Schrödingers Katze
»Der Mensch kann auf dem Mond erwachen, aber keine Katze machen.« So hat Rainer Kunze einmal in einem Kinderbuch gereimt, und er wollte damit zwei von uns Menschen anvisierte technisch-wissenschaftliche Sphären vergleichen – die planbare Erfahrung und Erkundung des Weltraums mit der unfassbaren Entstehung und Entwicklung des Lebens. Doch so schön und wichtig sein Satz ist, er stimmt nicht ganz, denn zumindest einem Menschen ist es gelungen, eine Katze zu machen. Sie stammt von dem Physiker Erwin Schrödinger und spukt in unserem Kopf herum. Ihr geistiger Vater hat die Katze 1935 aus dem Sack gelassen und in einen Kasten gesteckt, um sich mit ihrer Hilfe darüber zu wundern, wie merkwürdig die Wirklichkeit geworden war, nachdem die damals neue physikalische Wissenschaft sie beschrieben hatte.
In Schrödingers Katze steckt ein Geheimnis, wie wir noch sehen werden, und deshalb lebt sie, aber sie lebt gefährlich, und zwar gleich doppelt. Sie lebt nicht nur gefährlich in dem Stahlkasten, den Physiker bis heute umschleichen, wenn sie verstehen wollen, ob ihre Theorien die Welt tatsächlich zutreffend beschreiben. Schrödingers Katze lebt aber auch gefährlich in den Köpfen, in denen sie auftaucht, wenn sich deren Träger darum bemühen, die Wirklichkeit so zu erfassen, dass auch die Handlungsmöglichkeiten der Katze dazugehören.
Das Experiment mit Schrödingers Katze.
Die Gefahr im Kasten droht, weil dort ein Giftgas auf den Zufall wartet, der es freisetzt; und die Gefahr in den Köpfen droht, weil Schrödingers Katze eine Theorie der atomaren Natur veranschaulichen soll, die nicht nur im eingeschränkt wissenschaftlichen, sondern selbst im global ökonomischen Bereich extrem erfolgreich ist, von der aber zugleich auch gesagt wird, dass nur derjenige sie wirklich verstanden hat, der dabei wenigstens ein wenig verrückt geworden ist.
Bei Schrödingers Katze handelt es sich um ein Gedankenexperiment. Man stellt sich vor, dass eine Katze in einen Kasten aus Stahl (mit Beobachtungsklappe) eingesperrt wird, in dem zum einen noch ein zerbrechliches Gefäß mit einem Giftgas (Blausäure) steht und in dem sich zum zweiten eine Quelle mit radioaktiven Atomen befindet. Zwar soll die Katze keinen Kontakt mit dem ihr Leben bedrohenden Glasbehälter bekommen können, aber über diesem Gefäß schwebt ein Hammer, der in dem Moment betätigt wird und das tödliche Gift freisetzt, in dem die radioaktiven Atome strahlen. Nun kann die zuständige Physik der Atome zwar genau erklären, wann die Hälfte der radioaktiven Atome ihre Energie freigesetzt hat – sie kann also statistische Auskünfte geben -, sie kann aber nicht vorhersagen, zu genau welchem Zeitpunkt im Kasten eine solche Strahlung auftritt und die Prozesse in Gang setzt, die zum Tod der Katze führen – die Physik kann in einem solchen Fall nur statistische Auskünfte geben.
Wir stellen die Radioaktivität der Atome nun so ein, dass es innerhalb einer Stunde mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit zu einem Zerfall und damit zum Zerschlagen des Gefäßes kommt. Was wissen wir dann nach dieser Stunde über die Katze im Kasten, ohne nachzuschauen? Wir wissen, dass sie mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit lebendig und mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit tot sein wird. Aber was heißt das?
Die Physik, die Schrödinger mit seiner Katze verstehen wollte, handelt natürlich nicht von ausgewachsenen Lebewesen, sondern von Atomen und den dazugehörigen Bauteilen, wie es etwa die Elektronen sind. Nun kann ein Atom nicht tot oder lebendig sein, sich wohl aber in zwei Richtungen orientieren, die wir ›rauf‹ und ›runter‹ nennen wollen. Wir stellen uns jetzt statt der Katze ein Atom im Stahlkasten vor – natürlich ohne Gift, dafür eventuell mit einem Magnetfeld. Wir können alles so einrichten, dass wir von diesem Atom auch nur wissen, dass es mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit ›rauf‹ und mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit ›runter‹ zeigt. Was passiert nun, wenn wir in dem Fall die Beobachtungsklappe öffnen?
