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Das ZickZack-Prinzip

Alfred Hilsberg - ein Leben für den Underground

AutorChristof Meueler
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783641194154
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Was sie schon immer über den deutschen Underground wissen wollten
Lexika nennen ihn »Punk-Papst« und »Begründer der NDW« (Neue Deutsche Welle): Alfred Hilsberg brachte Punk nach Deutschland und gründete eine unabhängige Plattenfirma, für die er u. a. die Einstürzenden Neubauten und Blumfeld entdeckte und förderte - die einflussreichsten deutschen Bands der Neuzeit. Und als Filmexperte und Journalist prägt Hilsberg seit den späten Sechzigern die Subkultur. Der Journalist und Wegbegleiter Christof Meueler erzählt aus Hilsbergs bewegtem Leben und lässt viele bekannte Protagonisten des deutschen Undergrounds zu Wort kommen.

Christof Meueler, geboren 1968, Journalist und Soziologe, lebt in Berlin. Er gb in den 80er-Jahren das Noisepop-Fanzine Rat Race heraus, schrieb in den 90er-Jahren unter anderem für das Hardcore-Magazin Zap und legte im Rhein-Main-Gebiet Platten auf. Seit 2001 Ressortleiter für Feuilleton & Sport bei der Tageszeitung junge Welt. Als Buchautor verfasste er die Lebensgeschichten von Bommi Baumann und Alfred Hilsberg.

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Leseprobe

1.

Rudimente von Sehnsucht

Klavier auf die Pfoten

Als Rock’n’Roll losging, war Alfred Hilsberg zehn Jahre alt und wusste von nichts. Mit seiner Mutter besuchte er einen Onkel in Düsseldorf. Es war Sonntag, und der Onkel nahm ihn mit auf die Rheinwiesen, wo eine große Kirmes stattfand.

Erst sahen sie sich Motorräder an. Die konnten eine Wand hochfahren. Das war sehr beeindruckend – aber noch nichts gegen das, was danach kam. Sie gingen in eine Halle, in der Menschen komische Verrenkungen machten. Die Frauen hatten merkwürdig abstehende weite Röcke an, später sollte Alfred erfahren, dass man die Petticoats nannte. Die Männer trugen enge Hosen, Röhrenjeans. Der Onkel sagte, diese Leute tanzten Rock’n’Roll. Alfred war auf eine Tanz-Meisterschaft geraten.

Nach diesem Erlebnis begann er, Rock’n’Roll zu hören – im Radio, wenn seine Eltern nicht da waren. Sie wollten nicht, dass er entschied, was er im Radio hörte. Denn das Radio spuckte Töne aus, die Gift waren für die deutsche Seele. Manchmal hörten sie Klassik, aber noch lieber volkstümliche Unterhaltungsmusik. Alfreds Mutter mochte Willy Schneider – Herzschmerz im Rheinland oder an der schönen blauen Donau.

Auf BFBS, dem britischen Soldatensender, liefen Elvis Presley, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins. Von ihren Songs gab es Noten. Die lagen im Schaufenster einer Musikhandlung in Alfreds Heimatstadt: Wolfsburg. Er hatte hier Klavierunterricht und hätte sie sich gern gekauft, aber er hatte kein Geld. Also musste er sie sich leihen.

Die Hilsbergs waren die typische Wolfsburger Arbeiterfamilie. Vater Paul war bei Volkswagen, Mutter Berta war zu Hause, und Sohn Alfred spielte Klavier, unter anderem. Die Wohnung in der Kleiststraße 15 war klein, und doch gab es zwei Klaviere. Sie standen nebeneinander. Alfreds Vater hatte den Traum, mit ihm vierhändig Klavier zu spielen. Dieses Ansinnen wurde abgelehnt. Stattdessen erwischte er den Zwölfjährigen, wie er heimlich für sich allein Rock’n’Roll spielte. Der Vater schlug ihm den Klavierdeckel auf die Finger. Danach hat Alfred nie wieder ein Klavier angefasst.

