschreiten; dieser wird zum WEG, indem man ihn geht! Und so gibt es kein Ziel, der WEG wird zum Ziel, aber die Wirkung wird eine andere sein. Einklang!' 'Gute Bücher über Gesang, vor allem jene, die eine GESAMTHEITLICHE SICHT DES SINGENS beschreiben, sind leider noch selten. Und gerade solche Bücher suche und brauche ich für meine Arbeit als Dozentin für Fachdidaktik Gesang an der Hochschule für Musik. Ihre Ausführungen finde ich äusserst interessant!' (Zitat einer Dozentin)

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Leseprobe

Die Grundlage allen Lebens ist der Atem!

Der Nenner aller grossen Kunst heisst ‚Beherrschung des Atems‘!

Nach einer der ersten Unterrichtsstunden mit der Meisterin hatte ich Folgendes resümiert: Beim ‚Belcanto des Wortes‘{3} versucht man, wie der Ausdruck es bereits sagt, durch das Wort zum Gesangston zu finden. Oft wird aber – umgekehrt – der Stimmklang für einen ‚Einheitsvokal‘ gesucht, mit dem nachher, beim Singen ‚gesprochen‘ wird. Was letztendlich besser sei, mag auch dem Geschmack des Schülers überlassen sein. Frau Professor jedoch war überzeugt, dass es falsch sei, einen ‚Vokalausgleich‘ zu suchen, ohne zuvor den Schüler in den Formvorschriften der Vokale unterwiesen zu haben. Denn, wie könne ein Anfänger mit Klangvorstellungen arbeiten, ohne zu wissen, wo der Klang überhaupt hin soll? „Die Stimme soll beim Singen wie beim Sprechen gleich angewandt werden“, betonte die Meisterin immer wieder, „von grundlegender Wichtigkeit aber ist eine ausgezeichnete Atemtechnik.“

Man atme ein! Die Luft wird zuerst nach hinten in die Flanken geatmet, indem sich die Bauchdecke – ungefähr zwei Finger breit unterhalb des Bauchnabels, wo auch die geistige Mitte des Körpers sich befindet – durch eine Bewegung nach innen neigt, um wieder, nachdem die hinteren Lungenflügel gefüllt sind, entspannt nach vorne zu kommen. So füllt man auch den vorderen Teil der Lungen. Es soll darauf geachtet werden, immer bei der Tiefatmung zu bleiben! Gleichzeitig zum Atemvorgang muss der Rachen in ‚Gähnstellung‘ für den folgenden Vokal vorbereitet werden, respektive der weiche Gaumen gehoben werden. Der Mund soll durch den Gedanken an die erste Konsonant-Vokal-Folge vorgeformt werden. Nur so gelingt der Ansatz auf Anhieb sauber. Der ganze Ablauf muss zuvor mit dem ‚geistigen Auge‘ gesehen werden, um auch während des eigentlichen Vorgangs stets kontrolliert zu bleiben. Beim Ausatmen, respektive dem Gesangsvorgang an sich, geschieht wieder dasselbe: Die Bauchdecke neigt sich nach innen, die Luft kann kontrolliert ausströmen. Alles soll gleichzeitig entspannt wie ‚breit‘ gehalten werden, damit die durch die weite des Brustkorbs herbeigeführte Freiheit des Zwerchfells gewährleistet bleibt. Erst allmählich wird auch die Luft aus den Flanken vollständig verbraucht.

