Vorwort
Worum es in diesem Buch geht
Als junger Priester verstand Henri Nouwen die geistliche Begleitung als formelle Beziehung zwischen einem reifen geistlichen Leiter und einem Neupriester oder Seelsorger, und zwar zum Zweck der Supervision und des Rechenschaftgebens.1 Später in seinem Leben bevorzugte er die Begriffe spiritual friendship (»geistliche Freundschaft«) oder soulfriend (»Seelenfreund«), in denen das dazu notwendige gegenseitige Geben und Nehmen im Prozess des spirituellen Rechenschaftgebens und der Glaubensbildung angedeutet war. Für Henri war ein geistlicher Begleiter einfach jemand, der mit einem anderen spricht und mit ihm betend sein Leben überdenkt. Die Weisheit und die Leitung ergaben sich aus dem spirituellen Dialog und der gegenseitigen Beziehung von zwei oder mehr gläubigen Menschen, die sich spirituellen Übungen widmeten und einander die für ein spirituelles Leben erforderliche Rechenschaft ablegten. Von daher lässt sich geistliche Begleitung, wie Henri sie verstand, definieren als eine Beziehung, die ein spirituell Suchender mit einem im Glauben reifen Menschen eingeht, welcher willens ist, mit ihm zu beten und sich mit Weisheit und Verständnis auf seine Fragen im Hinblick darauf einzulassen, wie man in einer Welt voller Zwiespältigkeiten und Zerstreuungen spirituell leben kann.
Laut Henri beruht das spirituelle Leben auf einem Paradox: »Ohne Alleinsein ist es praktisch unmöglich, ein spirituelles Leben zu führen.«2 Und dennoch können wir unser spirituelles Leben nicht allein führen. Um Gott zu erkennen, brauchen wir zwar das Alleinsein, aber wir brauchen zugleich auch eine Glaubensgemeinschaft, die uns in die Pflicht nimmt. Wir müssen lernen, wie wir auf das immer in unserem Herzen gegenwärtige Wort Gottes hören können. Wir brauchen intensives Studium und eine konsequente spirituelle Praxis, um das Wort Gottes in den Worten der Heiligen Schrift zu erkennen. Wir brauchen eine Kirche oder Glaubensgemeinschaft, die uns die Möglichkeit zum Gottesdienst und zum Miteinander-Teilen bietet, die uns zu gegenseitiger Korrektur und zum gemeinsamen Tragen unserer Lasten, zum Sündenbekenntnis, zum Gewähren von Vergebung und zum Feiern des Lebens auffordert. Zudem brauchen wir Führung: spirituelle Freunde, einen spirituellen Begleiter oder eine Gruppe, der wir Rechenschaft ablegen und die uns zum sicheren Ort für das Leben unserer Seele werden kann.
Henri schuf Gemeinschaft, wohin immer er kam, und innerhalb dieser Gemeinschaften bot er spirituelle Begleitung an, zuweilen ganz formell, aber meistens in informellen Gesprächen und Freundschaften. Zudem war er mittels seiner persönlichen Korrespondenz, seines öffentlichen Unterrichts und seiner Schriften, die er veröffentlichte, für viele ein spiritueller Begleiter. Vor seinem Tod sagte er zu seinen Freunden, wenn er sterbe, werde sein Geist allen zugänglich sein, die er liebe und die ihn liebten. Deswegen vertrauen wir darauf, dass auch die Leser und Leserinnen dieses Buches hier und jetzt aufgrund der Kraft des geschriebenen Wortes und durch das Wirken des Heiligen Geistes die persönliche Erfahrung machen können, von Henri Nouwen spirituell begleitet zu werden.
Wie es dazu kam, dass dieses Buch geschrieben wurde
Die Idee für dieses Buch ergab sich aus einer einfachen Begegnung: Eine Veranstaltung, bei der Rebecca einen Vortrag über Henri Nouwen hielt, war mit einem Festessen verbunden. Dabei ergab es sich, dass eine junge Protestantin, die gerade in der Ausbildung zur geistlichen Begleiterin war, ihre Tischnachbarin wurde und ihr von ihren derzeitigen Problemen erzählte. Infolge einer Depression aufgrund ihrer Unfruchtbarkeit war sie ganz niedergeschlagen und antriebslos geworden. Sie erzählte: »Das Einzige, was mich durch den letzten Sommer gebracht hat, waren Henris Bücher, die ich gelesen habe. Er wurde mir anhand seiner Bücher zum persönlichen Begleiter durch meine dunkle Nacht.«
Wie kam es, dass ein römisch-katholischer Priester, der beim Schreiben seiner letzten Bücher schon mehr als sechzig Jahre alt gewesen war und nie die Höhen und Tiefen der Unfruchtbarkeit oder der Ehe durchgemacht hatte, das verwundete Herz dieser Frau hatte ansprechen können? Zwar gibt es die Depression quer durch alle Geschlechter und Altersstufen, aber das hier ging weit darüber hinaus. Henri kam auf ganz allgemeine spirituelle Bedürfnisse und Sehnsüchte zu sprechen. Er hatte erfasst, dass das Allerpersönlichste zugleich das Umfassendste ist. Er hatte aus der Tiefe der christlichen spirituellen Tradition gelebt und es gelernt, genau auf die grundlegenden Fragen zu hören, die dem Ringen aller Menschen zugrunde liegen.