Das weiß die Physik genau. Sie sagt (in den Lehrbüchern), dass wir durch unser Messen das Atom festlegen. Unsere Beobachtung bestimmt, ob es ›rauf‹ oder ›runter‹ zeigt. Und das fand Schrödinger unsinnig, denn das würde – übertragen auf seine Katze im geschlossenen Kasten – bedeuten, dass das schnurrende Wesen eine Art verschmiertes Leben führt und halb lebendig und halb tot ist. Und dieser Absurdität folgte eine ungeheure zweite, denn was die Katze wirklich ist, entscheidet sich nicht von innen, sondern erst durch das Nachsehen von außen. Wer die Beobachtungsklappe betätigt, bringt die Katze um – falls er sie tot im Kasten findet (oder er macht sie völlig lebendig, wenn sie weiter herumspringt). Das heißt, Schrödingers Katze lebt wirklich gefährlich, solange jemand vor ihrem Kasten herumschleicht und seine Finger Richtung Beobachtungsklappe streckt. Vielleicht sollten wir das unterbinden und das ganze Konstrukt in aller Stille verschwinden lassen. Oder möchte es doch jemand riskieren, der Katze ins Gesicht zu blicken?
Der Name vor der Katze
Wissenschaftlich gesehen geht es bei Schrödingers Katze um die Physik der Atome, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sehr erfolgreich entwickelt werden konnte. Sie konnte Naturgesetze aufzeigen, mit deren Hilfe es unter anderem möglich wurde, die Grundelemente (Chips) der modernen Computer zu bauen. Die aktuelle Weltwirtschaft basiert zu einem beachtlichen Teil auf Produkten, die ohne die genannte Physik der Atome nicht einmal vorstellbar wären. Was so gut funktioniert, sollte auch entsprechend gut verstanden sein, denkt sich der Laie, um sich durch Schrödingers Katze eines Besseren belehren zu lassen. Ihr Erscheinen führt uns vor Augen, dass wir unserer erfolgreichsten wissenschaftlichen Theorie ziemlich fremd gegenüberstehen und dass etwas mit dem (tiefen philosophischen) Verständnis der Physik nicht stimmt, auf deren mathematischer Oberfläche unsere Wirtschaft floriert!
Das hier im Mittelpunkt stehende Tier ist nach dem österreichischen Physiker Erwin Schrödinger (1887 – 1962) benannt, der 1933 mit dem Nobelpreis für sein Fach ausgezeichnet worden ist und den sein Vaterland einmal auf dem letzten 1000-Schilling-Schein vor der Einführung des Euro abgebildet hat. Schrödingers Ruhm basiert vor allem auf einer grandiosen Leistung, die er in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre vollbrachte, als er mit nach wie vor atemberaubender mathematischer Eleganz Grundgleichungen für das Verhalten von Atomen aufstellte. Diese Gleichungen sind nach ihm benannt und sorgen seit Jahrzehnten dafür, dass es in der Welt der Wissenschaft keinen Namen gibt, der häufiger ausgesprochen wird. Ununterbrochen werden überall dort, wo sich Physiker betätigen, die Schrödinger-Gleichungen eingesetzt, und stets bekommt die Fachwelt durch sie die Auskünfte, die sie braucht, um das Wechselspiel der materiellen Dinge erfassen und für technische Entwicklungen nutzen zu können.
Was auf den ersten Blick wie ein makelloser Triumph aussieht, bekommt seine ersten dunklen Flecke, wenn man erfährt, dass Schrödingers Interesse an den Atomen durch ein Gefühl geweckt wurde, das er als ekelhaft und abscheulich beschrieben hat. Unser Held fühlte sich tatsächlich angewidert von einer Beschreibung der Atome, die der junge Physiker Werner Heisenberg um 1925 vorgestellt hat und die uns in einem späteren Kapitel erneut begegnen wird (»Heisenbergs Unbestimmtheit«). Heisenberg hatte bei seiner Behandlung der Atome ernst gemacht mit der damals bereits über zwanzig Jahre alten Beobachtung, dass es in der Natur Quantensprünge gibt, wie wir heute mit einem längst populär gewordenen Begriff sagen. Atome können offenbar problemlos von einem Zustand mit hoher Energie in einen Zustand mit geringerer Energie wechseln, ohne irgendetwas oder irgendwo dazwischen zu sein, und wenn sie das tun, strahlen sie noch triumphierend etwas Licht ab. Wir können jetzt sehen, dass sie »gesprungen« sind, ohne zu wissen, wie es ihnen gelungen ist.
Schrödinger verärgerte diese Quantenspringerei über alle Maßen, mit der sich seine Kollegen zufriedengaben, und er setzte im Winter 1925/26 sein ganzes physikalisches und mathematisches Können ein, um die elende Hopserei aus der Wissenschaft zu vertreiben und den Weg zurück zu den Tugenden der klassischen Physik mit ihrem klaren, auf Vorhersehbarkeit angelegten Verständnis der Natur zu finden.
Wer das Auftreten von Schrödingers Katze verstehen will, muss von ihrem Schöpfer nicht nur wissen, was er wissenschaftlich unternommen hat. Es gehört auch zum Gesamtbild von Schrödinger, dass er zunächst eher ein gemütlicher Mensch war, der in den 1920er Jahren von einem Lehrstuhl an einer kleinen Provinzuniversität träumte. Dort wollte er in aller Ruhe seinen physikalischen Pflichten angemessen nachkommen und daneben sehr viel Zeit für die Lektüre philosophischer Texte aufwenden, wobei es ihm damals neben griechischen vor allem indische Schriften angetan hatten. Ein Pfeifchen rauchen, ein Gläschen trinken, ein Büchlein...