Das Ausatmen verbinden wir mit einem gesprochenen „eSSSSSSSS“. Selbstverständlich handelt es sich um den Zischlaut „S“, der sprechenderweise zum „eSSSSSSSS“ wird. Somit haben wir notwendigerweise eine natürliche Verbindung aus Vokal und Konsonant. Das Mass der Dinge ist schon in diesem frühen Stadium der hohe ‚Tonsitz‘. Man soll sich also vorstellen, diese Konsonant-Vokal-Folge sehr hoch zu sprechen, ohne dass damit die eigentliche Tonhöhe gemeint ist, sondern ein imaginärer Punkt oberhalb der Stirn. Damit wird der Schüler gleich zu Anfang in Richtung Mitbeteiligung der Kopfresonanz geführt. Wenn wir zum Beispiel unseren Grossmüttern zugehört hatten, stellten wir fest, dass jene mit viel mehr Kopfresonanz sprachen, als wir dies heute zu tun pflegen. Heute wird ein solches Sprechen jedoch als altmodisch und affektiert abgetan. Für das Erlernen des Gesangs wäre so zu sprechen jedoch ein unüberschätzbarer Vorteil. Eine unbeteiligte oder zumindest wenig beteiligte Kopfresonanz ist beim Singen eine mögliche Ursache eines Intonationsproblems. Für die Tiefe gilt erst recht: Die Obertöne machen eine Stimme tragfähig! Mit dem Ergebnis dieser relativ einfachen Übung ist die Meisterin lange nicht zufrieden. Selbst ein zischendes Ausströmen der Luft will monatelang geübt sein, und so wenden auch wir nicht nur eine Lektion dafür auf.

Sicher werden wir das Geheimnis, welches Atem heisst, im Verlauf des Buches immer tiefer durchdringen. Folglich: „Im selben Augenblick, da die unteren Bereiche des Atmungsorganes (Zwerchfell - Rücken - Flanken - Bauchwand) sich anschicken, den Atem in Bewegung zu setzen, ist auch schon durch einen energisch erfolgten Reflex der Kontakt zwischen Atmungsorgan und Kehle hergestellt. Gleichzeitig hat sich der Kehldeckel aufgerichtet, der Kehlkopf ist durch kraftvolle Muskulaturen zwischen oben - unten - rückwärts eingespannt, und er bewirkt durch sich selbst eine Reihe von Vorgängen, deren wichtigste sind: die Stimmfalten werden gedehnt, sie werden gespannt (kontrahiert), sie werden einander genähert und in Schwingung gebracht.“{4} So klingt das Ganze ein wenig wissenschaftlicher.

Die nächsten Lektionen verbringe ich, immer mit Engelsgeduld meiner Meisterin rechnend, mit Sprachübungen. Frau Professor verteilt ihren Schülern dazu ein Merkblatt. – Nun habe ich dieses Blatt und die Skizze über die Vokalvorschriften zugunsten des Sprachflusses in den Anhang des Buches verbannt. Eine Durchsicht empfehle ich speziell wegen der gezeigten Formvorschriften, die wir in jenem frühen Stadium unserer Ausbildung zu erlernen haben, trotzdem. Natürlich besitzt beim Könner jeder Vokal einzelne Färbungen und kleine Schattierungen, die vom Beschriebenen abweichen, und im italienischen Belcanto wird wiederum der ‚Vokalausgleich‘ als das höchste aller Dinge betrachtet. Hierauf werde ich weiter hinten im Büchlein eingehen, denn eine andere grosse Professorin hat in jener Sache durchaus eine verschiedene Sicht der Dinge.