Viele Menschen suchen in Henris Büchern spirituelle Anleitung. Aber viele von uns wünschen, sie hätten persönlich von Angesicht zu Angesicht mit Henri sprechen und ihm ihre drängendsten spirituellen Fragen stellen können. Doch das ist nicht mehr möglich. Henri weilt physisch nicht mehr unter uns. So entstand bei uns der Wunsch nach einem Buch, das seine Leser auf dem Gang durch die großen Fragen begleiten könnte, auf die viele Menschen stoßen, wenn sie sich bewusst daranmachen, sich mit grundlegenden Fragen des spirituellen Lebens auseinanderzusetzen, und sich dafür nach einem Begleiter umsehen.
Michael, der im Seminar in den Genuss von Henris spiritueller Begleitung gekommen war, erinnerte sich, dass er immer noch seine Mitschriften aus einem Kurs besaß, den Henri an der Divinity School in Yale gegeben hatte. Das genügte, um uns anfangen zu lassen. Wir suchten dann im Henri-Nouwen-Archiv am St. Michael’s College in Toronto nach seinen unveröffentlichten Schriften über die spirituelle Formung auf dem Wege spiritueller Begleitung. Was wir fanden, war mäßig viel, aber wunderbar, doch es war eine ziemliche Arbeit, es zu einem guten, flüssig durchlaufenden Text zusammenzusetzen und sprachlich neu zu fassen.
So setzten wir also bislang unveröffentlichte Gedanken, Ausführungen, Predigten, Vorlesungsmitschriften und Praxisvorschläge von ihm zusammen. Zudem verwoben wir damit Material, das ursprünglich in Form von Zeitschriftenbeiträgen erschienen war. Wir stellten fest, dass diese Texte formloser und direkter waren als die stärker geglätteten Fassungen, wie sie sich in seinen Büchern finden. Gelegentlich verwendeten wir auch Auszüge aus Henris Büchern, wenn für ein bestimmtes Thema keine bessere Originalquelle verfügbar war. Der sich daraus ergebende Flickenteppich ist unser Versuch, in Zusammenarbeit mit dem Henri Nouwen Literary Trust Henris Aussagen zu einigen der großen Fragen im Hinblick auf das spirituelle Leben vorzustellen, um die es überall geht, wo jemand eine regelmäßige spirituelle Begleitung erfährt. Unsere Absicht ist es, eine spirituelle Begleitung durch Henri Nouwen zu ermöglichen, der aus seinen Schriften und praktischen Ratschlägen auch heute noch zu uns spricht. Unserer Überzeugung nach gibt der von uns ausgearbeitete Text den »klassischen Henri« wieder, nämlich sein spätes und reifstes Denken. So kann man über die vorliegenden Ausführungen in eine lebendige Beziehung zu ihm eintreten und eine persönliche spirituelle Anleitung von ihm erfahren. Allerdings muss man zugeben, dass sich natürlich mit den Worten eines gedruckten Buches keine lebendige Weggemeinschaft und Rechenschaft herstellen lässt. Aber auf jeden Fall erschließt dieses Buch hier Henris Weisheit und sein theologisches Denken. Es bietet wertvolle Anregungen sowohl für geistliche Begleiter als auch für solche, die Begleitung suchen. Es möchte zum persönlichen Nachdenken und Sich-Einlassen auf andere anregen.
Wir vertrauen darauf, dass seine Leserinnen und Leser rasch merken, dass es für sie am fruchtbarsten wird, wenn sie es nicht nur für sich lesen, sondern sich gleichzeitig auch auf das geistliche Gespräch mit jemand anderem einlassen.
Wie man dieses Buch lesen kann
Das Buch ist so angelegt, dass man es mindestens zweimal lesen sollte: ein erstes Mal rasch und zügig von Anfang bis Ende, vielleicht in einem einzigen Zug, und das zweite Mal langsam und meditativ, vielleicht über zehn Wochen hinweg nur ein Kapitel pro Woche. Man kann diese Kapitel allein für sich oder gemeinsam lesen, eins nach dem anderen oder in irgendeiner anderen Reihenfolge, je nachdem, welche Fragen, Bedürfnisse und Interessen einen bewegen. Wir hoffen, dass die Fragen »zum Nachdenken und für das Tagebuch« am Ende eines jeden Kapitels für das Nachdenken und die Vorbereitung auf das Gespräch mit anderen hilfreich sind. Die Übungen am Ende jedes Kapitels (die meisten von ihnen hat Henri persönlich verwendet und empfohlen) sind so gedacht, dass man sie gemeinsam mit seinem geistlichen Begleiter oder einem geistlich eng verwandten Menschen oder in einer kleinen Gruppe macht.
Das Buch ist so aufgebaut, dass es zehn grundlegende Themen des geistlichen Lebens anspricht. Diese Themen werden in Form von Gleichnissen, persönlichen Schilderungen und biblischen Überlegungen vorgestellt. Das war die Art und Weise, wie Henri seine Vorlesungen und Retreat-Kurse aufbaute: Er erzählte kurze, prägnante Gleichnisse, stellte grundlegende und zeitlos aktuelle Fragen, wählte für seine Überlegungen meistens Evangelientexte aus, führte zahlreiche spirituelle Möglichkeiten und Weisungen an und empfahl bestimmte Weisen der Glaubensvertiefung.
Ganz gleich, auf welche Weise Sie dieses Buch lesen oder verwenden – jedenfalls ist es ein Angebot, sich eine bestimmte Zeit lang lesend auf die persönliche Begegnung mit Henri einzulassen. Das wird Ihnen helfen, im Rahmen Ihrer eigenen Gemeinschaft spirituell weiter zu wachsen. Zu jedem Kapitel...