Einführung
Erfahrungen beim Begleiten von Klienten in der psychotherapeutischen Praxis wie auch von Praktizierenden, die intensiv den buddhistischen Weg gehen, zeigen, wie harmonisch das Zusammenspiel von buddhistischer Geistesschulung und psychotherapeutischem Wissen die Prozesse innerer Heilung fördert. Wenn es zu solchen Synergien kommt, lässt sich durchaus von einer »Psychotherapie des Erwachens« sprechen. Damit ist in erster Linie gemeint, dass diese Form der Psychotherapie
•vom Weg des Erwachens inspiriert ist,
•sich harmonisch in ihn einfügt
•und ihre psychotherapeutischen Methoden als Unterstützung für diesen Weg anbietet.
Es ist unseres Erachtens nicht möglich, mit herkömmlicher Psychotherapie das Erwachen zu verwirklichen – das war auch nie ihr Anliegen. Um umfassend zu erwachen, braucht es tägliche persönliche Geistesschulung, die auch die subtileren Bereiche unseres Bewusstseins erreicht. Dies kann allerdings durch Psychotherapie vorbereitet und eingeleitet werden. Buddhistische Geistesschulung ist durch und durch eine Arbeit mit dem eigenen Geist inklusive Emotionen (der »Psyche« im weitesten Sinne). Sie führt immer tiefer und mit zunehmender Stabilität in heilsame Bewusstseinszustände. Das Heilsame und Gesunde zeigt sich dabei als die eigentliche Grundnatur des Geistes, und die uns davon trennenden Muster werden allmählich aufgelöst. So ist die buddhistische Geistesschulung im Grunde ohnehin bereits eine Psychotherapie des Erwachens, immer vorausgesetzt, dass wir sie tatsächlich wirksam und in aller Tiefe zur Anwendung bringen – was wir aufgrund unserer Vermeidungstendenzen leider oft nicht tun.
Gemeinsame Anliegen von buddhistischen Lehrern und Psychotherapeuten
Psychotherapeuten wie buddhistische Lehrer wirken für das umfassende Wohl der Menschen, die zu ihnen kommen. Beide Gruppen arbeiten dabei vor allem mit dem Geist und der Psyche oder, um es anders zu sagen: mit kognitiven und emotionalen Mustern. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie das langfristige Wohlergehen der begleiteten Personen im Auge haben und im Normalfall nicht nur eine kurzfristige Erleichterung anstreben. Es ist ihnen ein Anliegen, alle Möglichkeiten menschlicher Entwicklung zu unterstützen und die therapeutische Arbeit in eine Gesamtsicht umfassender Heilung des ganzen Menschen einzubinden – emotional und spirituell.
Die ersten Begegnungen von interessierten Psychotherapeuten und buddhistischen Lehrern finden oft in buddhistischen Zentren statt, in die auch immer wieder Hilfesuchende in psychischen Krisen kommen. Beim ersten Kontakt mit der buddhistischen Geistesschulung halten es viele Menschen (auch Therapeuten) für möglich, dass diese Schulung Antworten auf alle emotionalen und spirituellen Fragen habe. So manche hegen die Hoffnung, die lang erprobte buddhistische Lehre mit ihren vielen Meisterinnen und Meistern könnte vielleicht sämtliche im Leben notwendigen Hilfestellungen geben – ob es sich um Sinnsuche, Kontaktstörungen, Bindungstraumata, depressive Verstimmung, Ängste, Psychosen, Paarkonflikte oder was auch immer für Belastungen und Turbulenzen im Leben handelt. Doch bei genauerem Hinschauen wird klar, dass es oft zusätzliche psychotherapeutische Unterstützung braucht.
Buddhistische Lehrer mögen anfänglich glauben, allen Menschen mit diesem Weg der Schulung in Achtsamkeit, Weisheit und Mitgefühl helfen zu können. Das mag in der Theorie richtig sein, doch die Erfahrungen beim Begleiten von Menschen zeigen: Viele benötigen zusätzliche therapeutische Unterstützung, weil sie alleine oft nicht in der Lage sind, die Lehren konkret auf emotional herausfordernde Situationen und einengende Muster anzuwenden. Es braucht eine regelmäßige, am besten wöchentliche, kompetente Anleitung, um nicht die heiklen Punkte zu vermeiden und um die Aufmerksamkeit wirklich dorthin zu richten, wo es nottut.
Dies haben mich (Tilmann) meine eigenen Erfahrungen gelehrt: In meiner Studienzeit las ich einiges an psychotherapeutischer Literatur und machte jeweils zweimonatige Famulaturen in der Psychiatrie, Neurologie und Psychosomatik, absolvierte aber keinerlei Ausbildung auf diesem Gebiet. Als junger Mitverantwortlicher in unserem buddhistischen Kloster mit gut 200 Bewohnern und vielen Besuchern stand ich, so gut ich konnte, allen bei, die psychisch »auffällig« wurden. Die anderen Lamas baten mich, als Arzt die Bewohner und Langzeitgäste zu betreuen, die in stärkeren psychischen Krisen waren. Depressionen, Drogenentzug, präpsychotische Verwirrung, Persönlichkeitsstörungen, Angstsyndrome, Zwangsvorstellungen, Psychosen – an so manchem Krankheitsbild habe ich mich versucht, mit nur geringen psychotherapeutischen Kenntnissen, aber mit gutem Herzen, voller Enthusiasmus und mit dem aus der buddhistischen Geistesschulung erwachsenen Verständnis. Manchmal gab es schnelle, überraschende Besserungen, gelegentlich auch dauerhafte, aber oft kam ich an den Punkt, wo professioneller Beistand von erfahrenen Psychotherapeuten und Psychiatern notwendig wurde. In der ersten Zeit lebte unser Lehrer Gendün Rinpoche noch, und auch er, der für seine Segens- und Heilkräfte bekannt war, wünschte sich diese professionelle Hilfe.