Den vom Strom des Atems getragenen und durch die Formvorschriften der Vokale in den Resonanzräumen von Kopf und Körper platzierten Stimmklang, den wir bei den Sprachübungen erhalten, will Frau Professor in Zukunft über die ganze Skala der gesungenen Stimme hinweg hören. Wir hätten, ganz einfach ausgedrückt, nicht zwei Stimmen, eine zum Sprechen und eine zum Singen, also müssten wir (wieder) richtig sprechen lernen, und letztendlich sei der Gesang nichts anderes als das Sprechen, Sprech-Gesang, wird sie uns immer und immer wieder einschärfen. Vierzig Jahre lang habe sie sich nicht ein einziges Mal einsingen müssen, weshalb sie stets ein gern gesehener Gast in Hotels gewesen sei, die natürlich damals ungleich viel ringhöriger gewesen sein mussten, als heute. Ein paar Sprachübungen hätten jeweils genügt, und ihre Stimme sei aufgewärmt gewesen.{5} Ausdrücklich betonen möchte ich, dies sei kein allgemein gültiges Rezept für Sänger; bei weitem nicht! So steht es denn stellvertretend für unsere Meisterin als Ausnahmeerscheinung und gleichzeitig als Plädoyer für resonanz- und konsonanzenreiches, gutes Sprechen. Auch Frau Professor hatte ihre Art zu sprechen erst erlernen müssen. Ihr Studium hätte insgesamt 10 Jahre gedauert, erzählt sie uns. Sie habe zudem die meiste Zeit im Haushalt ihres Lehrers verbracht und habe morgens und nachmittags Unterricht gehabt. Selbst wenn sie alleine geübt habe – später schmunzelte die Meisterin darüber – habe sich ihr Meister im Nebenzimmer aufgehalten, um von Zeit zu Zeit mit seiner sonoren Bassstimme ein „dumme Gans – falsch!“ zu rufen. Es sei sogar bei Tisch korrigiert worden, wenn man nicht richtig gesprochen habe. Natürlich fällt mir bei dieser Geschichte sofort der wunderbare Film „Le Maître de Musique“ von 1989 {6} ein, in dem der grosse belgische Bariton José van Dam einen überaus gestrengen Gesangslehrer spielt, dessen Schüler am Ende einen fast unmenschlichen Gesangswettbewerb zu bestehen haben. Wenn man Frau Professors Erzählungen lauscht, sie habe noch im Alter von zwanzig Jahren abends um acht Uhr im Bett sein müssen, ist selbst jener Film nicht mehr allzu übertrieben, was die Strenge einer damaligen Musik- und Gesangsausbildung anbelangt, und schlägt man solches in Biographien einstiger SängerInnen nach, scheint solches eher die Regel als Ausnahme gewesen zu sein. Die junge Sängerin hatte also sozusagen das Glück, ihre technischen Fähigkeiten quasi mit dem Suppenlöffel eingeflösst bekommen zu haben. Den Film gibt es heute auf DVD und sogar im Internet-Portal YouTube zu sehen. Er ist jedem Gesangsinteressierten wärmstens zu empfehlen.

Die Lektion geht weiter: Am Anfang muss die Aussprache der Vokale in ihrer Formvorschrift übertrieben geübt werden; das Wort „übertrieben“ ist denn auch nicht präzise, weil man das Üben nicht so schnell übertreiben kann. Man soll also über(trieben)-deutlich aussprechen, um später innerhalb des Legatobogens der Musik, die zur Sprache hinzukommt, noch verständlich zu bleiben. Der Satz: „Da du dir den Dank durchdacht, den Dido durch den Dolch erduldet“, sieht in „Form“ ausgedrückt also so aus: lang, lang, breit, breit, lang, lang-lang, breit, breit-lang, lang, breit, lang, breit-lang-breit. Dabei komme ich mir ziemlich kindisch vor, weil man das Grimassenschneiden ab einem gewissen Alter tunlichst unterlassen soll..., und als Folge der für mich neuen Flankenatmung, welche man auch beim Sprechen nie vergessen sollte, leide ich unter Rückenschmerzen. Selbstverständlich seien es lediglich Muskelverspannungen der ungeübten Atmungsmuskulatur, erklärt die Wissende lächelnd. Nach einer Weile und öfterer Übung ver-schwinden die Symptome tatsächlich wieder.

Endlich kommt zu den Atem- und Sprachübungen das Singen von Tonleitern hinzu: do, re, mi, fa, sol, la, si, do innerhalb einer Quinte, „legato und non-legato“ ausgeführt. Diese Übung, deren Umfang von der Mittellage her nach oben und unten vergrössert wird, bleibt von nun an ein massgebender Bestandteil unserer Lektionen. Die Meisterin erzählt mir die Geschichte, wie und wo sie selbst sie erlernt hätte. Schwärmend berichtet Frau Professor vom ersten Eindruck, den ihre damalige Meisterin, welche wir im Stammbaum des Belcanto...

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