Mit dem Jungen stimmt was nicht

Ursprünglich hatte er gern Klavier gespielt. Mit acht hatte er damit angefangen. Seine Klavierlehrerin sagte ihm eine große Zukunft voraus. Je mehr er konnte, desto mehr langweilten ihn die Walzer von Richard Strauss. Er bevorzugte Komponisten, die eine etwas andere Musik machten, zum Beispiel Béla Bartók. Dessen Stücke regten seine Fantasie an. Seinen Vater brachten sie zur Weißglut. Sobald er Bartók zu Hause übte, rief sein Vater die Klavierlehrerin an: »Was bringen Sie denn da meinem Sohn bei?«

Paul Hilsberg stand bei VW nicht am Band. Er war für eine Turbine im Kraftwerk zuständig – Kontrolle, Wartung, Reparatur. Damals wie heute prangte über der Stadt das Zeichen von VW, neben den Schornsteinen. Wenn Alfred in der Kleiststraße aus der Haustür trat, sprang es ihn schon an. Und sein Vater pilgerte jeden Tag dorthin.

Solch eine Zukunft wollte Alfred auf keinen Fall. Er war 1947 in Wolfsburg geboren worden, aber er wusste schon früh, dass die besten Straßen dieser Stadt aus ihr hinausführen. Er widersprach seinem Vater; machte nicht das, was er sollte. Der Vater wiederum hatte das Gefühl, dass sich sein Sohn nicht genug für ihn interessierte. Vielleicht für etwas anderes? Er forderte ihn auf, sich zu informieren, was außerhalb von Wolfsburg los war. Er gab ihm die Zeitung zum Lesen – die Wolfsburger Nachrichten, ein lokaler Ableger der liberalen Braunschweiger Zeitung.

Manchmal las er ihm auch daraus vor, wenn ihm ein Artikel gut gefiel. Alfred gefielen diese Artikel nicht so gut.

Eines Tages reichte es dem Vater. Er schickte seinen Sohn zur Psychiaterin in der Nachbarschaft. Mit dem Jungen stimmt was nicht! Die Psychiaterin war sehr renommiert; sie war auch als Gutachterin vor Gericht tätig. Sie unterhielt sich ernsthaft mit Alfred und teilte dann dem Vater mit, dass der Sohn ganz normal sei. Er müsse nur lernen, mit ihm umzugehen, oder sich selber bei ihr auf die Couch legen. Da war Paul Hilsberg sehr beleidigt.

In der Westernstadt

Wie fast alle Wolfsburger dieser Zeit war Alfreds Vater ein Arbeitsmigrant. Damals kam man nicht aus Wolfsburg, sondern man kam nach Wolfsburg. In den Vierziger- und Fünfzigerjahren herrschte dort eine Art Western-Mentalität. Da gab es nichts, und deshalb wurde einem alles versprochen.

Gegründet wurde diese Western-City 1938 als ausgebaute Nazi-Fantasie unter dem Namen »Stadt des KdF-Wagens«. Das war eine Abkürzung für »Kraft durch Freude«, wie die Freizeitorganisation der Nazis hieß, eine Unterabteilung der »Deutschen Arbeitsfront« (DAF). Darin hatten die Nazis nach der Zerschlagung der Gewerkschaften Arbeiter und Unternehmer zwangsvereinigt. Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit wurde auf magische Art für aufgehoben erklärt. So entstand auch die Idee, ein Auto für alle zu bauen. Ein Auto, das sich jeder leisten können sollte – ein »Volkswagen«.

Der Volkswagen (Typ 1)

Das war ein Kleinwagen, den Ferdinand Porsche entworfen hatte. Er sollte hundert Stundenkilometer – die damalige Autobahnhöchstgeschwindigkeit – schnell sein, Platz für vier Personen bieten und nicht mehr als tausend Reichsmark kosten. Doch ein derart billiges Auto war für die Autoindustrie uninteressant. Damit ließ sich nichts verdienen. Die Autobauer verweigerten sich dem offiziell ausgerufenen Gemeinschaftswerk, und die DAF sprang in die Bresche, um eine »große Sache« zu schaffen, wie Joseph Goebbels 1937 in sein Tagebuch schrieb.