Mit den Jahren lernte ich die fundierte Begleitung durch Psychotherapeuten und Psychiater immer mehr schätzen. Auch Medikamente waren gelegentlich nötig und stellten sich bei feiner Dosierung als durchaus vereinbar mit dem Weg der Geistesschulung heraus. Manche Gäste, die längere Zeit im Kloster lebten und mithalfen, gingen wöchentlich außerhalb in Therapie und machten in dieser Kombination von Psychotherapie und buddhistischer Geistesschulung wertvolle innere Schritte. Dies fiel auch den Psychotherapeuten auf: Es schien Synergien zu geben zwischen den buddhistischen und therapeutischen Methoden – jedenfalls waren die Psychotherapeuten oft überrascht, welche schnellen Fortschritte ihre Patienten machten, vielleicht zum Teil wegen der Einbettung in eine unterstützende Gemeinschaft, zum Teil wohl auch dank der buddhistischen Geisteshaltung und -schulung.
Eine Erklärung für diese regelmäßig zu bemerkenden Synergien dürfte sein, dass die buddhistische Geistesschulung die Psychotherapie in manchen Bereichen um eine zusätzliche Dimension oder Qualität ergänzt. So erleichtert sie zum Beispiel unseren Bezug zu den tiefen Ressourcen, die sich in einem vertrauensvollen Geist zeigen. Sie fördert das Vertrauen in den eigenen, in der Tiefe urgesunden Geist. Sie fördert die kontinuierliche Schulung von geistiger Sammlung (Achtsamkeit), Einsicht in geistige Gesetzmäßigkeiten und ein Gewahrsein für emotionale Prozesse – und dies auch ohne Begleitung durch Therapeuten. Der buddhistische Ansatz erweitert unsere Sicht der Welt um ein grundsätzliches Verständnis der Unausweichlichkeit von Leid und zugleich der Möglichkeit, jederzeit geistige Gesundheit zu erfahren. Auch fördert er eine Einstellung, die volle Verantwortung für das eigene Leben und Glück zu übernehmen und sich mitfühlend zu engagieren. Zugleich schulen wir uns im Betrachten, ohne sofort zu reagieren, und darin, einfach gewahr zu sein. Gewahrsein ermöglicht, die Muster und emotionalen Prägungen mit ihren fast instinkthaften Reaktionen zu erkennen und nicht gleich wieder in ihre Falle zu laufen.
Die buddhistischen Unterweisungen, so wie wir sie kennengelernt haben, wenden sich an relativ stabile Menschen, die ihren Weg in täglicher persönlicher Praxis alleine gehen können. Es wird davon ausgegangen, dass der Einzelne den Transfer von der allgemeinen Anleitung in der Gruppe in sein individuelles Leben selbstständig schafft. Das ist aber nicht leicht. Eigentlich wäre eine engmaschige individuelle Begleitung für viele hilfreich, auch ohne therapeutische Notwendigkeit. Buddhistische Geistesschulung sieht aber normalerweise keine so enge Begleitung vor, wie sie die Psychotherapeuten mit ihren meist wöchentlichen Therapiesitzungen anbieten. Zudem haben buddhistische Lehrende das psychotherapeutische Handwerk nicht erlernt, kennen auch nicht die dort verwendeten, sehr wirksamen Methoden und haben meist wenig Zeit für intensive individuelle Betreuung. Sie sind Ansprechpartner für zu viele Menschen, um das leisten zu können.
Aus all diesen Gründen ist verständlich, dass inzwischen enger zusammengearbeitet wird, um die Synergien zu nutzen: Buddhistische Zentren wenden sich an Psychotherapeuten, wenn jemand zusätzliche Hilfe braucht. Einige buddhistische Lehrende machen psychotherapeutische Fortbildungen, und so manche Psychotherapeuten praktizieren buddhistische Geistesschulung. Inzwischen ist es auch für viele Praktizierende auf dem Weg des Erwachens normal geworden, zusätzlich psychotherapeutische Hilfe zu nutzen, weil es ihr Verständnis der inneren Prozesse vertieft und konkrete Wege aufzeigt, beengende emotionale Muster aufzulösen. Diese Bereiche der so interessanten und erhellenden Synergien wird dieses Buch erforschen.
Zwischenbemerkung: Wer sich bereits einen vertiefenden Überblick verschaffen möchte, kann von hier zum Brückenkapitel zwischen Teil eins und Teil zwei (Kapitel J) springen. Dort werden – in Form eines Rückblicks und Ausblicks auf jedes Kapitel des Buches – einige weitere auffällige Synergien und Gemeinsamkeiten von buddhistischer Geistesschulung und Psychotherapie benannt.
Die Anfänge der Essentiellen Psychotherapie
Bereits 1978 gründeten Schüler von Trungpa Rinpoche das Naropa Institute2 in Boulder, Colorado, und erarbeiteten die Grundlagen der »Kontemplativen Psychotherapie«.3...