Und so baute man das Volkswagenwerk, als »eine für das NS-System typische Amalgamierung von modernem Industriebau und Monumentalismus«, wie Manfred Grieger in der Essay-Sammlung Wolfsburg-Saga schreibt. An »das Werk«, wie die VW-Fabrik heute noch genannt wird, wurden ein paar Baracken angeschlossen, in denen die Arbeiter wohnten. Die Stadt war auf Jahre hinaus eine Dauerbaustelle. Bis zum Ende der Sechziger stellte VW nur ein einziges Produkt her – den später als Käfer bekannt gewordenen Volkswagen Typ 1.

Dieses Auto wurde nach 1945 zum Renner: »Er läuft und läuft und läuft«, wie es in der Werbung hieß. Unter den Nazis wurden kaum Käfer produziert, sondern massenweise Kübelwagen und Amphibienfahrzeuge für den Krieg. Gebaut von Kriegsgefangenen, Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen – die schließlich von den Amerikanern befreit wurden. Danach kamen die Briten und gründeten das Volkswagenwerk, das im Krieg zu zwei Dritteln zerstört worden war, und die Stadt, die nur eine Siedlung war, noch einmal neu. Zwei Wochen nach Kriegsende, am 25. Mai 1945, wurde die »Stadt des KdF-Wagens« in Wolfsburg umbenannt. Sie hieß so wie das örtliche Schloss, das diesem Gebiet schon in den Zwanzigerjahren den Namen gegeben hatte.

Die Wolfsburger aber lebten weiter in Baracken. Es waren ehemalige Zwangsarbeiter, Verschleppte und hier gestrandete displaced persons, zu denen nun die Vertriebenen kamen. 1948 definierte sich Wolfsburg als »die jüngste und ärmste deutsche Stadt«, wie der damalige Stadtdirektor Johannes Dahme in einer Denkschrift festhielt.

Komm nach Wolfsburg

Vertrieben war auch Alfreds Vater. Ursprünglich stammte er aus Schlesien. Nach der Volksschule tingelte er für zehn, fünfzehn Jahre als Stehbodengeiger durch die Lande. Anschließend wurde er Kneipier in verschiedenen Lokalen, in denen er wahrscheinlich sein bester Kunde war. Die eigene Kneipe austrinken, pleitegehen und in die nächste Stadt ziehen, um eine neue aufzumachen. Das praktizierte er in Kleinstädten in Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein. Als in Wolfsburg Arbeitskräfte gesucht wurden, ging er dorthin und wurde Arbeiter.

Mit dem Volkswagenwerk, das eine stetig wachsende Nachfrage bediente (1953 betrug die Lieferfrist für einen Käfer fünf Monate), wuchs auch die Stadt. Von 1950 bis 1958 verdoppelte sich die Einwohnerzahl auf fünfzigtausend. 1972 waren es einhunderttausend. Zuerst kamen DDR-Flüchtlinge; die DDR lag praktisch um die Ecke. Als dieser Zustrom 1961 nach dem Mauerbau versiegte, begann VW, italienische Arbeiter anzuwerben. »Venite a lavorare con la Volkswagen!«, lautete die Parole. »Komm und arbeite bei Volkswagen!«

Axel Bosse: Als die Grenze durch die DDR zugemacht wurde, ist der VW-Chef Heinrich Nordhoff sofort nach Italien gefahren und hat ein Abwerbeabkommen unterschrieben. 1962 waren hier die ersten Italiener. Daraus wurde bald ein eigenes Lager mit Zaun und Werkschutz. Eingang verboten für alle Nicht-Migranten. Das war da, wo heute das VfL-Stadion steht, an der Berliner Brücke. Es war die größte italienische Siedlung nördlich der Alpen, von den Deutschen verniedlichend Italiener-Dorf genannt. Darin waren zweistöckige Baracken aus Holz mit Dreibettzimmern, in denen die Italiener zu fünft oder sechst wohnten.

Tod auf dem Fahrrad

Wenn er getrunken hatte, war Paul Hilsberg ein unberechenbarer, brutaler Typ. Seine Ehe mit Berta war ein einziges Desaster. Alfred wusste nicht, wie und wo sich die beiden kennengelernt hatten. Warum waren sie zusammen? Hatte Paul unbedingt noch einen Sohn zeugen wollen, nachdem in seiner ersten Ehe nur eine Tochter geboren worden war?

Berta kam aus Düsseldorf. Sie hatte keine Ausbildung....

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